Schon jetzt sind die sechs Westbalkanländer (WB6) politisch eng mit der EU verbunden. Doch seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine rückt nun auch die Frage einer Annäherung der WB6 an die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) stärker in den Fokus. Die EU sollte dabei die Zusammenarbeit der WB6 mit anderen externen Akteuren, wie Russland, China oder der Türkei, differenziert betrachten. Unter den sechs Staaten gibt es zwei »Ausreißer« – Serbien und Bosnien-Herzegowinas Republika Srpska –, die ihre außen- und sicherheitspolitischen Beziehungen, beispielweise mit Russland, für eigene politische Ziele nutzen. Serbien sucht Unterstützung für seine Kosovo-Politik und die Republika Srpska bemüht sich um Rückhalt für ihre separatistischen Tendenzen. Es ist nicht zu erwarten, dass die WB6 ihre Kooperation mit den genannten externen Akteuren in naher Zukunft komplett einstellen werden. In einer veränderten geopolitischen Lage muss die EU allerdings Prioritäten setzen, um die Ausreißer in GASP-Fragen enger an sich zu binden.
Obwohl die Übereinstimmung der Länder des Westbalkans (WB) mit der GASP überwiegend sehr groß ist, gibt es in der Region doch einige Akteure, die man als Konkurrenten der EU bezeichnen könnte: Russland, China und die Türkei. Die USA treten dort zwar als Partner der Union auf, haben aber unter Präsident Trump gezeigt, dass sie im Balkan mitunter eigene, von der EU abweichende Ziele verfolgen. Deutlich wurde dies zum Beispiel mit dem sogenannten »Washington Agreement« (2020), in dessen Kontext sich Serbien und Kosovo dazu bekannten, ihre Botschaften in Israel nach Jerusalem zu verlegen, ein Schritt, der der GASP der EU zuwiderlaufen würde. Auch die Unterstützung der USA für die Wahlgesetzreform in Bosnien-Herzegowina 2022 stimmt nicht ganz mit der Linie der EU überein. Die USA befürworteten die Gesetzesänderung, weil damit Russland-nahe Parteien geschwächt werden sollten. Die EU war über diesen Vorstoß nicht begeistert, da damit lokale Reformbemühungen durch eine unilaterale Entscheidung des Hohen Repräsentanten untergraben worden wären. Allerdings betrachtet Brüssel die USA derzeit nicht als Konkurrenten im Westbalkan. Beide Akteure handeln meistens komplementär und sind wichtige Partner im Belgrad-Pristina-Dialog. Die Biden-Administration hat erkennen lassen, dass sie zur traditionellen Politik der USA im Balkan zurückkehren will.
Russlands Rolle im Balkan wird oft als die eines Spoilers definiert, das heißt als eines Akteurs, dessen Strategie die Destabilisierung der westlichen liberalen Ordnung ist. Moskau kann in der Region keine signifikante wirtschaftliche oder politische Alternative zur EU bieten. Es ist somit primär daran interessiert, die weitere Integration der Westbalkanstaaten in die EU zu obstruieren und eine Nato-Expansion zu verhindern. Allerdings verfügt Russland besonders in Serbien, in der Republika Srpska und in Montenegro wegen der gemeinsamen Zugehörigkeit zur Orthodoxen Kirche und der damit einhergehenden kulturellen Verbindungen über ausgeprägte »soft power«. Chinas Aktivitäten richten sich hauptsächlich auf den wirtschaftlichen Bereich (beispielweise in Infrastruktur- oder Bergbauprojekten). Es hat dadurch im Balkan aber auch außen- und sicherheitspolitisch an Relevanz gewonnen. Besonders hervorzuheben ist der Handel mit Rüstungsgütern und Chinas Präsenz in Serbiens Überwachungsinfrastruktur. Das Nato-Mitglied Türkei konkurriert in der Region letztlich nicht auf sicherheitspolitischem Terrain mit der EU. Jedoch spielt die Türkei dort im Rahmen von kulturellen Kooperationen ihre ebenfalls vorhandene »soft power« aus.
