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Wirtschaftssanktionen gegen Russland – internationale Perspektiven und globale Auswirkungen

360 Grad, 11.07.2022 Research Areas

Als Reaktion auf Russlands Ukraine-Invasion hat ein westliches Bündnis einschneidende Sanktionen gegen Moskau verhängt. Von den weitreichenden wirtschaftlichen Folgen sind nicht nur Russland und der Westen direkt betroffen: Auch für China und Indien ergeben sich Dilemmata. Die Koordination dieses 360 Grad hat Janis Kluge übernommen.

EU-Russland-Sanktionen

Die gegen Russland verhängten EU-Sanktionsmaßnahmen stehen in der Kritik. Sie seien nicht umfassend genug und zu spät erlassen worden. Seit Kriegsausbruch hat die EU laut Correctiv.org rund 830 Einzelsanktionen verhängt. Sie reichen vom Ausschluss aus dem internationalen Zahlungssystem Swift, Beschränkungen in Handel und Technologietransfer über Listungen von Oligarchen und Visabeschränkungen bis hin zu einem partiellen Energieembargo. Ziel dieser Maßnahmen ist es laut Europäischem Rat, „dem Kreml die Finanzierung des Krieges zu erschweren und der für die Invasion verantwortlichen politischen Elite Russlands spürbare wirtschaftliche und politische Kosten aufzuerlegen“. Sind diese Ziele zu erreichen? Die Forschung unterscheidet vier Funktionen von Sanktionswirkungen: Anreize, Zwang, Abschreckung und Signal.

Die Sanktionen gegen Russlands Finanz- und Wirtschaftspolitik und das partielle Öl- und Kohleembargo verteuern den Krieg, machen ihn aber nicht unwahrscheinlicher. Russland ist nämlich bereit, einen höheren Preis zu zahlen. Insofern verpuffen die Anreize. Ob die neuen Instrumente, die die Kosten für den Westen abfedern sollen, hinreichend hohe Kosten für Russland erzeugen, ist zweifelhaft. Ein neues Atomabkommen mit dem Iran könnte die Lage auf dem globalen Ölmarkt entspannen und eine Senkung der Ölpreise bewirken. Auch ließe sich künftig mit dem geplanten EU-Sanktions-Whistleblower-Tool die Umgehung von EU-Sanktionen unterbinden. Denn ein Know-your-Customer-Prozess kann verstärkte Anreize geben und Russland eventuell auch zu einer Neubewertung des Ukraine-Krieges veranlassen. Eingefrorene russische Währungsreserven sollen durch Vermögensabschöpfung für den Wiederaufbau der Ukraine genutzt werden.

Sanktionen gegen Russland hätten dann Zwangscharakter, wenn sie die Kriegspolitik des Kremls unmöglich machen würden. Da in der globalen Gemeinschaft und innerhalb der EU nur begrenzte Einigkeit darüber herrscht, die Sanktionen rigoros durchzusetzen, ist das kaum zu erwarten. Weil Sanktionen gegen Russland vorerst keinen Zwangscharakter haben, ist von einer begrenzten Abschreckungswirkung auszugehen. Hier kommt deutlich zum Tragen, dass nicht nur Russland vom Westen abhängig ist, sondern auch die Weltmärkte von Russland. Die sich verschärfende Nahrungsmittelknappheit erlaubt es vielen importabhängigen Staaten nicht, an der Seite der EU und der G7 zu stehen.

Sanktionen sind aber trotz ihrer begrenzten Anreiz-, Zwangs- und Abschreckungsfunktion nicht unsinnig. Sie haben zumindest eine wichtige Signalfunktion, indem sie Russland vor Augen führen, dass ein Angriffskrieg nicht kostenfrei ist.

