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(Wieder-)Annäherungen in Nahost

Eine konfliktträchtige neue regionale Ordnung gewinnt Kontur

SWP-Aktuell 2021/A 50, 13.07.2021, 8 Pages

doi:10.18449/2021A50

Research Areas

2020/21 unterzeichnete Israel Abkommen mit vier arabischen Staaten, die international als Durchbruch gefeiert wurden. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt vollzieht sich unterdessen seit 2018 eine Wiederannäherung arabischer Staaten an Syrien. Schließlich beendeten mit dem Treffen des Golfkooperationsrates (GKR) im saudischen Al-Ula im Januar 2021 Ägypten, Bahrain, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) ihren Boykott Katars. Veränderte Lagebeurteilungen und das Konvergieren von Interessen haben die (Wieder-)Annäherungen ermöglicht. Damit bewegt sich die Region aber nicht auf Frieden und Stabilität zu; langanhaltende Konflikte werden nicht beigelegt, Bedrohungsperzeptionen dritter Akteure verstärkt. Deutschland und seine Partner in der EU sollten sich nicht von lokalen und regio­nalen Konfliktparteien vereinnahmen lassen, sondern Ansätze regionaler Konflikt­bearbeitung unterstützen.

In der konfliktgebeutelten Nahostregion vollziehen sich derzeit mehrere (Wieder-) Annäherungsprozesse. Sie werden entschei­dend von den arabischen Golfstaaten voran­getrieben, insbesondere den VAE, und sind in erster Linie Symptom der regionalen Machtverschiebungen, die aus dem soge­nannten Arabischen Frühling hervorge­gangen sind. Ein weiterer Hintergrund ist die wankelmütige US-Politik, die ihren Fokus zunehmend von der Region weg­verschoben hat.

Israelisch-arabische Normalisierung

Am 15. September 2020 einigten sich Israel und die VAE sowie Israel und Bahrain in den sogenannten Abraham Accords auf eine Nor­malisierung ihrer Beziehungen. Am 22. De­zember 2020 unterzeichneten Israel und Marokko, am 6. Januar 2021 Israel und Sudan entsprechende Abkommen. Die vier Übereinkommen sehen die gegenseitige Anerkennung und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen vor.

Die in den einzelnen Abkommen angestrebte Intensität des Verhältnisses variiert allerdings deutlich. Dabei knüpfen die Ver­einbarungen Israels mit den VAE, Bahrain und Marokko an die israelisch-arabische Normalisierung der 1990er Jahre an, die durch den Osloer Friedensprozess zwischen Israel und der PLO ermöglicht worden war, infolge der Zweiten Intifada (2000–2005) aber massive Rückschläge erlitt. Die Annä­herung hatte damals, wenn auch in unter­schiedlichem Maße, dazu geführt, dass zwischen Israel und einer Reihe von Golf- und Maghrebstaaten Handel und Tourismus möglich und Vertretungen etabliert wurden.

Erleichtert wurde die Wiederannäherung, weil keiner der drei Staaten bilaterale Konflikte mit Israel hatte; auch war keiner von ihnen je wesentlich in Kriege mit Israel involviert gewesen. Vor allem Israel und die VAE hatten in den letzten Jahren bereits einen engen geheimdienstlichen, militärischen und zivilen Austausch entwickelt. Dieser wurde mit dem Abkommen nun auf eine offizielle Ebene gehoben; er soll weiter vertieft und um eine gesellschaftliche Dimen­sion erweitert werden. Insofern lassen sich diese Abkommen kaum – wie vom damali­gen US-Präsidenten Donald Trump – als »Friedensabkommen« qualifizieren, son­dern eher als »Coming out«.

Anders verhält es sich bei dem Abkommen zwischen Israel und dem Sudan, die sich bis dato im Kriegszustand befanden. Suda­nesische Kontingente kämpften in den Krie­gen gegen Israel, und unter Omar al-Bashir (1989–2019) pflegte Khartum enge Bezie­hungen zu Gegnern Israels, insbesondere zum Iran und zur Hamas. Wiederholt hatte Israel im Sudan Konvoys aus der Luft ange­griffen, die für die Hamas bestimmte Waf­fen transportierten. Bei dieser Abmachung handelt es sich daher tatsächlich um ein Friedensabkommen, das indes noch der Um­setzung harrt.