Außenpolitik, Diplomatie und kulturelle Kooperation
Inhalte und Intensität der außenpolitischen Zusammenarbeit zwischen den WB6 und externen Akteuren lassen sich gut auf der Bühne der internationalen Organisationen betrachten. Von besonderer Bedeutung ist hier der UN‑Sicherheitsrat (SR). Als dessen ständige Mitglieder haben China und Russland beispielweise Serbien unterstützt und die Anerkennung des Kosovo abgelehnt. Mit ihren Vetorechten verhindern China und Russland immer noch eine neue Resolution, die den finalen Status des Kosovo definieren würde. Diese Obstruktion ist ein wichtiger Grund, warum Kosovo von vielen Staaten immer noch nicht anerkannt wurde und es bis jetzt kein UN-Mitglied geworden ist. Allerdings haben fünf EU-Mitgliedstaaten (Spanien, Griechenland, Zypern, Rumänien und Slowakei) Kosovo ebenfalls nicht anerkannt, aus Sorge, Teile ihres Territoriums zu verlieren, in denen große Minderheiten Selbstbestimmung fordern könnten.
Serbien hat 2015 bzw. 2017 auch die Mitgliedschaft Kosovos in der Unesco und bei Interpol verhindern können, indem es sich diplomatisch eng mit Russland und anderen Staaten abgestimmt hat. Solange es keinen internationalen Konsens über den Status Kosovos gibt, wird diese Frage für Serbien immer ein Hebel zur Zusammenarbeit mit Moskau und Peking sein. Auch Russlands Angriff auf die Ukraine hat diese Kooperation nicht bedeutend eingeschränkt: Am Rande der UN-Generalversammlung haben Serbien und Russland am 23. September 2022 einen Konsultationsplan der Außenministerien beider Länder für die nächsten zwei Jahre unterschrieben, ein Akt, den die EU und die USA äußerst negativ aufgenommen haben. Jedoch hat Serbien kürzlich ein ähnliches Abkommen auch mit den USA unterzeichnet. Zwar hat Serbien für einige UN-Resolutionen gestimmt, die die Invasion verurteilen, doch insgesamt ist seine Zustimmung zu den Erklärungen des Hohen Vertreters der GASP von 64 Prozent im Jahr 2021 auf 45 Prozent (2022) gefallen, vor allem da es sich nicht den Sanktionen gegen Russland angeschlossen hat. Das einzige andere WB-Land, das nur mit Einschränkungen mit der GASP übereinstimmt, ist Bosnien-Herzegowina, weil die Republika Srpska für eine neutrale Haltung gegenüber der russischen Aggression plädierte. Alle anderen WB6-Staaten harmonieren zu 100 Prozent mit der GASP. Kosovos Rate wird nicht offiziell gemessen. Sein Anschluss an die Sanktionen hätte aber keine praktische Bedeutung, da es nicht von Russland anerkannt wird.
Russland hat auch kontinuierlich die Arbeit des Peace Implementation Council (PIC) obstruiert, der die Amtsführung des Hohen Repräsentanten für Bosnien-Herzegowina beaufsichtigt. Allein in den fünf Jahren zwischen 2017 und 2022 hat Moskau im UN-SR sein Veto gegen die Ernennung des jetzigen Hohen Repräsentanten Christian Schmidt eingelegt, sich der Erklärung des PIC widersetzt, dass die Republika Srpska kein Recht auf Sezession hat, und die Legitimität der Urteile des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien in Frage gestellt. Russland verfolgt das Ziel, das Büro des Hohen Repräsentanten abzuschaffen und den westlichen Einfluss auf die Institutionen Bosnien-Herzegowinas zu mindern. An dieser Strategie erkennt man Moskaus Potential als Spoiler, die Machthabern wie Milorad Dodik zugutekommt.
Fast alle Länder des Westbalkans pflegen enge kulturelle Beziehungen mit der Türkei. Ankara engagiert sich intensiv bei der Erhaltung des osmanischen Kulturerbes im Balkan und finanziert über das Türkische Präsidium für Internationale Kooperation und Koordination die Renovierung von Denkmälern und Moscheen bzw. den Bau neuer Gotteshäuser in den Teilen der Region, in denen überwiegend Menschen muslimischen Glaubens leben. Dies ist der Fall in der Föderation von Bosnien-Herzegowina, im Sandžak im Südwesten Serbiens und Nordosten Montenegros, im westlichen Teil Nord-Mazedoniens, in Albanien und im Kosovo. Darüber hinaus stellt die Türkei dort Mittel bereit für kulturelle Zentren und für Sprachkursangebote. Auch andere Länder aus dem Mittleren Osten, vor allem Golfstaaten wie Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), investieren in den Bau von Moscheen in Bosnien-Herzegowina oder in Immobilien und touristische Einrichtungen im WB. Ilidža, eine populäre Feriendestination nahe Sarajevo, wird umgangssprachlich auch »Kuwait City« genannt wegen ihres ausgeprägten arabischen Charakters. Bosnien-Herzegowina pflegt gute Beziehungen zu vielen muslimischen Staaten, wie zum Beispiel Malaysia.
