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Patt in Georgien

Politische Krise und regionale Veränderungen verlangen Antworten der EU

SWP-Aktuell 2021/A 27, 25.03.2021, 8 Pages

doi:10.18449/2021A27

Research Areas

Spätestens seit den Parlamentswahlen vom Oktober 2020 befindet sich Georgien in einer politischen Pattsituation zwischen Regierung und Opposition. Sie manifestiert sich vor allem darin, dass die große Mehrheit der gewählten Opposi­tionsparteien den Einzug ins Parlament boykottiert. Nicht nur innenpolitisch ist das Land herausgefordert. Der Krieg um Berg-Karabach hat auch die regionale Konstellation verändert. Während sich Russland und die Türkei als einflussreiche Akteure in der Region posi­tioniert haben, war die Euro­päische Union kaum sichtbar. Georgien als einziges Land im Südkaukasus mit klaren euroatlantischen Ambitionen sieht in dieser Veränderung eine potentielle Bedrohung für seinen westlichen Kurs. Tbilisi hegt weiter­hin hohe Erwartungen an die EU, die für sich den Anspruch formuliert hat, ein geopolitischer Akteur zu sein. Beides, der neue regionale Kontext und die georgische innenpolitische Krise, sollten der EU Anlass sein, ihr Engagement in ihrer östlichen Nachbarschaft zu er­höhen und besonders den Beziehungen zum euroatlantisch ausgerichteten Georgien neue Impulse zu verleihen.

Am 6. Januar 2021 kündigte Georgiens da­maliger Pre­mierminister Giorgi Gacharia an, sein Land werde 2024 einen Antrag auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union stellen. Schon Anfang Oktober 2020 hatte sich der stellvertretende Vorsitzende des georgischen Parlaments, Kacha Kutschawa, zuversichtlich ge­äußert: Georgien sei 2024 bereit für einen solchen Schritt. Die Ent­wicklungen in den letzten Wochen und Monaten aller­dings haben dafür gesorgt, dass die Zweifel daran innerhalb der EU stark gewachsen sind. Über 18 Mona­te lang belasteten die gegen­seitigen Anfeindungen der Regie­rungspartei Georgischer Traum und der poli­tischen Opposition, allen voran der früheren Regie­rungspartei Vereinte Nationale Bewegung (VNB), die georgische Politik. Seit den Parla­mentswahlen vom 31. Oktober 2020, von der Opposition als manipuliert bezeich­net, hat sich die Kon­troverse zu einer natio­na­len politischen Krise hochgeschaukelt. Sie mani­festiert sich in erster Linie darin, dass die große Mehr­heit der gewählten Oppositionskandidaten und -kandidatinnen das Parlament boykot­tiert.

Die öffentlich bekundete Absicht der georgischen Regierung, die EU-Mitglied­schaft zu beantragen, fällt in eine Zeit, in der sich die politische Krise im Land weiter ver­festigt hat. Das erlaubt einige Rückschlüsse auf den derzeitigen Stand der EU-Georgien-Beziehungen, ­besonders auf deren Heraus­forderungen. Zwei Dimensionen sind für die Bewertung des aktuellen Ver­hältnisses vor allem in den Blick zu neh­men: die Innenpolitik und ihre Wechselwirkung mit der Außen­politik sowie die Einbettung der Beziehungen in den regio­nalen Kontext, der sich zurzeit neu ordnet.

Innenpolitische Blockade

Katalysator der Krise

Wenn nicht der Ursprung, so doch wesent­licher Katalysator für die aktuelle Blockade zwischen Regierung und Oppo­sition waren die georgischen Parlamentswahlen vom Herbst 2020. Aus ihnen ging der Georgische Traum offiziell als Sieger hervor und erziel­te insgesamt 90 von 150 Sitzen. Zweitstärk­ste Kraft wurde die Ver­einte Nationale Bewegung, die 36 Sitze errang. Die Wahlen fanden in zwei Runden statt, zunächst per Verhältniswahl, dann eine zweite Runde per Mehrheitswahl. Alle Oppositionsparteien boy­kottierten indes die zweite Runde, so dass der Georgische Traum diese allein bestritt. Während internatio­nale Wahl­beobachtungsmissionen den Urnen­gang als kompe­titiv bewer­teten und grundlegen­de Frei­heiten insgesamt gewahrt sahen, stell­ten lokale Watchdog-Organi­sationen erheb­liche Defi­zite und Unregelmäßigkeiten fest. Weil die Wahlen nach Auffassung der Opposition manipuliert waren, nahmen deren Vertrete­rinnen und Ver­treter ihre Mandate aus Pro­test nicht an. Daher began­nen am 11. De­zem­ber 2020 nur die gewähl­ten Repräsentanten und Re­präsentantinnen des Georgi­schen Traums ihre Abgeordneten­tätigkeit. Die Opposition mokierte sich in der Folge über das »Ein­parteien­parla­ment«. Dagegen verurteilte die Regierungspartei den Boykott als Destabilisierung, welche die Opposition vor­sätz­lich herbei­geführt habe. Zwar haben mittler­weile sechs Abgeordnete der gewählten Opposi­tion ihre Verweigerung auf­gegeben und sind ins Parlament eingezogen, aber die große Mehr­heit hält bislang am Boykott fest.