Transaktionale Abkommen

Die Normalisierungsabkommen sind Parade­beispiele für transaktionale Vereinbarungen. Dabei kam der Trump-Administration eine entscheidende Vermittlungsrolle zu. Sie setzte den Sudan massiv unter Druck und bot den VAE und Marokko zusätzliche Anreize, um die Abkommen attraktiv zu machen. Denn für alle beteiligten Akteure standen nicht Frieden oder eine Konflikt­regelung in Nahost, sondern andere Inter­essen im Vordergrund. Eine herausragende Rolle spielten neben dem Konvergieren der Bedrohungswahrnehmungen Israels und arabischer Staaten persönliche Motive Trumps und Netanjahus, die sich beide im Wahlkampf befanden, sowie spezifische nationale Interessen.

Für US-Präsident Trump ging es darum, sich doch noch als Friedensstifter in Nahost zu profilieren, nachdem er mit seinem soge­nannten Jahrhundertdeal zur Regelung des israelisch-palästinensischen Konflikts vom Januar 2020 keinen Erfolg erzielen konnte. Nun wollte er regionale Unterstützung für seine Politik des maximalen Drucks auf Iran mobilisieren und durch Rüstungsdeals die Wirtschaft der USA stärken.

Für Israel stand neben dem Etablieren eines neuen Paradigmas, in dem die paläs­tinensische Führung kein Veto mehr über Israels regionale Beziehungen haben sollte, der Schulterschluss gegen den Iran an erster Stelle. Zudem setzt Israel darauf, seine wirt­schaftlichen Beziehungen auszuweiten und seine Präsenz am Horn von Afrika aus­zubauen. Rüstungslieferungen an die ara­bischen Staaten wurden durch Zusagen der USA kompensiert, Israels militärische Über­legenheit zu bewahren.

Abu Dhabi ging es vor allem um den Zugang zu modernen Waffensystemen und die langfristige Bindung der USA durch eine umfangreiche Rüstungskooperation. Die Trump-Administration sagte den VAE denn auch 50 F‑35-Kampfflugzeuge und 18 Reaper-Drohnen zu. Mitte Januar 2021 hob sie zudem die VAE und Bahrain als wich­tige Sicherheitspartner der USA hervor. Hinzu kamen für die VAE das Interesse an einer Imageverbesserung nach dem Debakel im Jemen-Krieg und das Bestreben, ihre Wirtschaft zu diversifizieren und das Land zu einem Technologie-Hub auszubauen. Das Abkommen zwischen Israel und Bah­rain dagegen ist weniger spezifischen bah­rainischen Interessen zu verdanken, son­dern eher der saudischen Unterstützung einer engeren Kooperation Bahrains mit Israel, verfügt Manama gegenüber Riad doch kaum über eigenständigen Entschei­dungsspielraum.

Für Khartum unter De-facto-Staatspräsi­dent Abdelfattah al-Burhan standen Inter­essen im Vordergrund, die gar nicht auf Is­rael gerichtet sind. Vielmehr hatte Washing­ton seine Zusagen, den Sudan von seiner Ter­ror­liste zu streichen und Khartum gegen Klagen von Terroropfern zu immunisieren, von einem Normalisierungsabkommen mit Israel abhängig gemacht. Dies war für die Führung in Khartum entscheidend, denn es ebnete nicht nur den Weg für US-amerika­nische Entwicklungshilfe, sondern half dem Sudan auch, das negative Image des Bashir-Regimes loszuwerden und so wieder an internationale Kredite zu gelangen.

Für Rabat war der Hauptanreiz die US-amerikanische Anerkennung marokka­nischer Souveränität über die Westsahara und die Zusage, dass Verhandlungen über eine Regelung des Konflikts auf Basis des marokkanischen Autonomieplans stattfinden sollten. In der Folge eröffneten nicht nur die USA, sondern auch die VAE, Bah­rain und Jordanien Konsulate in der West­sahara. Hinzu kamen amerikanische Zu­sagen, Drohnen und andere Präzisions­waffen zu liefern, sowie Zusagen für um­fangreiche Hilfen und Investitionen.