Die kulturelle Kooperation zwischen China und dem WB erstreckt sich primär auf institutionelle Einrichtungen wie das Konfuzius-Institut, das es an Universitäten in allen WB-Ländern gibt, außer im Kosovo. Das Konfuzius-Institut wurde in vielen Ländern der EU in den letzten Jahren geschlossen, da es als ein Propaganda-Instrument der Kommunistischen Partei Chinas angesehen wird. In Serbien wird gerade am Ort des Nato-Bombenanschlags auf die chinesische Botschaft im Jahr 1999 ein neues chinesisches Kulturinstitut gebaut. Es wird das größte seiner Art in ganz Europa sein. Serbien unterhält besonders gute kulturelle und außenpolitische Beziehungen zu China, teils wegen der Unterstützung Pekings für die serbische Kosovo-Politik, teils wegen der strategischen Partnerschaft, die seit 2009 zwischen beiden Ländern besteht.
Belgrad hält weiterhin an seiner Ost-West-Balancepolitik fest, die auf der Idee der vier Säulen der serbischen Außenpolitik aufbaut, nämlich gute Beziehungen zu Russland, China, den USA und der EU zu pflegen. Allerdings ist so eine Politik nach der russischen Invasion auf die Ukraine nicht nachhaltig. Nach einer Studie des Belgrade Centre for Security Policy von 2020 wird in Serbien China als zweitwichtigster außenpolitischer Partner wahrgenommen, direkt hinter Russland. Laut derselben Studie beurteilten 90 Prozent der Befragten Chinas Einfluss im Land positiv und 75 Prozent glauben, dass China Serbiens größter Unterstützer im Kampf gegen die Pandemie war. Den Fakten zufolge war der größte Geber die EU, was nur 3 Prozent der Befragten erkennen. Chinas Corona-Diplomatie war in Serbien sehr effektiv, aber man sollte im Auge behalten, dass Serbien sich durch diese Hilfen und durch die Impfstoffspenden und ‑käufe aus Russland, China, aber auch den USA, als regionale Macht profilieren konnte, indem es die Vakzine an seine Nachbarländer, die über keine flächendeckenden Bestände verfügten, weiterreichte.
Was die politische Zusammenarbeit zwischen Parteien oder zwischen einzelnen politischen Persönlichkeiten angeht, stechen Nord-Mazedonien, Serbien, Bosnien-Herzegowina und Montenegro heraus. In Nord-Mazedonien stellte sich nach dem Angriff auf die Ukraine die Oppositionspartei Levica auf die Seite Russlands. Auch die ehemals regierende VMRO-DPMNE mit ihrem früheren Vorsitzenden (und Ministerpräsidenten) Nikola Gruevski pflegt gute politische Beziehungen zu Russland und Putin. Die regierende Serbische Fortschrittspartei (SNS) hat seit 2018 eine Kooperationsvereinbarung mit der russischen Partei Einiges Russland (ER), die de facto von Wladimir Putin geführt wird. Amerikanische Geheimdienste haben im September 2022 einen Bericht vorgestellt, in dem sie behaupten, dass die Demokratische Front Montenegros (DF), die die Regierung zwischen 2020 und 2022 unterstützt hat, und der Präsident der Republika Srpska Milorad Dodik heimlich von Russland finanziert werden. Allerdings sollte betont werden, dass die DF und Dodik sehr eng mit der SNS kooperieren, die Einfluss auf die politische Landschaft in Montenegro und in der Republika Srpska nimmt. Die SNS unter Serbiens Präsident Aleksandar Vučić nutzt ihre Kooperation mit Russland auch dazu, um ihre eigenen Ziele in der Region zu verfolgen.