US-Sanktionen und Energiemaßnahmen

Die USA haben für die Sanktionen, die sie seit Kriegsbeginn gegen Moskau verhängt haben, vor allem zwei Ziele formuliert. Zunächst wollten sie Russland für den Einmarsch in die Ukraine „erhebliche Kosten auferlegen“. Beim zweiten Sanktionsschritt, der zusätzlich auch Exportkontrollen umfasste, ging es laut Präsident Biden darum, „Russlands Zugang zu wichtiger Technologie, die es zur Finanzierung seiner Kriegsmaschinerie benötigt, zu beschränken und Russland zu einem globalen finanziellen Paria zu machen“. Das erste Ziel wurde erreicht: Russlands Wirtschaft ist bereits massiv erschüttert. Doch aufgrund der Einnahmen aus Energieexporten geht Präsident Putin das Geld für den Krieg nicht aus. Dafür müssten die USA und weitere Staaten ihren Kurs anpassen.

Die Sanktionen und Exportkontrollen sind für Biden bisher ein außen- wie auch innenpolitischer Erfolg. Dennoch werden in Washington die Stimmen lauter, die bezweifeln, dass das inzwischen „größte Sanktionspaket aller Zeiten“ Putin zum Einlenken bringen wird. Biden steht unter Druck, weil im November Kongresswahlen stattfinden. Angesichts stark gestiegener Energiepreise muss er einen Weg finden, neue Strafmaßnahmen gegen Russland zu verhängen, ohne das Ölangebot am Weltmarkt zu verknappen und damit weitere Preissprünge zu riskieren. Steigt die Inflation noch mehr, droht den Demokraten eine Wahlniederlage.

Ein vollständiges Ölembargo, verbunden mit der Androhung von Sekundärsanktionen gegen Drittstaaten, wäre der konsequenteste Weg, um Russlands Einnahmen zum Versiegen zu bringen. Doch müsste Biden bei einer solchen Entscheidung mit Widerstand in den USA und Teilen der EU rechnen. Zusätzlich drohten Rückschläge aus Schwellenländern wie Indien und Brasilien, die von Sekundärsanktionen getroffen würden. Gegenüber China wären zwei wichtige Ziele – wie sie von Teilen der Biden-Regierung forciert werden – kaum noch erreichbar: erstens ein Kompromiss im Handelsstreit, der zur Senkung der US-Inflation beitragen würde, und zweitens eine Zusammenarbeit in der Klimapolitik, die notwendig ist, um das Pariser Abkommen zu erfüllen.

Angesichts der Kosten eines Vollembargos ist die von Biden vorgeschlagene Preisdeckelung für russische Energieexporte aus US-Sicht die politisch tragfähigere Lösung. Die USA und ihre Verbündeten würden als „Abnehmer-Kartell“, das bis zu 50 Prozent von Russlands Ölexporten ausmachen könnte, dafür sorgen, dass dessen Einnahmen erheblich sinken. China und Indien würden ebenfalls von niedrigen Ölpreisen profitieren. Sollten sie die Auflagen umgehen, könnte Biden mit Sekundärsanktionen drohen. Putin ließe sich so wirtschaftlich weiterer schwerer Schaden zufügen.

Japans Sanktionen: Kurswechsel in der Russland-Politik

Japans Reaktion auf den Ukraine-Krieg markiert eine Kehrtwende in seiner Russland-Politik. Im Gleichklang mit den restlichen G7-Staaten hat Tokio den russischen Angriff nicht nur klar verurteilt und der Ukraine Unterstützung angeboten, sondern auch umgehend scharfe Sanktionen verhängt, um Russland von internationalen Handels- und Finanzströmen abzuschneiden. Die lange Liste an Strafmaßnahmen umfasst beispiels­weise das Einfrieren von Devisenguthaben der russischen Zentralbank und von Ver­mögen elf weiterer Banken, die Suspendierung des Meistbegünstigungsstatus sowie eine Reihe von Einfuhr- und Ausfuhrbeschränkungen.

