Der Konflikt zwischen Serbien und Kosovo schwelt seit Jahrzehnten. Als es jüngst wieder zu Spannungen kam, rückte angesichts der aktuellen geopolitischen Lage auch die Rolle Russlands in den Fokus. Marina Vulović stellt dabei drei Fehleinschätzungen fest.
Während des Streits zwischen Serbien und Kosovo Ende vergangenen Jahres war in den europäischen Debatten häufig von Moskaus spalterischer Agenda und Einmischung im Balkan die Rede. Entzündet hatte sich der Konflikt diesmal an einer neuen Kfz-Kennzeichenverordnung der Regierung in Pristina, wonach serbische Autokennzeichen für Städte im Kosovo gegen kosovarische Nummernschilder einzutauschen waren. Es kam zu Straßenblockaden und Schüssen. Obwohl sich die Lage in dem überwiegend von Serben bewohnten Nordkosovo weitgehend entspannt hat, bleibt sie instabil – und die Frage über Russlands Einfluss weiterhin offen und relevant. Bei der Bewertung kommt es allerdings immer wieder zu folgenden drei Fehleinschätzungen.
Fehleinschätzung 1: Putin schürt Konflikt zwischen Serbien und Kosovo
Eine Destabilisierung im Balkan verhindert auch Fortschritte in der Nato- und EU-Integration der Region, und käme somit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zugute. Jedoch sind Serbien und Kosovo für das Entstehen von Konflikten nicht auf Putin angewiesen. Das schaffen sie auch ganz alleine. Spannungen zwischen Belgrad und Pristina gab es bereits lange bevor Putin an die Macht kam.
Serbien sieht Kosovo noch immer als einen Teil seines Territoriums. Die derzeitige Regierung in Pristina wiederum möchte den Norden wie jeden anderen Teil des Kosovos behandeln – trotz ihrer dort de facto fehlenden Souveränität, die sich in den Wegblockaden und Protesten zeigt, die die dort lebenden Serben seit Jahrzehnten als Mittel der territorialen Kontrolle nutzen.
Diese zwei widersprüchlichen Auffassungen – Kosovo als Teil Serbiens und Kosovo als vollkommen souveräner Staat – spiegeln sich in allen bisherigen Krisen im Kosovo wider. Der jüngste Streit um Kfz-Kennzeichen zog Staatlichkeitsfragen nach sich, ebenso wie die jahrelange Weigerung der Kosovo-Regierung die sogenannte Assoziierung der Kommunen mit serbischer Mehrheit zu etablieren, die schon 2013 unter EU-Mediation vereinbart worden war. Diese sollte mehr Autonomie für die serbischen Kommunen garantieren. Da die Regierung in Pristina befürchtet, durch die Etablierung der Gemeinde die Souveränität im Norden nicht durchsetzen zu können, hat sie diese bisher abgelehnt. Sie wolle keine Entität wie die »Republika Srpska« in Bosnien und Herzegowina im Lande haben.
Auch wenn Russland Serbiens Kosovopolitik unterstützt, liegen die Ursachen der häufigen Krisen in der Politik des serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić und neuerdings auch in der Kompromisslosigkeit von Albin Kurti, dem Premierminister Kosovos.
Fehleinschätzung 2: Der Balkan ist ein Schachbrett der Großmächte
Diese Einschätzung ist eine vereinfachte Darstellung von internationalen Beziehungen und spricht den Akteuren im Balkan das Handlungspotenzial ab. Aus Sicht der Balkanländer müssen sie nicht nur zwischen Großmächten balancieren, sondern auch Wege finden, wie sie ihre eigenen Interessen durchsetzen können – auch indem sie Großmächte gegeneinander ausspielen. So behauptet Kurti häufig, dass Russland durch Serbiens Vučić-Regime die Lage im Nordkosovo destabilisiere und Konflikte schüre. Russland reagiert aber eher auf konfliktschürende Aussagen von Vučić und bietet dann seine Unterstützung an, um dem Einfluss des Westens entgegenzuwirken. Des Weiteren sucht Serbien bei spezifischen politischen Fragen aktiv Russlands Unterstützung, zum Beispiel um die Aufnahme von Kosovo in internationale Organisationen zu verhindern. Kosovo nutzt wiederum die angespannte geopolitische Lage, um die USA und EU dazu zu bewegen, gegen die Interessen Serbiens zu handeln und den eigenen EU-Beitrittsprozess zu beschleunigen. Es ist daher kein Zufall, dass Kosovo gerade im Dezember 2022 seinen Antrag auf EU-Mitgliedschaft gestellt hat.