Was Medienpräsenz und Medienkooperation betrifft, ist als wichtigster Fakt zu nennen, dass Russland in der Region mit dem Sender Sputnik präsent ist, der seit 2015 von Serbien aus arbeitet und dessen Inhalte in fast allen WB-Ländern von lokalen Medien reproduziert werden. Serbien hat eine Medienkooperationsvereinbarung mit China, das auch in Bosnien-Herzegowina durch das Online-Portal China Heute (kina-danas.com) präsent ist. Der türkische öffentlich-rechtliche Sender TRT hat 2022 TRT Balkan gestartet, der in allen Sprachen der Region ausstrahlt.
Sicherheitspolitische Verflechtungen
Wenn man sich die sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen den WB6 und externen Akteuren anschaut, sticht heraus, dass alle Länder außer Kosovo OSZE-Mitglieder und drei davon Nato-Mitglieder (Albanien, Montenegro und Nord-Mazedonien) sind. Kosovo ist ein Spezialfall, da es selbst eine OSZE- und eine Nato-Mission (KFOR) beherbergt, die nach dem Ende des Kosovo-Kriegs 1999 etabliert wurden. Ein enger Verbündeter des Kosovo sind die USA, die sich auch sicherheitspolitisch engagieren, indem sie Kosovos Bestreben unterstützen, eine eigene Armee aufzubauen, auch gegen die Empfehlung der Nato. Die Beziehungen zwischen Pristina und Washington sind seit dem Kosovo-Krieg 1999 eng. Die USA unterstützen Kosovo bei der Wahrung seiner Souveränität (auch in der Verteidigung) seither bedingungslos.
Die anderen zwei Nicht-Nato-Mitglieder Bosnien-Herzegowina und Serbien haben verschiedene Gründe für Ihre Nicht-Zugehörigkeit zum Bündnis. Bosnien-Herzegowinas Ministerrat hat neulich das Reformprogramm ratifiziert, dessen Unterzeichnung ein wichtiger Schritt zur Mitgliedschaft in der Allianz ist. Allerdings blockt die Republika Srpska, die sich an Belgrads Positionen orientiert, seit Jahren den Beitritt. Serbien ist seit 2006 ein militärisch neutrales Land. Seine Bevölkerung unterstützt eine potentielle Nato-Mitgliedschaft nur zu 11 Prozent, 77 Prozent sind dagegen. Dies liegt vor allem an der Bombardierung des Landes durch die Nato während des Kosovo-Kriegs. Dem Westen und der Nato wird auch oft die Schuld gegeben für den Verlust Kosovos. Es ist diese Anti-Nato- und antiwestliche Haltung, die hauptsächlich Belgrads prorussische Politik erklärt. Serbien ist auch Beobachter in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), einem Militärbündnis, das von Russland angeführt wird. Obwohl es mit diesem Status nicht die Verpflichtungen eines Vollmitglieds hat, nimmt serbisches Militärpersonal regelmäßig an militärischen Schulungen der OVKS teil. Serbien beteiligt sich auch regulär an der sogenannten »Slavic Brotherhood«-Übung, einem trilateralen Manöver mit Teilnehmenden der serbischen, russischen und weißrussischen Streitkräfte, das seit 2015 einmal jährlich durchgeführt wird, in den Jahren 2016 und 2019 in Serbien. Zwischen Serbien und Russland besteht seit 2013 auch eine strategische Partnerschaft.
Was Waffenhandel betrifft, ist hervorzuheben, dass Russland innerhalb des WB nur nach Serbien Waffen exportiert. Serbien ist das einzige WB-Land, das von Russland und China Waffen kauft. Es ist auch das einzige WB-Land, das Waffen in die VAE exportiert. Alle Länder außer Nord-Mazedonien kaufen Waffen von den USA, allerdings hat Nord-Mazedonien (zusammen mit Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Kosovo) im September 2022 Waffenspenden von den USA bekommen, bestimmt für Länder, die von Russland bedroht werden könnten. Die Türkei exportiert ihre Waffen in fast alle WB-Staaten. Allerdings importieren diese auch viel aus der EU: Albanien beispielweise aus Italien, Deutschland und Frankreich; Montenegro aus Österreich; Nord-Mazedonien aus Irland; Serbien aus Deutschland und Frankreich.