Die letzten Jahre hatten ein anderes Bild gezeichnet: Nach der Krim-Annexion 2014 erließ Japan zahnlose Sanktionen, wie beispielsweise die Suspendierung von Gesprächen über Erleichterungen bei der Visa-Vergabe. Auch nach dem Giftanschlag auf den russischen Ex-Agenten Sergei Skripal 2018 folgte Tokio nicht dem Aufruf Londons, russische Diplomaten auszuweisen. Vielmehr umwarb die japanische Regierung unter dem damaligen Premierminister Shinzo Abe (Amtszeit 2012–2020) Moskau in der Hoffnung auf ein besseres Verhältnis.

Regierungschef Kishida, der im Abe-Kabinett von 2012 bis 2017 Außenminister war, setzt dieser Annäherungspolitik nun ein klares Ende. Die Tragweite des russischen Überfalls mit seinem Verstoß gegen internationales Recht mag Grund genug dafür sein. Doch zwei weitere Erwägungen spielen eine Rolle: Erstens hatte Abes Politik kaum sichtbare Erfolge: Weder kam Tokio seinem Ziel eines Durchbruchs im Territorialstreit um die Kurileninseln näher, noch erfüllte sich seine Hoffnung auf ein stärkeres russisches Gegengewicht gegenüber China. Schon vor dem Ukraine-Krieg hatten sich daher Zweifel am Annäherungskurs gemehrt. Zweitens sind Japans Sank­tionen auch eine Warnung an China, dass der Westen geeint gegen gewaltsame Ver­änderungen des Status quo steht. Peking sollen die Kosten vor Augen geführt werden, die sein Verhalten in der Taiwan-Straße und in den Territorialkonflikten im Süd- und Ostchinesischen Meer haben kann.

Einzig im Energie-Bereich fällt es dem ressourcenarmen Japan noch schwer, sich von Russland loszusagen – und das, obwohl die Abhängigkeiten bei fossilen Brennstoffen weit geringer sind als die Europas. Als Teil der G7 hat Tokio immerhin den schritt­weisen Ausstieg aus Kohle- und Ölimporten zugesagt. Im Kontext seiner Energie­transformation setzte Japan aber bislang auf engere Kooperation mit Russland im Bereich von Gas und Wasserstoff sowie Ammoniak. Während es neue Investitionen in Russland nun unterbinden will, hält es an bestehenden Beteiligungen an Gas- und Öl-Förderprojekten fest.

Wirkung der Russland-Sanktionen: Putins schwerste Wirtschaftskrise

Die Härte der vom Westen verhängten Sanktionen hat Moskau überrascht. Anfang März wankte für einige Tage das Bankensystem; es gab lange Schlangen vor Geldautomaten, der Rubel stürzte ab, und die Inflation stieg sprunghaft an. Dann aber gelang es der Zentralbank, das Geschehen durch Kapitalkontrollen und weitreichende Eingriffe in das Finanzsystem zu stabilisieren.

Der große Crash ist ausgeblieben. Seitdem herrscht in Russland scheinbar wirtschaftliche Normalität. Doch die eigentliche Krise steht noch bevor. Die Sanktionen trafen zunächst nur einzelne Bereiche der Wirtschaft mit großer Wucht. Nach und nach greifen die Effekte aber auf immer mehr Sektoren über.

Überall wo internationale Unternehmen in Russland eine zentrale Rolle spielen, ist die Produktion eingebrochen. Die Automobilindustrie, die 600.000 Menschen im Land beschäftigt, stand bereits im Mai größtenteils still. In fast allen Branchen fehlen Teile, Dienstleister und Maschinen – ein Mangel, der sich noch verschärfen wird. Zwar verharrt die offizielle Arbeitslosigkeit auf dem Rekordtief von 3,9 Prozent, doch sind die Reallöhne durch Kurzarbeit und Produktionsstillstand deutlich gefallen, und mit ihnen die Konsumausgaben. Zum Jahresende rechnen die meisten Ökonomen mit einem Einbruch der Wirtschaftsleistung von über 10 Prozent; danach soll eine langjährige Stagnation folgen.