Die der­zeitige Zwickmühle verweist nicht zu­letzt auch auf Debatten über die Aufgaben des Parlaments und unzureichen­de parla­mentarische Kon­trolle. Unter ande­rem mangelnde Erfah­rung in der wirksamen Implementierung von Aufsichtsmechanismen hat verhindert, dass eine entsprechende Parlamentskultur und -praxis zur vollen Entfaltung gekommen ist. Obschon in den letzten Jahren Reformen zur Stärkung der parlamentarischen Kontrolle stattfanden, blieb die Rolle der Opposition dabei zu un­klar definiert. Das hat die Frage aufgeworfen, wie effektiv die gegen­seitige institutionelle Kontrolle ist.

Weiter zugespitzt hat sich die Krise, seit am 23. Februar 2021 der VNB-Vorsitzende Nika Melia festgenommen wurde. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, 2019 bei Straßenprotesten zu Gewalt aufgerufen und dabei eine führende Rolle gespielt zu haben. Die Opposition geißelt das Vorgehen als poli­tisch moti­viert. Im Zusammenhang mit der Festnahme trat Giorgi Gacharia als Premier­minister zurück. An­scheinend hatte er sich innerhalb des Georgischen Traums nicht mit seiner Position durch­setzen kön­nen, dass eine Ver­haftung Melias zur weite­ren politischen Eskalation führen werde. Hinter der aktuel­len Krise stehen indes vor allem auch struk­turelle Herausforderungen.

Strukturelle Herausforderungen

Dauerbaustelle Judikative

Zu den wichtigsten Wahlversprechen des Georgischen Traums im Jahr 2012 gehörte der Slogan »Wiederherstellung der Gerech­tigkeit«. Über die moralische und politische Gerechtigkeit hinaus war damit die Judi­kative angesprochen, die zuvor unter der VNB-Regierung stark poli­tisiert und abhän­gig von der Exekutive war. Seitdem sind neun Jahre vergangen, aber die Politisierung der Rechtsprechung bildet weiterhin eine der größten Herausforderungen Georgiens im Hinblick auf die Gewalten­teilung. Orga­ni­sationen wie dem nationalen Ableger von Transparency International zu­folge ließ sich der Georgische Traum vor den Parla­mentswahlen 2016 auf informelle Absprachen mit dem sogenannten Clan ein, einer Grup­pe einflussreicher Richter und Richte­rinnen. Diese informelle Über­einkunft zur gegen­seitigen Unterstützung habe laut Transparency International bewirkt, dass dieser Kreis seinen Einfluss auf die gesamte Judikative ausdehnte und die Exe­ku­tive stärkeren Zugriff auf diese erhielt. Daraus dürfte auch das mangelnde Vertrau­en der Bevölkerung in die Rechtsprechung resul­tieren: Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2019 hatten nur 5% der Be­fragten volles Vertrauen in die Gerichte. 53% der Befrag­ten vertraten die Position, dass diese unter dem Einfluss der Regierungspartei stehen.

Die Einflussnahme auf die Justiz ist seit Jahrzehnten und damit nicht erst unter dem Georgischen Traum ein wirkungsvolles Instrument der Exekutive, um ihre politi­sche und partikulare Agenda durchzusetzen. Genau dies wirft derzeit die Opposition der Regierung im Fall der Festnahme von Nika Melia vor. Den Gerichtsbeschluss zu Melia bemängelte auch die Ombudsfrau Georgiens, Nino Lomjaria: Die Haftmaßnahme gegen Melia sei weder begründet noch not­wendig.

Polarisierung als Hindernis für Deeskalation

Eine zweite und zentrale innenpolitische Herausforderung für Georgien ist die ex­tre­me Polarisierung in der georgischen Politik und in den Medien. Ein das »Winner-takes-all«-Prinzip begünstigendes Wahlsystem hat bisher zuverlässig dazu geführt, dass die Wahlsieger vor allem ihre eigene Macht festigten, zu Lasten einer effektiven Imple­mentierung des Prinzips der Gewalten­teilung. Das wiederum hat die Konfrontation zwi­schen der Regierungspartei und den Oppo­si­tionsparteien verstärkt, die ihrerseits ihre Anhängerschaft und dadurch Teile der Gesellschaft gegeneinander mobilisierten. Insgesamt ist die vorherrschende politische Kultur in Georgien integrierenden Prinzipien und Prozessen wie Kompromissbereitschaft und Ausgleich, Koalitionsfindung und Machtteilung wenig zuträglich.