Ihre Sicherheit organisieren die WB6-Staaten auch innerregional, in Form von bilateralen Verträgen. Mit der Türkei hat Albanien ein militärisches Kooperationsabkommen, Nord-Mazedonien ein Abkommen über militärisch-finanzielle Zusammenarbeit und Montenegro eines über Rüstungskooperation. Die Türkei hat auch technische Ausrüstung an Kosovo gespendet und mit Serbien einen militärischen Rahmenvertrag abgeschlossen. Serbien ist das einzige WB-Land, das militärische Kooperationsabkommen mit Russland und mit China unterzeichnet hat. Diese zwei Vereinbarungen sind substantieller als die Abkommen der anderen Länder mit der Türkei, die sich überwiegend auf den Handel von Verteidigungsgütern, logistische Unterstützung und gegenseitigen Beistand in Notfallsituationen beziehen. Gemäß seinen Verträgen teilt Serbien unter anderem strategische Informationen mit Russland und nimmt an gemeinsamen militärischen Übungen teil. Auch die Republika Srpska nutzt ihre Beziehungen zu Moskau, um ihre separatistischen Ziele zu verfolgen. Sie hat ein Trainingszentrum für die Polizei der bosnisch-serbischen Entität eröffnet, dessen Ausbildungsprogramm von russischen Spezialeinheiten geleitet wird.
Chinas sicherheitspolitisches Engagement in Serbien ist auch nicht zu ignorieren. Besonders zu beachten sind die chinesische Präsenz in der serbischen Überwachungsinfrastruktur, gemeinsame Polizeipatrouillen in serbischen Städten und eine zunehmend intensivere militärische Zusammenarbeit, deren sichtbarster Ertrag zuletzt der Kauf des chinesischen FK-3-Luftverteidigungssystems war. Der EU-Beitrittskandidat Serbien ist für China ein gutes Testobjekt für einen potentiellen Eintritt in den europäischen Verteidigungsmarkt. Dabei sollte Chinas Einfluss auf die Überwachungsinfrastruktur aus sicherheitspolitischer Perspektive als am kritischsten bewertet werden. Im Rahmen des sogenannten Safe-City-Projekts, für das 2011 Serbien einen Vertrag mit dem chinesischen Technologieunternehmen Huawei unterzeichnet hat, wurden 1.000 Überwachungskameras an 800 geheimen Standorten in Belgrad installiert. Ausgestattet mit High-End-Gesichts- und Nummernschilderkennungssoftware öffnen solche Kameras eine technologische Hintertür für China, durch die es in die lokale Infrastruktur eindringen, vertrauliche Daten extrahieren und im schlimmsten Fall auch kritische Bereiche der Daseinsvorsorge lahmlegen kann.
Bedenken in Bezug auf hybride Bedrohungen sollten im Hinblick auf den Ukraine-Krieg nicht ignoriert werden. Sender wie Sputnik verbreiten Desinformationen, die von lokalen russlandaffinen Medien reproduziert werden. Letztere berichten über das Geschehen in der Ukraine vorwiegend aus russischer Perspektive. Zu Anfang des Krieges haben rechtsextreme Organisationen im Balkan zahlreiche Pro-Russland-Kundgebungen abgehalten, zum Beispiel in Belgrad, Banja Luka und Podgorica. Anfang Oktober 2022 waren in Belgrad Reklametafeln mit Putins Gesicht zu sehen, auf denen die konservativ-nationalistische Bewegung »Naši« dem russischen Präsidenten zum Geburtstag gratulierte, mit dem Buchstaben »Z« auf dem Poster. Putin hat eine große Fangemeinde in Serbien und in der Republika Srpska, wo viele konservative bis rechtsextreme Gruppen gute Verbindungen zu Russland haben.