Trotzdem wird der russische Staat erst einmal handlungsfähig bleiben, auch wenn teure Stützungsmaßnahmen den erwarteten Haushaltsüberschuss in ein Defizit verwandelt haben. Erst in zwei bis drei Jahren ist damit zu rechnen, dass das geplante Energieembargo des Westens in Kombination mit Russlands schwächerer Wirtschaft auf die Finanzkraft des Staates durchschlägt. Deshalb ist Putins Macht durch die Sanktionen nicht unmittelbar bedroht, auch wenn sich an den ökonomischen Verwerfungen neue Verteilungskämpfe in der Elite entzünden. Dies bedeutet auch, dass der russische Präsident auf absehbare Zeit keine außenpolitischen Kompromisse eingehen muss, um die wirtschaftliche Grundlage seines Regimes zu sichern.

Das lange Ringen um ein EU-Ölembargo hat verdeutlicht, dass die westlichen Regierungen ihrer Wählerschaft keine größeren neuen Sanktionspakete mehr zumuten wollen. Die konsequente Durchsetzung der bereits verhängten Maßnahmen rückt damit in den Mittelpunkt. Das gilt besonders für das Technologieembargo gegen die russische Rüstungsindustrie, die bislang viel westliche Technik verbaute. Hier gibt es Hinweise auf Produktionsschwierigkeiten und damit den ersten konkreten Sanktionserfolg, der auf längere Sicht auch Russlands Möglichkeiten zur Kriegführung direkt treffen wird.

Chinas russisches Dilemma

Russland ist Chinas wichtigster Verbündeter in der Gegnerschaft zu Amerika und im Bestreben, westlich dominierte Ordnungs- und Sicherheitsstrukturen auf globaler Ebene zu überwinden. Vor Beginn des Ukraine-Krieges verkündeten die Staatspräsidenten Xi und Putin eine „Partnerschaft ohne Grenzen“; zugleich bekräftigten sie die militärische Rückversicherung an ihrer langen Territorialgrenze. Verglichen mit der politischen und geostrategischen Bedeutung, die Russland für China hat, ist sein wirtschaftlicher Stellenwert für die Volksrepublik gering. Der russische Anteil an Chinas Außenhandel belief sich 2021 auf gerade einmal 2,4 Prozent. Zu Chinas Gasimport trug Russland mit 6,1 Prozent bei, zum Ölimport mit 15,5 Prozent.

Gleichwohl sind für China die politischen und wirtschaftlichen Kollateralschäden des Krieges beträchtlich. Erstens treffen der Kostenschub durch steigende Energie- und Nahrungsmittelpreise und die Abschwächung der weltweiten Nachfrage eine chinesische Volkswirtschaft, die ohnehin schwer zu kämpfen hat – mit Problemen makroökonomischer Ungleichgewichte, mit innerer Verschuldung und den Folgen des selbstauferlegten Corona-Lockdowns. Zweitens hat Chinas prorussische Positionierung bewirkt, dass sein Verhältnis zu den sehr viel wichtigeren Handelspartnern im Westen –

EU, Japan, Korea – merklich abgekühlt ist. Drittens sind auch für Staaten des globalen Südens die Widersprüche zwischen Pekings Kremlnähe und seiner offiziellen Rhetorik gut erkennbar, in der territoriale Integrität, Nichteinmischung und nationale Souveränität hochgehalten werden.