Problematische Nebenwirkungen

Als Folge des Israel-VAE-Abkommens ist mittlerweile eine Vielzahl von Kooperationen vereinbart worden, nicht nur auf staatlicher Ebene, sondern auch zwischen privatwirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Damit zeichnet sich zum ersten Mal tatsächlich ein »warmer Frieden« ab; die Beziehungen gehen schon jetzt deut­lich über diejenigen Israels mit Ägypten und Jordanien hinaus. Israel wird damit nicht nur als Realität anerkannt, sondern zusehends als Partner und Teil der Region akzeptiert.

Dies sollte allerdings nicht mit Fortschrit­ten auf dem Weg zu einer Regelung der Kon­flikte zwischen Israel und seinen Nach­barn verwechselt werden. Zwar verpflichtete sich Israel im Kontext der Abkommen gegen­über den Golfstaaten und den USA, die im Mai 2020 angekündigte formale Annexion von Teilen des Westjordanlands nicht zu vollziehen. Die Abraham-Abkommen ver­weisen aber auf den Trump-Plan und legi­timieren damit den Anspruch der israelischen Rechten auf Teile des Westjordanlands sowie eine dauerhafte, übergeordnete israelische Kontrolle über Israel und die besetzten palästinensischen Gebiete. Ein palästinensischer Staat oder konkrete Schritte der Kon­fliktbearbeitung werden nicht erwähnt.

Auch ist nicht zu erwarten, dass die arabischen »Normalisierer« nennenswerten Druck auf Israel ausüben, um auf eine Regelung des israelisch-palästinensischen Konflikts oder der bilateralen Konflikte Israels mit Syrien und dem Libanon hin­zuwirken. Im Gegenteil, die VAE fallen sogar hinter europäische Positionen zurück, beispielsweise bei der Differenzierung zwi­schen dem Umgang mit Israel und israe­lischen Siedlungen in besetzten oder annek­tierten Gebieten. Schon haben emiratische Firmen Abkommen mit Siedlungsfirmen abgeschlossen. Marokko äußert zwar durch­aus Kritik an israelischen Maßnahmen, die etwa den Status quo auf dem Tempelberg/Haram al-Sharif betreffen, dürfte aber kaum politisches Kapital einsetzen, um der israelischen Besatzungs- und Annexions­politik aktiv entgegenzuwirken.

Die Haltung der Trump-Administration, das israelisch-marokkanische Abkommen und die sich verbreitende Anerkennung marokkanischer Souveränität über die Westsahara haben außerdem dazu geführt, dass sich die Position Marokkos in der West­sahara-Frage verhärtet hat und die Span­nun­gen zwischen Marokko und Algerien zu­nehmen. So sieht sich Algier durch den (potenziellen) Ausbau israelisch-marokka­nischer Kooperation bedroht und in der Region infolge seiner Unterstützung für die Polisario noch mehr isoliert.

Über diese direkten Effekte hinaus dürften insbesondere drei Faktoren in der Region konfliktverschärfend wirken. Dazu gehört erstens die Unterminierung völker­rechtlicher Prinzipien durch die Trump-Administration – vor allem des Verbots, Territorium gewaltsam anzueignen –, die in den Zusagen an Israel und Marokko wirk­sam ist. Der zweite Faktor ist die Ver­stärkung der Bedrohungsperzeption in Tehe­ran im Sinne einer »strategischen Um­zingelung«. Daher steht zu befürchten, dass die zugesagten amerikanischen Waffen­lieferungen einen neuen Rüstungswettlauf in der Region auslösen und dass Iran seine strategische Tiefe durch den Ausbau des Netzwerks nichtstaatlicher (Gewalt-)Akteure zu sichern sucht. Drittens droht Israels Ko­operation mit autoritären Staaten der Region im Bereich Geheimdienste und Informa­tionstechnologie den Handlungsspielraum von Opposition und Zivilgesellschaft in diesen Staaten weiter einzuschränken statt inklusivere politische Systeme zu fördern.

Wiederannäherung arabischer Staaten an Syrien

Schon seit Ende 2018 treiben einige ara­bische Staaten die Normalisierung ihrer Beziehungen mit Damaskus schrittweise voran. Zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs 2011 hatte noch eine Mehrheit ara­bischer Führungen Assads Vorgehen gegen die eigene Bevölkerung verurteilt und Syrien aus der Arabischen Liga ausgeschlos­sen; einige arabische Golfstaaten (vor allem Katar und Saudi-Arabien) hatten die syri­sche Opposition bzw. die Rebellen unter­stützt. Allerdings war Damaskus zu keinem Zeitpunkt des Bürgerkriegs völlig isoliert in der Region. Ägypten, Algerien, der Irak, Jor­danien, der Libanon und Oman brachen die Verbindung zu Damaskus nie gänzlich ab. Die VAE hielten sowohl wirtschaftliche wie auch diplomatische Kanäle nach Damaskus offen und gewährten mehreren Mitgliedern der Assad-Familie Unterschlupf.

