In Europa wächst die Sorge vor einer militärischen Intervention Russlands in der Ukraine. Neben dem Aufmarsch von rund 100.000 Soldaten in der Nähe der ukrainischen Grenze ist für Februar ein Manöver in Belarus geplant. Was hat Moskau vor? Margarete Klein hält drei Szenarien für möglich.
Die westlichen Regierungen fragen sich zum einen, ob Russland mit dem Truppenaufmarsch in der Nähe der ukrainischen Grenze nur den Forderungen nach einem Ende der Nato-Osterweiterung und dem Rückzug von Nato- und US-Truppen aus den östlichen Mitgliedstaaten Nachdruck verleihen will. Zum anderen steht die Frage im Raum, ob das Scheitern der Gespräche mit den USA und der Nato über Sicherheitsgarantien von vorneherein einkalkuliert ist, um eine ohnehin geplante Intervention in der Ukraine zu rechtfertigen. Die russische Führung spielt mit strategischer Ambivalenz, um eine Antwort zu erschweren: Es kritisiert einen möglichen russischen Einmarsch als westlichen Verschwörungsmythos, bringt zugleich aber eine militärische Antwort ins Spiel, sollten die Gespräche mit den USA und der Nato scheitern. So versucht Moskau, die Russland-Debatte in Europa weiter zu polarisieren und eine einheitliche europäische und transatlantische Antwort zu erschweren.
Vor diesem Hintergrund lohnt sich ein Blick auf den bisherigen Einsatz des russischen Militärs als außenpolitisches Instrument. Daraus lassen sich Schlussfolgerungen hinsichtlich der Kosten-Nutzen-Kalkulation des Kremls ziehen. Erstens stellt die militärische Machtdemonstration ein fest etabliertes Mittel russischer Zwangsdiplomatie dar. So erreichte der russische Präsident Wladimir Putin das erste Gipfeltreffen mit US-Präsident Joe Biden im Mai 2021, nachdem er russische Truppen an die Grenze zur Ukraine verlegt hatte. Zweitens hielt Putin die bisherigen militärischen Interventionen Russlands stets begrenzt – entweder zeitlich oder hinsichtlich der eingesetzten Kräfte. Auf diese Weise vermied er, dass es in der russischen Bevölkerung zu Unmut wegen hoher Gefallenenzahlen oder massiver wirtschaftlicher Kosten kam. Drittens gab es bisher nur einen Fall, in dem eine Militärintervention zur Annexion von Territorium führte: die Eroberung der Krim – eine Mischung aus militärischem Überraschungseffekt, akzeptablen politischen und wirtschaftlichen Sanktionen sowie innenpolitischem Mobilisierungspotential, durch das Putin seine davor stark gesunkenen Zustimmungswerte erheblich verbessern konnte.
Zwar kann nicht automatisch angenommen werden, dass die bisherige Logik militärischer Machtanwendung unverändert weiter gilt. Es gibt aber noch keine ausreichenden Hinweise, dass sich diese grundlegend geändert hätte. Davon ausgehend lassen sich innerhalb der in den Medien diskutierten Optionen drei Szenarien als eher wahrscheinlich identifizieren.
Erstens entspricht es der bisherigen Logik, den Aufmarsch an der Grenze zur Ukraine als Teil von Zwangsdiplomatie zu begreifen, um die USA und die Nato zu substantiellen Zugeständnissen zu bewegen. Die Übung mit Belarus soll den Druck angesichts der stockenden Verhandlungen kurzfristig erhöhen. Scheitern die Gespräche, besteht Eskalationsgefahr. Russlands Führung hat sich mit den Maximalforderungen selbst die Möglichkeit einer gesichtswahrenden Lösung verstellt. Die von den USA und der Nato angebotenen Verhandlungen zur Rüstungskontrolle sowie vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen stuft Moskau als Ergänzung ein, nicht aber als Ersatz ihrer Forderungen.
Zweitens könnte Moskau den Verhandlungsdruck mit einer dauerhaften Stationierung russischer Truppen in Belarus weiter erhöhen. In der Folge wäre Russland leichter in der Lage, die sogenannte Suwalki-Lücke, einen strategisch wichtigen Landkorridor zwischen Polen und Litauen, zu schließen und so die Verbindung der baltischen Staaten zum Rest der Nato zu kappen. Darüber hinaus ließe sich so glaubwürdiger mit einer großen Invasion in der Ukraine drohen. Da es sich bei einer durch den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko erbetenen Stationierung russischer Truppen nicht um einen feindlichen Einfall handeln würde, wären für Moskau keine politischen und ökonomischen Sanktionen zu erwarten, wohl aber verstärkte militärische Rückversicherungsmaßnahmen der Nato für die östlichen Mitgliedstaaten.