China geht es wirtschaftlich nicht darum, vom Krieg zu profitieren, sondern in erster Linie um Schadensbegrenzung. Obgleich die Partei- und Staatsführung die Sanktionen gegen Russland heftig kritisiert, ist nicht zu erkennen, dass diese von China aus unterlaufen würden. Zu groß wäre das Risiko, wegen solcher Verstöße von amerikanischen Sekundärsanktionen getroffen zu werden. Einige chinesische Großbanken haben sogar ihren Geschäftsbetrieb in Russland eingestellt. Währenddessen ist Chinas Export in das Nachbarland rückläufig. Kräftig gestiegen sind indes die Einfuhren von Öl und Kohle aus Russland, nicht zuletzt dank erheblicher Preisnachlässe. Im Mai 2022 avancierte Russland zum volumenmäßig (vor Saudi-Arabien) wichtigsten Öllieferanten der Volksrepublik.

Die Russland-Sanktionen dienen China als Lehrbeispiel, womit man selbst in einem künftigen Konflikt mit dem Westen zu rechnen haben könnte. Beachtenswert sind daher die Bestrebungen, nach innen die Widerstandskraft und Resilienz der chinesischen Wirtschaft gegen Sanktionen oder gar ein westliches Decoupling zu stärken. Nach außen bemüht sich China – im Rahmen der jüngsten Global-Security-Initiative – um engere Beziehungen zu den BRICS-Staaten und zum globalen Süden.

Westliche Sanktionen gegen Russland: ein Drahtseilakt für Indien

Indien erscheint auf den ersten Blick als einer der Hauptprofiteure der Konfrontation zwischen Russland und dem Westen.

Indiens neutrale Haltung gegenüber dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine hat anfangs viel Kritik und Unverständnis in westlichen Hauptstädten hervorgerufen. Allerdings haben viele westliche Staaten angesichts der geopolitischen Gemeinsamkeiten mit Indien in Bezug auf China ihre militärische, wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit mit Neu-Delhi intensiviert, auch um auf diese Weise Indiens Abhängigkeit von Russland zu verringern.

Seit Beginn des Ukraine-Kriegs hat Indien seine Beziehungen zu Russland jedoch eher ausgebaut als reduziert. Die russischen Ölexporte nach Indien sind seit Jahresbeginn um mehr als das Dreißigfache gestiegen. Neu-Delhi ist auch in der Lage, die westlichen Sanktionen im Zahlungsverkehr zu umgehen und Energieimporte über Rubel-Rupien-Zahlungen oder Drittwährungen abzuwickeln.

Im Juni erteilte Neu-Delhi einen großen Auftrag an einen russischen Staatsbetrieb, der Indiens Flughäfen technisch modernisieren soll. Und die russische Atombehörde Rosatom lieferte weitere Ausrüstung für den Betrieb des Atomkraftwerks Kudankulam. Als Folge der westlichen Sanktionen wurde auch der International-Nord-Süd-Transport-Korridor (INSTC) zwischen Russland, Iran und Indien wiederbelebt.

Mit Blick auf die geopolitischen Gemeinsamkeiten in Bezug auf China scheint Indien einen „Freifahrschein“ des Westens zu haben und muss wegen seiner Beziehungen zu Russland keine Sanktionen fürchten. Seine auf den ersten Blick sehr komfortable Position ist tatsächlich aber heikler und herausfordernder. Erstens ist die militärische Zusammenarbeit mit den USA nicht nur mit deutlich höheren Kosten verbunden, sondern auch an mehr Bedingungen beispielsweise beim Technologietransfer geknüpft, als dies bei russischen Rüstungsgütern der Fall ist. Damit indische Unternehmen von amerikanischen Sekundärsanktionen verschont bleiben, muss Neu-Delhi Ausnahmegenehmigungen in Washington erwirken. Für das geplante Handelsabkommen mit der EU wird sich Indien teilweise auf Sozial- und Umweltstandards einlassen müssen, die als Eingriff in die nationale Souveränität verstanden werden.