Die VAE und Bahrain brachten mit der Wiedereröffnung ihrer Botschaften in Damaskus im Dezember 2018 die Rehabilitierung Syriens ins Rollen. Im Vorfeld des Treffens der Arabischen Liga im März 2019 machten sich weitere arabische Staaten, dar­unter Algerien, Ägypten, der Irak, der Liba­non und Tunesien, für die Wiederaufnahme Syriens in die Organisation stark, konnten sich aber nicht durchsetzen. Explizit lehn­ten zu diesem Zeitpunkt nur noch Katar und Saudi-Arabien eine Rückkehr Syriens in die Liga ab. Ausschlaggebend dafür, dass dieser Schritt unterblieb, dürfte vor allem der Druck der USA und der EU gewesen sein.

Im Oktober 2020 entsandte der Oman einen Botschafter nach Damaskus. Im De­zember 2020 trafen sich hochrangige Ver­treter des syrischen Regimes mit israe­lischen Sicherheitsbeamten auf der russi­schen Militärbasis Hmeimim. Anfang Mai 2021 schließlich besuchte eine saudi-ara­bische Delegation unter Leitung von Geheim­dienstchef General Khaled Humaidan Damaskus. Bei beiden Treffen soll es um die Bedingungen für eine regionale Rehabilitierung des Assad-Regimes gegangen sein.

Autoritäre Konsolidierung

Zwar hat sich an den ursprünglichen Grün­den für Syriens Ausschluss aus der Ara­bischen Liga – massive Menschenrechts­verletzungen und mutmaßliche Kriegs­verbrechen – nichts geändert. Doch ange­sichts diverser Entwicklungen beurteilten die arabischen Staaten die Lage nunmehr anders: die militärische Niederlage der syrischen Opposition, die verstärkte Ein­fluss­nahme nichtarabischer Staaten in Syrien, die verheerenden regionalen Aus­wirkungen der von Syrien ausgehenden Destabilisierung und die Covid-19-Pande­mie. Dazu trug auch die Einsicht bei, dass die USA und die EU trotz ihrer Mobilisierung gegen das Assad-Regime spätestens seit der Intervention Russlands 2015 keinen Regimewechsel in Damaskus mehr anstreb­ten. In der Folge schwenkten vor allem die arabischen Golfstaaten auch in Syrien auf autoritäre Konsolidierung um.

Die VAE begründeten ihren Vorstoß im Dezember 2018 mit der Notwendigkeit, den Einfluss des Iran und der Türkei in Syrien zurückzudrängen und dort die sunnitisch-arabische Präsenz zu stärken. Der Iran wie auch die Türkei hatten schon früh indirekt und direkt militärisch auf unterschied­lichen Seiten in den Konflikt eingegriffen. In dem 2017 von Russland initiierten Astana-Format hatten sie dann eine offizielle Rolle im Management des Syrien-Konflikts erhal­ten. Seither hat sich ihre Präsenz bzw. die der von ihnen unterstützten Milizen in diversen Landesteilen verfestigt; die Türkei hat Enklaven im Norden Syriens adminis­trativ an ihr eigenes Territorium angegliedert. In Abu Dhabi spielt auch die Aussicht auf lukrative Investitionen beim Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes eine Rolle. Die VAE waren vor 2011 als zweit­größter arabischer Investor in Syrien (nach Saudi-Arabien) vor allem im Immobilien- und Transportsektor präsent. Von 2018 an zeig­ten sie verstärktes Interesse an Investi­tio­nen in Luxusprojekte wie Marota City.