Ein drittes Szenario besteht im offenen Einmarsch russischer Truppen im von Separatisten kontrollierten Teil des Donbass. Dafür spricht die Zahl der an der Grenze zusammengezogenen russischen Soldaten. Die militärischen Kosten für Moskau wären gering, da ohnehin pro-russische Kräfte und verdeckt eingesetzte russische Soldaten das Gebiet kontrollieren. Russland müsste mit Sanktionen westlicher Staaten rechnen, diese dürften im Vergleich zu einer umfassenderen Invasion aber noch begrenzt ausfallen. Zwar ist kein der Krim-Annexion vergleichbarerer Zustimmungsschub für Putin zu erwarten. Eine Legitimationskette zum Einmarsch ließe sich aber leicht konstruieren: In den vergangenen Monaten haben ca. 600.000 Bewohner des Donbass russische Pässe erhalten. Zu ihrem Schutz ist der Einsatz der Streitkräfte im Ausland nach russischer Gesetzgebung erlaubt. Äußerungen des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, die Separatistengebiete zurückerobern zu wollen, oder Terrorangriffe durch vermeintlich ukrainische oder westliche Kräfte könnten den Vorwand liefern. Entsprechend der bisherigen Logik ist nicht zu erwarten, dass Russland den Donbass annektiert, sondern als unabhängig anerkennt. Eine entsprechende Initiative wird bereits von der systemtreuen Kommunistischen Partei Russlands (KPRF) vorbereitet. Mit diesem Schritt würde Moskau zwar die Chance verlieren, über einen Autonomiestatus des Donbass eine politische Vetoposition in der Ukraine zu erlangen. Allerdings rechnet es auch ohnehin kaum mehr damit. Mit einer offenen Intervention im Donbass würde Russland zudem Selenskyj in eine prekäre innen- und außenpolitische Lage bringen, in der er zwischen den Forderungen nach einer militärischen Reaktion und den Warnungen, die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen, an Handlungsspielraum und Glaubwürdigkeit verlieren würde. Auch innerhalb der westlichen Staaten ließe sich so die Polarisierung weiter vorantreiben.
Alle anderen militärischen Szenarien – von der Errichtung einer Landbrücke zur Krim bis hin zur Besetzung der ukrainischen Schwarzmeerküste oder weiterer Teile des Landes - sind nicht auszuschließen; sie wären dann aber mit deutlich höheren militärischen und wirtschaftlichen Kosten sowie innenpolitischen Risiken verbunden. Das wäre ein klares Zeichen, dass sich die Kalkulation des Kremls grundsätzlich verändert hätte.
Die russischen Vorschläge für eine europäische Sicherheitsordnung reflektieren eine Rückkehr zum Großmachtdenken. Ob die Bundesregierung auf Moskaus Abkehr vom Prinzip der gemeinsamen Sicherheit angemessen reagieren wird, ist fraglich, meint Markus Kaim.
Zu Jahresbeginn wurde Kasachstan von gewaltsamen Protesten erschüttert. Die von Präsident Tokajew daraufhin initiierte Intervention der OVKS markiert einen Präzedenzfall mit weitreichenden Folgen für den postsowjetischen Raum, argumentieren Margarete Klein und Andrea Schmitz.
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Russia has confronted the EU and the US with the threat of war in Europe, demanding legitimization of its spheres of influence. The way they respond to this challenge will affect how the West is perceived in other regions, including by China, says Dumitru Minzarari.
Tausende Migranten sitzen im Grenzgebiet zwischen Belarus und Polen fest. Und an der Grenze zur Ukraine lässt Russland Truppen aufmarschieren. Wie diese brisanten Konflikte in der Region miteinander verknüpft sind, darüber spricht Dominik Schottner mit Sabine Fischer, Astrid Sahm und André Härtel.
Bereits im März hatte Russland Truppen nahe der Ukraine zusammengezogen. Die dort nun wiederholten Militäraktivitäten sind mehr als nur eine Drohung. Der Westen sollte die Möglichkeit einer weiteren militärischen Intervention Russlands ernst nehmen, meint André Härtel.
Russia Instrumentalises Strategic Stability Risks to Influence US Behaviour
doi:10.18449/2021C41
Um die Lage zu stabilisieren, muss militärische Zurückhaltung vereinbart werden
doi:10.18449/2021A39
Russland setzt viel daran, den Einfluss in seiner Nachbarschaft auszubauen. Der EU ihrerseits gelingt es nicht, Russland in seine Grenzen zu weisen. Dominik Schottner diskutiert mit Ronja Kempin und Susan Stewart über die Frage, mit welchen zum Teil noch ungenutzten Instrumenten die EU Russland wirksam rote Linien aufzeigen könnte.
Risks and Scenarios for a Revised EU Policy
doi:10.18449/2021C27
Ziele, Instrumente und Perspektiven