Ein zweites Problem entsteht, sollte sich Russland als Folge der westlichen Sanktionen stärker China zuwenden und seine militärische Zusammenarbeit mit Indien einschränken, sei es aufgrund eigener Ressourcenprobleme oder aufgrund chinesischen Drucks. Indien wird seine große Abhängigkeit von russischen Militärgütern nur langfristig verringern können, ist es doch in zwei virulente Konflikte mit China und Pakistan involviert. Insofern könnten die westlichen Sanktionen gegen Russland Indien mittelfristig in seiner Außenpolitik und bei der Behauptung des Primats strategischer Autonomie einen Drahtseilakt abverlangen.

Sanktionen und Energiemärkte: Neuordnung von Energieflüssen und Machtverhältnissen

Sanktionen und Gegensanktionen sorgen für Verwerfungen auf den fossilen Energiemärkten. Das zuletzt beschlossene EU-(Teil)Embargo auf russisches Öl kann kurz- bis mittelfristig das Ölangebot verknappen. Die preissenkenden Effekte einer möglichen Rezession und eines starken Dollars werden so wieder wettgemacht. Die sukzessive Reduzierung der Gasmengen, die Russland nach Europa liefert, kann den Preiswettbewerb zwischen Asien und Europa um knappes Flüssiggas (LNG) verschärfen.

Auf dem Ölmarkt werden bis Jahresende, infolge des erwarteten massiven Förderrückgangs in Russland, zwei bis drei Millionen Barrel täglich fehlen, trotz des andauernden russischen Exports nach Asien. Der Ölmarkt wird somit preislich und regional zweigeteilt. Im Dreieck Mittlerer Osten–Eurasien–Asien zeichnet sich ein Wettbewerb zwischen Saudi-Arabien, Iran und Russland um Chinas (und Indiens) Markt ab. Im Dreieck Mittlerer Osten–USA–Europa könnte Europa von der partiellen Umorientierung saudischer Öllieferungen von Asien nach Europa profitieren, nicht aber von günstigen Preisen. Gesteigerte Produktion und größere Liefermengen aus den USA oder aus OPEC+-Ländern könnten für Entspannung sorgen, den Ausfall russischer Lieferungen aber nicht kompensieren.

Für den globalen LNG-Markt gilt ein ähnliches Szenario. Die von der EU geplante schrittweise Abkehr von russischem Gas oder – noch gravierender – eine abrupte Einstellung russischer Gaslieferungen nach Europa erhöhen den Druck auf den bereits knappen LNG-Markt. Der Preiswettbewerb, insbesondere zwischen den großen Verbrauchermärkten Asiens und Europas, wird sich ab Winter verschärfen. Dazu trägt auch die erwartete Erholung der Nachfrage in China bei.

Längerfristig werden die Energiehandelsflüsse geographisch neu geordnet, was auch die geopolitischen Machtverhältnisse beeinflussen wird. Die EU, einer der großen Verbraucher, wird kurz- bis mittelfristig von teuren und knappen LNG-Lieferungen abhängig, mit widersprüchlichen Sekundäreffekten auf die Energietransformation. Europa wird zwar die eigene Ölversorgung sichern können, die hohen Kosten werden aber die Inflation weiter anheizen und lähmend auf die kontinentalen Wirtschaften wirken. Unterdessen werden China und Indien kurz- bis mittelfristig vom billigen russischen Öl profitieren.

Unter den Produzenten zählen insbesondere Saudi-Arabien, Katar und die USA zu den potentiellen Gewinnern, während Russland mittelfristig geschwächt wird. Moskau wird vor allem durch den Ölverkauf an Drittländer in Asien den vollständigen Kollaps seiner Produktion abwenden können. Die Umlenkung von russischem Pipelinegas nach Asien gestaltet sich komplizierter. Sie könnte die Wirtschaft Russlands mittelfristig hart treffen und seine asymmetrische Abhängigkeit von China vergrößern.

Nahrungsversorgungsrisiken im Sanktionsumfeld strategisch begrenzen

Russlands Angriff auf das große Agrarland Ukraine verursacht globale Nahrungsversorgungsrisiken, Sanktionen können sie noch verschärfen. Aktuell aber sind andere handelspolitische Maßnahmen relevanter, mit denen viele große Agrarakteure, darunter Russland, auf Versorgungsengpässe reagieren.