In Serbien gibt es auch fragwürdige Organisationen wie den »Russian-Serbian Humanitarian Center« nahe Niš, circa 250 Kilometer von der Nato-Militärbasis Camp Bondsteel im Kosovo entfernt. Manche westliche Militäranalysten sehen in dem Zentrum einen Spionage-Außenposten des Kremls. Des Weiteren haben Serbien und Russland im Oktober 2020 vereinbart, dass das russische Verteidigungsministerium in Serbien ein Büro eröffnen darf, ein Akt, der potentiell der militärischen Neutralität zuwiderlaufen würde, zu der sich das serbische Parlament 2007 verpflichtet hat. Darüber hinaus gab es Berichte über die Einmischung Russlands in die internen Angelegenheiten von Nord-Mazedonien und Montenegro, vor allem offenbar mit dem Ziel, die beiden Länder von einer Nato-Mitgliedschaft abzuhalten. Diesen Informationen zufolge versuchte Russland schon seit 2008, politischen Zwist in Mazedonien zu stiften, und stand hinter dem mutmaßlichen Putschversuch in Montenegro im Jahr 2016, ein Jahr, bevor das Land Nato-Mitglied wurde. Russland fördert auch die separatistischen Bestrebungen der Republika Srpska und Serbiens Politik im Nordkosovo. Seine Aktivitäten haben durchaus das Potential, diese Regionen zu destabilisieren und die Sicherheit dort zu gefährden.
Allerdings sollte der Einfluss Russlands oder Chinas in all diesen Politikfeldern nicht überschätzt werden, denn die WB6 sind fest in europäische und überwiegend in euro-atlantische Strukturen integriert. Alle Länder sind entweder Kandidaten oder potentielle Kandidaten für den EU-Beitritt und haben Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit der EU unterschrieben. Im Endeffekt sind es überschaubare Kräfte im WB, die die Beziehungen mit Russland und China instrumentalisieren, um ihre politischen Ziele zu erreichen.
Handlungsempfehlungen für die EU
Die WB6 werden nicht aufhören, mit den genannten externen Akteuren zusammenzuarbeiten, solange sie im »Warteraum« der EU sitzen. Doch hat die Kooperation mit Russland seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs eine neue Bedeutung bekommen. Daher stellt sich die Frage, was die EU tun kann, um die Differenzen in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik, die externe Akteure ausnutzen (wozu ihnen lokale Akteure die Bühne bieten) zu überwinden oder zumindest zu verringern. Die Sonderwege, die einige der WB6 auf diesem Politikfeld beschreiten, eröffnen sich hauptsächlich wegen des Fehlens einer realistischen EU-Beitrittsperspektive für diese Länder und das dadurch fehlende Reformengagement in der Region. Die EU sollte daher auf folgende Punkte mehr Aufmerksamkeit verwenden:
1. Erhöhung der Glaubwürdigkeit der EU im WB durch Reformen und Erfüllung von Versprechen. Die EU kämpft im Westbalkan mit einem Verlust an Glaubwürdigkeit, vor allem wegen des aktuellen Stands der Erweiterungspolitik. Kaum ein Land im WB glaubt heutzutage, dass es eine wirkliche Beitrittschance hat, ungeachtet der oft wiederholten Floskeln, wonach die Zukunft des Westbalkans in Europa liege. Die sechs Staaten werden nicht ewig im EU-Warteraum sitzen, ohne mit externen Akteuren zusammenzuarbeiten, von denen sie unmittelbare Vorteile erhalten. In den internationalen Beziehungen nennt man ein solches Absicherungsverhalten »hedging«. Der WB kann nur durch einen absehbaren EU-Beitritt außen- und sicherheitspolitisch enger an die EU gebunden werden, nicht zuletzt weil die Erfüllung des Kapitels 31 (GASP) der Beitrittsverhandlungen eine Voraussetzung für die Aufnahme ist.
Die Erfahrung mit der Konditionalität im Beitrittsprozess war für Nord-Mazedonien und Albanien negativ, denn mit der Weigerung der EU, Verhandlungen mit den zwei Ländern aufzunehmen, hat Brüssel falsche Signale in die Region gesendet. Nämlich, dass Reformen unwichtig sind, sobald es einen EU-Mitgliedstaat gibt, der den Erweiterungsprozess blockieren kann, wie in diesem Fall Bulgarien. Das Beitrittsverfahren muss reformiert werden, nicht nur um die EU wieder glaubwürdiger im WB zu machen, sondern auch um die langfristige Funktionsfähigkeit der EU nach einer eventuellen neuen Erweiterung zu gewährleisten. Die Einführung von Mehrheitsentscheidungen im Rat bei Erweiterungsfragen oder ein schrittweiser EU-Beitritt wären mögliche Lösungen.