Fehleinschätzung 3: Moskau plant eine zweite Front des Krieges im Kosovo
Ein erneuter Krieg im Kosovo bleibt höchst unwahrscheinlich, solange die Nato mit ihrer Kosovo-Truppe, kurz Kfor, dort präsent bleibt. Die Schutztruppe ist nach einem Beschluss des UN-Sicherheitsrates seit 1999 im Einsatz, um die Sicherheit für alle Gemeinden im Kosovo zu gewährleisten. Serbien würde einen offenen Konflikt – ausgelöst durch einen Angriff auf Kosovo – mit der Nato nicht riskieren. Als Belgrad Ende Dezember seine Armee in die höchste Kampfbereitschaft versetzte, wurden solche Ängste zwar geschürt, das Konfliktpotenzial blieb jedoch wegen der Kfor-Präsenz immer sehr klein. Solche Handlungen Serbiens sind eher im Kontext von Vučićs Krisenpolitik zu betrachten. Sie beschwichtigen die eher nationalistischen Stimmen in der serbischen Politik, die zahlreich sind, und sollen auf Vučićs Image als »starker Anführer« einzahlen, der Krisen bewältigt.
Für Moskau ist der Balkan nicht von so großer Bedeutung wie die ehemaligen sowjetischen Republiken. Obwohl Russland auf seine guten historischen Beziehungen mit Serbien pocht, hat das Land gezeigt, dass es Russland nicht bedingungslos unterstützt. So auch im Falle von Moskaus Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine – ein Prinzip, das als ein Eckpfeiler der serbischen Außenpolitik gilt. Außerdem fehlen Moskau aktuell die Ressourcen, um einen weiteren Krieg in Europa zu unterstützen. Dennoch sind Spannungen im Nordkosovo immer zu erwarten. Diese werden unter anderem durch lokale kriminelle Gruppen geschürt, die von Belgrad unterstützt und für die Destabilisierung der Region genutzt werden. Ein instabiler Norden nutzt den kriminellen Strukturen, um ungehindert ihre Aktivitäten zu betreiben. Er nutzt aber auch Vučić, um seine Handlungsposition im Belgrad-Pristina-Dialog zu verbessern oder politischen Zuspruch in Serbien zu sammeln.
Fazit ist: Russland ist nicht der Verursacher der Spannungen zwischen Serbien und Kosovo, kann aber diese durchaus nutzen, um die EU zu schwächen oder abzulenken, denn sie muss sich an mehreren diplomatischen Fronten gleichzeitig engagieren. Es ist daher entscheidend, so schnell wie möglich ein Normalisierungsabkommen zwischen Serbien und Kosovo zu erwirken. Die intensivierte diplomatische Bemühung der EU und der USA, ein solches Abkommen am Beispiel des Grundlagenvertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR zu erzielen, ist ein sehr guter Schritt, der die Lage entspannen und Russlands Einmischungspotentiale im Balkan minimieren könnte.
Geostrategische Konkurrenz für die EU oder lokale Machtkämpfe?
doi:10.18449/2023A05
doi:10.18449/2022A80
Seit dem 24. Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine – mit Auswirkungen auf globaler Ebene. Ein neues Dossier bündelt Publikationen und Medienbeiträge zum Krieg und seine Folgen.