Für Syriens Nachbarn sind es vor allem wirtschaftliche Interessen, die sie zur Öff­nung gegenüber Damaskus nötigen. Jorda­nien und Libanon, selbst durch den Bürgerkrieg in Syrien nachhaltig destabilisiert, suchen den grenzüberschreitenden Handel wiederzubeleben und vom Wiederaufbau Syriens zu profitieren. Das Königshaus in Amman fürchtet zudem grenzüberschrei­tende Gefahren durch jihadistische Grup­pie­rungen und ist insofern daran interessiert, Syrien zu stabilisieren und die Sicher­heitskooperation mit Damaskus zu vertie­fen. Auch das Interesse an einer baldigen Rückführung der über 1,5 Millionen syri­schen Geflüchteten, die Jordanien und der Libanon beherbergen, spielt bei ihrer Annä­herung an Syrien eine zentrale Rolle.

Die entscheidende Hürde für die Wiederannäherung arabischer Führungen an Damaskus sind folglich politischer Druck aus Washington und Brüssel und die US‑amerikanischen Sanktionen. Denn das Sanktionsregime der USA umfasst neben gezielten Strafmaßnahmen gegen Präsident Assad und seine erweiterte Entourage sek­torbezogene Sanktionen. Letztere werden auch auf Angehörige von Drittstaaten an­gewandt, die in einer bestimmten Form mit Syriens Finanzinstitutionen, Öl- und Erdgas­industrie oder dem Bausektor kooperieren.

Rehabilitierung Assads

Dass die arabischen Länder ihre Beziehun­gen zu Syrien schrittweise normalisieren, verleiht dem Assad-Regime erneute regio­nale Legitimität. Verhaltensänderungen im Sinne der Achtung von Menschenrechten, von Rechtsstaatlichkeit, größerer Inklusion oder guter Regierungsführung sind nicht mehr Gegenstand der Diskussion über eine Rückkehr Syriens in die Arabische Liga, ganz zu schweigen von einem politischen Übergang und einer Machtteilung, wie in Sicherheitsratsresolution 2254 von 2015 vorgesehen. Damit dürfte die syrische Bevölkerung weiterhin unter massiver Repression zu leiden haben. Das Gros der aus Syrien Geflüchteten, die sich in den Nachbarländern aufhalten, dürfte sich zudem mittelfristig gezwungen sehen, in die Heimat zurückzukehren, auch wenn dort weder ihre Sicherheit noch ihr mate­rielles Überleben gewährleistet sind.

Vordringlich ist nun die Forderung der arabischen Staaten an Damaskus, den Ein­fluss des Iran zurückzudrängen und die von Teheran unterstützten Milizen auszuwei­sen. Dabei ist Präsident Assad auf diese Milizen angewiesen, um seinen Herrschafts­anspruch aufrechtzuerhalten. Sollten die arabischen Staaten tatsächlich versuchen, Irans Fußabdruck in Syrien zu verkleinern, dürfte dies zu einem erneuten Aufflammen bewaffneter Auseinandersetzungen in den vom Regime kontrollierten Gebieten führen und insofern eine Stabilisierung Syriens zusätzlich erschweren.

Die arabische Normalisierung des Verhältnisses zu Damaskus geht mit einer fak­tischen Anerkennung Russlands als neuer Ordnungsmacht im Nahen Osten einher, was eine weitere Schwächung westlichen Einflusses bedeutet. Nicht zuletzt fügt sich die Rehabilitierung Assads in das Muster autoritärer Restauration ein, die in weiten Teilen der Region zu beobachten ist. Assads »langer Atem« und die Selbstinszenierung des Regimes als säkulares Bollwerk gegen religiösen Extremismus sehen nicht nur einige Machthaber in der Region als Vor­bild, sie machen teilweise durchaus auch inter­national Eindruck.

Die Rückkehr in die Arabische Liga könnte somit für die syrische Führung auch das Sprungbrett für eine weitgehend bedin­gungslose Wiederaufnahme in die Welt­gemein­schaft werden. Ohnehin schreitet die inter­nationale Rehabilitierung des Assad-Regimes voran. Fraglich ist indes, ob dadurch der von den UN geleitete Genfer Prozess unterminiert würde, bei dem die Konfliktparteien über eine politische Rege­lung verhandeln. Er ist sowieso festgefahren und bietet angesichts der militärischen Kräfteverhältnisse und des Astana-Prozesses keine Aussicht auf Erfolg.