2. Strategische Kommunikation der EU im WB. Es ist entscheidend, dass die EU mit einer Stimme im WB kommuniziert – nicht nur für ihre Glaubwürdigkeit, sondern auch um den Einfluss externer Akteure zu minimieren, die den öffentlichen Diskurs durch Desinformationen über die EU prägen können. Das Gebot einer strategischen Kommunikation bezieht sich sowohl auf den Diskurs über die EU im WB, als auch auf den über den WB in den EU-Ländern. Die EU sollte mehr Mittel bereitstellen, um demokratisch orientierte zivilgesellschaftliche Organisationen und unabhängige Medien im WB zu fördern, und darauf achten, dass die Kommunikation zwischen den einzelnen EU-Institutionen im WB besser miteinander abgestimmt ist.
3. Verstärkte EU-Vermittlung beim Normalisierungsabkommen zwischen Serbien und Kosovo, in Kooperation mit den USA. Im November 2022 hat sich wieder gezeigt, dass die Lage im Nordkosovo immer ein Eskalationspotential bergen wird, solange Serbien und Kosovo kein umfassendes Normalisierungsabkommen geschlossen haben. Ein Beispiel ist der Streit um KFZ-Kennzeichen. Die Regierung in Pristina hatte zunächst beschlossen, Serben aus dem Kosovo, die an ihren Fahrzeugen weiterhin in Serbien ausgestellte Nummernschilder für Städte im Kosovo verwenden, zu sanktionieren. Daraufhin verließen die Kosovoserben kollektiv die kosovarischen Institutionen im Norden und in Pristina. Die EU schaffte es nur mit Hilfe der USA, eine Lösung des Konflikts zu vermitteln. Allerdings sind bisher nur die Serben in Pristina ins Parlament zurückgekehrt, im Norden verfolgen sie noch immer ihre Boykottpolitik. Deshalb wäre es wichtig, dass die EU auf der seit 2013 vereinbarten Etablierung des Verbands der Kommunen mit serbischer Mehrheit im Kosovo besteht, denn die Implementierung dieser Organisation könnte die Reintegration der Serben in die Kosovo-Institutionen bewirken. Auch bei den jüngsten Protesten und Straßenblockaden in Nordkosovo im Dezember 2022 hat sich gezeigt, dass die Gemeindevereinigung eine wichtige Rolle bei der Eingliederung der Kosovoserben spielt.
Große Fragen sind aber weiterhin offen, etwa die gegenseitige Anerkennung Serbiens und Kosovos und dessen internationaler Status. Der erste Schritt in die richtige Richtung wurde jüngst mit dem deutsch-französischen Vorschlag gemacht, der für Serbien und Kosovo ein ähnliches Modell vorsieht wie das, welches die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR geregelt hat. Bonn akzeptierte, dass beide deutsche Staaten Mitglieder der UN wurden, ohne dass es die DDR de jure als Staat anerkannte. Die Bundesrepublik konnte also ihre Rechtsauffassung bewahren, musste aber zugleich akzeptieren, dass die DDR auf internationalem Parkett als souveräner Staat auftrat.
Eine derartige Lösung für den Serbien-Kosovo-Normalisierungsprozess könnte bewirken, dass Belgrad seine Bemühungen um russische und chinesische Unterstützung im UN-SR beendet und seine außenpolitische Kooperation mit diesen Akteuren vermindert. Allerdings ist zu beachten, dass – auch wenn ein Normalisierungsabkommen zustande kommt – Russland im SR immer noch sein Veto gegen die Anerkennung Kosovos einlegen könnte, um ein Junktim herzustellen mit der Anerkennung seiner Herrschaft über die Krim oder den Donbas. Das heißt, ein Abkommen könnte Serbiens außenpolitische Abhängigkeit von Russland reduzieren, aber keine Lösung darstellen für Kosovos Streben nach internationaler Anerkennung.