Es ist internationaler Usus, humanitär relevante Sektoren wie die Ernährungswirtschaft von Sanktionen auszunehmen – das ist in den USA auch gesetzlich verankert. Zudem sollen unintendierte sanktionsbedingte Versorgungsprobleme der Bevölkerung im sanktionierten Land vermieden werden.

Ähnliche Schutzanliegen bestehen bei Exportrestriktionen, die derzeit viele Weizenexporteure nutzen, um die eigene Versorgung zu sichern, was die Verknappung verschärft. Die WTO gestattet solche Restriktionen nur im Ausnahmefall und fordert ein, Risiken für andere Staaten zu berücksichtigen.

Die EU hat keine direkten Agrarsanktionen gegen Russland verhängt. Ihre indirekt nahrungswirksame Einschränkung der Düngemitteleinfuhr aus Russland soll Belarus daran hindern, das geltende Verbot von Kaliumdüngerimporten in die EU zu umgehen, indem es Kaliumdünger über Russland exportiert. Die EU unterstützt aber Versorgungs- und Preisstabilität durch eingeräumte Einfuhrquoten. Noch indirekter wirken zwei EU-Sanktionen gegen russische Oligarchen aus der Düngemittelindustrie.

Als Folge der Aufhebung des WTO-Meistbegünstigungsprinzips lassen sich russische Importe mit Zöllen belegen, was bislang selten und von der EU gar nicht praktiziert wird.

Russland hat für Agrarprodukte vielfältige handelspolitische Import- und Exportbeschränkungen erlassen: Stickstoffdüngerausfuhren sind seit 2021 begrenzt, um interne Kosten zu senken. Anlässlich der Coronakrise wurde zudem eine preisabhängige Exportquote für Weizen erlassen, die bei den derzeit hohen Weltmarktpreisen greift und Weizenexporte unterbindet.

Neben staatlichen begrenzen auch privatwirtschaftliche Maßnahmen den Transport von Agrargütern, der durch die Seeblockade eingeschränkt ist, zudem belastet durch Kostenrisiken infolge der Finanzsanktionen und durch gestiegene Versicherungsprämien. Gerade zu Kriegsbeginn erließen europäische Agrarunternehmen eigene Boykotte als politisches oder reputatives Signal.

Staatliche Hilfen an Privatakteure sollten diese nicht nur bei Transportsicherheit und ‑kosten unterstützen, sondern auch mit Aufklärung über humanitäre Risiken von Boykotten verbunden sein, wie das inzwischen einige private Akteure verstärkt tun.

Sanktionen wie die versorgungswirksamen Handelsmaßnahmen sollten auch unintendierte Versorgungseffekte vorausschauend berücksichtigen. Dazu müssen sanktionierende Staaten Risiken für Drittstaaten beachten, die von Beginn Hilfspakete bekommen sollten, um negative Auswirkungen abzufedern. Das ist aus humanitären Gründen, aber auch strategisch geboten. So ließe sich ein geopolitisches Vakuum verhindern und vermeiden, dass ausgerechnet der sanktionierte Akteur (aktuell Russland) die Abfederung von Versorgungsproblemen übernimmt und politisch ausnutzen kann.

Zitiervorschlag

Zitiervorschlag 360 Grad gesamt:

Janis Kluge (Koord.), Wirtschaftssanktionen gegen Russland – internationale Perspektiven und globale Auswirkungen, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 11.07.2022 (360 Grad)

Zitiervorschlag einzelner 360 Grad-Beitrag:

Annegret Bendiek, „EU-Russland-Sanktionen“, in: Janis Kluge (Koord.), Wirtschaftssanktionen gegen Russland – internationale Perspektiven und globale Auswirkungen, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 11.07.2022 (360 Grad)