Ende der Katar-Blockade

Im Januar 2021 beendeten Saudi-Arabien, die VAE, Bahrain und Ägypten nach fast vier Jahren ihren Boykott Katars. Im Juni 2017 hatte dieses sogenannte Quartett die diplomatischen Beziehungen zu Doha ab­gebrochen und eine Luft-, Land- und See­blockade verhängt. Zuvor hatten die Staa­ten von Doha unter anderem gefordert, seine Beziehungen zum Iran einzuschränken, die jüngst in Doha etablierte türkische Militärbasis zu schließen und die Unterstüt­zung der Muslimbruderschaft einzustellen.

Schon 2014 hatten Katars abweichende außen- und sicherheitspolitische Prioritäten zu einem ernsthaften Zerwürfnis mit Saudi-Arabien, den VAE und Bahrain geführt. Doha sah die ab 2011 einsetzenden Ara­bischen Aufstände als Chance, seine regio­nale Position ebenso zu stärken wie ihm gewogene Gruppierungen in der Region. Dazu unterstützte es unter anderem die Muslimbruderschaft bzw. deren lokale Ab­leger. Die Führungen in Abu Dhabi, Kairo, Manama und Riad hingegen betrachteten die Aufstände und vor allem die dabei eine Rolle spielenden Muslimbrüder mit weni­gen Ausnahmen (Syrien, Libyen) als exis­tenzbedrohend und setzten auf autoritäre Restauration. Zwar wurde der darüber geführte Disput im November 2014 mit der Unterzeichnung des »Riad-Dokuments« zunächst beendet, die Divergenzen blieben aber bestehen. Im Januar 2021 hoben die vier Länder das Embargo Katars auf, obwohl Doha keine einzige ihrer dreizehn Forde­rungen erfüllt hatte.

Motive für den Schulterschluss

Die Annäherung hatte vor allem drei Grün­de. Erstens war die Aufhebung des Boy­kotts, die maßgeblich auf die Initiative Saudi-Arabiens zurückging, ein Zugeständnis an die neue US-Regierung. Das Königshaus wollte auf diese Weise seine Reputa­tion und die Beziehungen zu den USA ver­bessern. Schon im Präsidentschaftswahl­kampf hatte Joe Biden angekündigt, Saudi-Arabien jegliche Unterstützung für seinen Krieg im Jemen zu entziehen und – vor dem Hintergrund der Tötung des Journalisten Jamal Khashoggi im Oktober 2018, die vermutlich der saudische Kronprinz Moham­med bin Salman angeordnet hatte – die Beziehungen zur Golfmonarchie grundsätzlich zu überdenken.

Zweitens beabsichtigte das Quartett mit der Aufhebung des Embargos, Katar stärker in sein »sunnitisch-arabisches Bündnis« zu integrieren und damit aus dem Einfluss­bereich des Iran und der Türkei zu lösen. Da die Biden-Administration bestrebt war, zum Joint Comprehensive Plan of Action (JCPOA) von 2015 zurückzukehren bzw. ein neues Atomabkommen mit dem Iran aus­zuhandeln, wollten sie sich gegen eine weitere Stärkung Teherans wappnen. Die in den vier Hauptstädten wahrgenommene ver­schärfte Bedrohung und die Einsicht, dass Doha als Resultat des Boykotts (zwangsläu­fig) enger mit Ankara und Teheran koope­rierte, trugen dazu bei, dass die Quartettstaa­ten bereit waren, über Dohas außenpoliti­sches Ausscheren hinwegzusehen und dem Zusammenrücken Priorität einzuräumen.

Drittens, wenn auch weniger signifikant, bietet die Aufhebung des Boykotts Perspek­tiven für einen wirtschaftlichen Aufschwung. Der Preisverfall auf dem internationalen Ölmarkt sowie der Rückgang der globalen Nachfrage nach Öl infolge der Covid-19-Pandemie hatten den Golfstaaten deutliche Einbußen beschert. Das Ende des Embargos erlaubt wieder grenzüberschreitenden Han­del, gegenseitige Investitionen und einen freien Flugverkehr. Dass der Boykott Katar ge­zwungen hatte, seine Wirtschaft zu diversifizieren, hat es ironischerweise zu einem attrak­tiveren Geschäftspartner für die anderen Golfstaaten gemacht. Dies bietet auch die Chance für eine tiefergehende Integration ihrer Volkswirtschaften.