4. Verstärkte EU-Vermittlung bei institutionellen Reformen in Bosnien-Herzegowina. Reformen der Wahl- und Grundgesetzgebung sind notwendig, bevor Bosnien-Herzegowina der EU beitreten oder die EU überhaupt Verhandlungen eröffnen kann. Es ist wichtig, dass diese Novellierungen nicht durch unilaterale Beschlüsse des Hohen Repräsentanten zustande kommen. Christian Schmidts Entscheidung, das Wahlgesetz inmitten des Wahlprozesses zu ändern, hat im Europäischen Parlament und im Deutschen Bundestag negative Reaktionen hervorgerufen. »Local ownership« kann nur durch verstärkte Konsultationen mit allen Parteien (inkl. der nicht-konstitutiven Minderheiten), eventuell sogar auch den Bürgerinnen und Bürgern realisiert werden. Legislative Beschlüsse sollten letztendlich nicht von außen, sondern von innen kommen. Eine Reform des Grundgesetzes sollte auch die unilateralen Handlungspotentiale der Republika Srpska minimieren. Damit würden deren politische Verbindungen mit Russland irrelevanter für die Funktionsfähigkeit des Staates.
5. Durch Alternativen und Anreize Serbiens Übereinstimmung mit der GASP fördern. Diese Strategie könnte beispielweise im Energiesektor verfolgt werden. Für diesen Bereich hat die EU den WB6 schon 1 Milliarde Euro versprochen. Serbien ist nicht nur vom russischen Gas abhängig, sondern auch von Russlands Unterstützung für seine Kosovo-Politik. Dies ist auch der Hauptgrund, warum sich Serbien nicht an die GASP annähert. Eine Möglichkeit, wie man diese Abhängigkeiten mitigieren kann, ist beispielweise die Verstärkung der Investitionen in erneuerbare Energien, die Aufnahme Serbiens in EU-gemeinsame Käufe von Energieträgern und parallel dazu das kontinuierliche Engagement im Normalisierungsprozess mit Kosovo. Die EU sollte im Hinblick auf Serbien zurückhaltend mit Strafmaßnahmen sein, denn das Narrativ, Opfer des »Westens« zu sein, ist in der Gesellschaft tief verankert, weshalb Sanktionen Russland direkt in die Hände spielen könnten. Eine große Mehrheit der Menschen in Serbien betrachtet nach diversen repräsentativen Umfragen Russland als dasjenige Land, auf das sich die eigene Regierung außenpolitisch orientieren sollte. Russland wird auch in den Medien als der positivste Akteur dargestellt (die Haltungen zur EU sind dagegen ausgeglichen). Die Mehrheit der Befragten würde keine Sanktionen gegen Russland mittragen, auch wenn das einen schnelleren EU-Beitritt bedeuten würde. In dieser Stimmung könnten Strafmaßnahmen leicht das prorussische Narrativ im Land – das auch von Präsident Vučić verbreitet wird – verstärken. Die EU muss sich auch fragen, welche Signale sie sendet, wenn sie Serbien erst im Kontext der Sanktionspolitik gegen Russland bestraft statt für seine jahrelange Weigerung, Reformen im Bereich Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit umzusetzen. Es wäre klüger, Druck an bestimmten Stellen wie dem Normalisierungsprozess mit Kosovo auszuüben.
Fazit
Für die WB6 bleibt die einzige realistische Option für institutionalisierte Kooperation immer noch die EU-Mitgliedschaft, da externe Akteure nur so viel außen- und sicherheitspolitisches Handlungspotential haben, wie ihnen durch lokale Defizite geboten wird, wie zum Beispiel die Nichtanerkennung Kosovos von Seiten Serbiens oder die ethnisch organisierte Aufstellung der Institutionen in Bosnien-Herzegowina. Geopolitische Rivalitäten mit Russland dürfen indes nicht dazu führen, dass die unerlässlichen Reformen im WB durch »Easy Fix«-Lösungen überbrückt werden. Das heißt, mit Serbiens Einführung von Sanktionen gegen Russland wird das Kosovo-Problem nicht gelöst. Die EU muss daher intensiver an diesen Fronten arbeiten. Sie sollte auch in viel höherem Maße lokale Akteure wie Vučić oder Dodik als Haupttreiber der prorussischen Politik auf dem Balkan ansprechen, anstatt das Einmischungspotential Russlands dort zu überschätzen. Es braucht am Ende immer Kräfte vor Ort, die sich mit der Politik externer Akteure identifizieren können und sie im eigenen Land relevant machen.
Dr. Marina Vulović ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Geostrategische Konkurrenz für die EU im westlichen Balkan«.
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