Begrenzte Aussöhnung

Das Fortbestehen der ideologischen Diver­genzen und Interessenkonflikte dürfte indes auch weiterhin für Spannungen unter den Staaten des Golfkooperationsrates so­wie zwischen Katar und Ägypten sorgen. Trotz Versöhnung bleibt der Golfkoopera­tionsrat weit davon entfernt, als effektive Regionalorganisation oder gar als Vertei­digungsbündnis zu fungieren.

Konfliktträchtige Neu-Ordnung

Die beschriebenen Normalisierungs- und Wiederannäherungsprozesse bilden die Machtverschiebungen des letzten Jahrzehnts ab. Sie sind durch eine veränderte Lage­beurteilung, geteilte Bedrohungswahrneh­mungen und konvergierende Interessen zu erklären – vor allem, aber nicht ausschließ­lich der arabischen Golfstaaten und Israels.

Zu den Machtverschiebungen gehört der Aufstieg der kleinen Golfstaaten, allen voran der VAE, zum Motor der regionalen Entwicklung. Sie gingen gestärkt aus den vom Arabischen Frühling ausgelösten geo­strategischen Verwerfungen hervor, wäh­rend traditionelle Regionalmächte (Alge­rien, Ägypten, Irak, Saudi-Arabien, Syrien) an Stabilität und Bedeutung einbüßten. Dabei erweiterte der Teilrückzug der USA als vormals dominante Ordnungsmacht in der Region den Spielraum aufstrebender Regionalmächte und nichtstaatlicher Ak­teure. Außerdem bot er Russland die Möglichkeit, seine Militärpräsenz im Nahen Osten und im Mittelmeerraum erheblich aus­zuweiten. Russland konnte sich damit als nicht zu umgehender Akteur mit be­schränkter Gestaltungs-, aber großer Ver­hinderungsmacht etablieren.

Eine weitere neue Gegebenheit ist, dass Russland, der Iran, die VAE und die Türkei Söldner einsetzen und Milizen unterstützen, um ihren Einfluss geltend zu machen. Damit unterminieren sie staat­liche Struk­turen und schaffen einen Pool an Kämpfern unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung, der die Region auch über die gegen­wärtigen Kon­fliktarenen hinaus langfristig destabilisieren dürfte.

Die Lagebeurteilung hat sich insofern verändert, als die autoritäre Restauration im Nach­gang der Arabischen Aufstände in weiten Teilen der Region als erfolgreich und ein Regimewechsel in Syrien nicht län­ger als realistisch angesehen werden. Auch international wird die autoritäre Restau­ration mittlerweile zusehends als alternativlos hingenommen. Gleichzeitig hat die Paläs­tinafrage weiter an Relevanz für die arabischen Staaten verloren, nicht zuletzt weil sich die Bedrohungswahrnehmungen ge­wandelt haben und die Interessen mit jenen Israels konvergieren.

Nach einer maßgeblichen Bedrohungsperzeption in Israel und am Golf, die auch von den Führungen in Ägypten und Marokko geteilt wird, weitet der Iran seinen Einfluss im Nahen Osten und im Mittelmeerraum aus. Im Frühjahr 2019 illustrierten irani­sche Angriffe auf Öltanker und im Septem­ber Droh­nen- und Raketenangriffe der mit Teheran verbündeten jemenitischen Huthi-Rebellen auf saudische Ölanlagen, wie verwundbar Riad und Abu Dhabi sind. Im Jemen verzeichneten die Huthis mili­tärische Erfolge. Als bedrohlich sehen die genannten Führungen auch die geostrategischen Ansprüche der Türkei, ihre zunehmend interventionistische Politik im Mit­telmeerraum und ihre Unterstützung von Gruppierungen des politischen Islam an, die insbesondere das Herrschaftsmodell der Golfmonarchien herausfordern.

Israel, Ägypten und die Golfstaaten teilen das sicherheitspolitisch motivierte Interesse, die USA langfristig an die Region zu binden. Außerdem sind sie bestrebt, die wirtschaftliche Erholung nach der Covid-19-Pandemie voranzutreiben. Die arabischen Golfstaaten wiederum suchen ihre Ökonomien (weiter) zu diversifizieren.

Schlussfolgerungen für deutsche und europäische Politik

Im Nahen Osten verfestigt sich eine neue, konfliktträchtige regionale Ordnung. Da­bei haben die (Wieder-)Annäherungen vor allem Vorteile für die jeweils beteiligten Staaten bzw. Herrscherhäuser. Lediglich die Normalisierung des Verhältnisses zwischen Israel und den VAE zeitigt auch spürbare Effekte für die Bevölkerungen im Sinne eines »warmen Friedens«. Ansatzpunkte für die Regelung langanhaltender zwischen- bzw. innerstaatlicher Konflikte oder die Bearbeitung der soziopolitischen Ursachen der Arabischen Aufstände und ihrer desta­bi­lisierenden Wirkungen, etwa auf den Libanon, bieten die Wiederannäherungen dagegen nicht. Vielmehr rufen sie in Dritt­staaten (etwa Algerien, Iran) die Wahrneh­mung einer verschärften Bedrohung hervor.

Die Möglichkeiten für Deutschland und seine Partner in der EU, die Dynamiken in der südlichen Nachbarschaft aktiv zu gestal­ten, sind in Anbetracht der analysierten Dynamiken gering. Je stärker darüber hin­aus die Politikansätze und Prioritäten der EU-Mitgliedstaaten divergieren, desto weni­ger Einfluss können sie entfalten. Daher ist es entscheidend, dass die Europäer und Europäerinnen in prinzipiellen Fragen an einem Strang ziehen. Leitlinie europäischer Politik sollte sein, sich nicht in regionale Rivalitäten hineinziehen bzw. durch ein­seitige Parteinahme von lokalen und regio­nalen Konfliktparteien vereinnahmen zu lassen und bewaffnete Konflikte nicht zu befeuern, etwa durch Waffenlieferungen an Konfliktparteien wie Saudi-Arabien oder die VAE.

Die EU und ihre Mitgliedstaaten können auch nur dann eine vermittelnde Rolle spielen, wenn sie die Interessen und Bedro­hungs­wahrnehmungen aller relevanten Akteure berücksichtigen. Das ist umso wichtiger, wenn sie selbst neue Koopera­tionsformate etablieren oder unterstützen. Das East Mediterranean Gas Forum etwa, das Ägypten, Frankreich, Griechenland, Israel, Italien, Jordanien, Palästina und Zypern zusammenbringt (die EU und die USA sind Beobachter), wird von der Türkei als exklusiver Club wahrgenommen. Seit seiner Gründung im Jahr 2019 hat es in­folgedessen die Spannungen im Mittelmeer­raum verstärkt statt sie abzubauen. In die­sem Zusammenhang wäre es wichtig, die derzeitigen Ansätze zu einer Wiederaufnah­me des Dialogs zwischen Ankara, Athen und Nikosia sowie zwischen Ankara und Kairo durch Vermittlung zu unterstützen.

Der europäische Austausch mit den Staa­ten des Golfkooperationsrates sollte dem größer gewordenen Einfluss der arabischen Golfstaaten angemessen Rechnung tragen. Das würde unter anderem bedeuten, sich nicht nur auf Handelsbeziehungen zu beschränken, sondern den Austausch zu Fragen regionaler Ordnung und Sicherheit auszubauen. Dazu sollte auch ein Dialog gehören, der die Verhandlungen über ein neues Atomabkommen mit Iran begleitet und darauf abzielt, regionale Verständigung zu fördern und wahrgenommene Bedrohungen zu verringern. Ein Ansatzpunkt für die Bearbeitung des saudisch-iranischen Hegemonialkonflikts könnten die Track-two-Gespräche sein, die beide Staaten seit einiger Zeit führen. Ein weite­res wichtiges Thema sollte Syrien sein. Hier sollten die EU und ihre Mitgliedstaaten ihre Bemühungen in erster Linie auf die Ver­besserung der humanitären Lage und der nachhaltigen Stabilisierung Syriens richten, statt sich darauf zu konzentrieren, die von den arabischen Staaten betriebene Reha­bilitierung Syriens zu blockieren. Nicht zuletzt sollten die EU und ihre Mitglied­staaten gemeinsam mit den Staaten des GKR erörtern, wie die Normalisierungs­abkommen mit Israel dafür genutzt werden können, den israelisch-palästinensischen Kon­flikt konstruktiv zu bearbeiten.

Dr. Muriel Asseburg ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.
Sarah Charlotte Henkel, M. A., ist Programm-Managerin im Brüsseler Büro der SWP.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021

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