Die strukturellen Ursachen für die poli­tische Polarisierung sind vor allem in der Par­teienlandschaft zu suchen. Viele Par­tei­en be­schränken sich in der Regel darauf, vom politischen Tages­geschehen zu profi­tieren, ohne dabei langfristigen, programmatisch unterfütterten Strategien zu folgen. Sie sind oft hier­archisch und wenig demo­kratisch orga­ni­siert. Vor allem die zwei größten und res­sourcenreichsten Parteien des Landes, der Georgische Traum und die VNB, sind be­strebt, Vorteile aus der Polari­sierung zu ziehen. Indem sie den jeweiligen Konkurrenten als Feind präsentierten und dieses Feindbild nährten, versuchten beide, sich als einzige Option im Parteienwettbewerb zu positionieren. Über mehrere Jahre ent­zogen so beide Parteien dem Entstehen alternativer politischer Kräfte den Raum.

Seit Jahren wird der Georgische Traum vom Milliardär und ehemaligen Premierminister Bidsina Iwa­nischwili, die VNB vom einstigen Präsi­denten Micheil Saakaschwili domi­niert. Ihre Rheto­rik ist darauf aus­ge­richtet, die Monopol­stellung im politischen Prozess für sich zu beanspruchen. Damit haben beide in den vergangenen Jahren die politische Zwietracht verstärkt.

Auch die sozialen Netz­werke fungieren als Instrument für Polarisierung und Radi­kalisierung des politischen Spektrums und zumindest eines Teils der Wählerschaft. Politische Akteure nutzen sie als Plattformen, um Desinformation gegenüber politi­schen Rivalen zu betreiben. Zudem agieren die wichtigsten Fernsehsender des Landes in der Regel als Sprachrohre bestimm­ter politischer Gruppierungen. Ihre Bericht­erstattung orientiert sich nicht an Objektivität, sondern zielt darauf, die politische Agenda und die Zwecke politischer Lager populär zu machen. TV-Sender bilden die bei weitem bedeutendste Informations­quelle im Hinblick auf politische Nach­rich­ten und tragen daher in hohem Maße zur Meinungs­bildung bei.

Innenpolitische Kontroverse und die EU

Die innenpolitische Konfrontation lässt die Beziehungen zwischen Georgien und der EU nicht unberührt. Das Streben nach Inte­gration in euroatlantische Institutionen ist seit mehr als 15 Jahren eine Art Grund­orientierung der georgischen Außenpolitik. Der seit 2012 regierende Georgische Traum hat diesen außenpolitischen Kurs seiner Vor­gänger übernommen und weitergeführt. Seit 2016 ist Georgien mit der EU durch ein Assoziierungsabkommen sowie ein vertief­tes und um­fassendes Freihandelsabkommen (DCFTA) verbunden. 2017 wurde in der geor­gi­schen Verfassung das Ziel Mitgliedschaft in EU und Nato verankert. Die Refor­men, die im Zuge der Implementierung des Asso­ziierungsabkommens vorzunehmen sind, betreffen eine Fülle an Politikfeldern und Bereichen. Gleich zu Beginn der Prä­ambel des Abkommens indes heißt es, dass gemein­same Werte wie Demo­­kratie, Rechts­staatlichkeit und Achtung der Menschenrechte das Fundament der Assozi­ierung dar­stellen und dass Georgien sich verpflichtet, diese zu imple­mentieren und zu stärken.

Aktuell aber betrachtet Brüssel die Defi­zite im Bereich der Justiz und die poli­tische Polarisierung im Land als Hauptherausforderungen für Georgiens Annäherung an die EU. In ihrem jüngsten Bericht zur Imple­men­tierung des Assoziierungs­abkommens mahnt die EU daher weitere Anstrengungen in diesen Bereichen an.

Exponierte Rolle für die EU

Auch konkret schlägt sich die poli­tische Krise in Georgien in dessen Beziehungen zur EU nieder. Schon Anfang 2020, nach­dem eine Reform der Wahl­gesetz­gebung im georgischen Parlament gescheitert war, offerierten einige westliche Bot­schaften Raum für Gespräche, um der Re­gierungs­partei und der parlamentarischen Opposition eine Kompromissfindung zu erleichtern. Heute sind abermals Botschaften der EU und einiger Mitgliedstaaten zu­sam­men mit der US-amerikanischen Bot­schaft als Fazili­tatoren aktiv. Nach den Parla­ments­­wahlen vom Oktober 2020 haben sie die zerstrittenen Lager auf deren Bitten erneut zu Ver­handlungen zusammengebracht. Sie sollen mög­lichst in einen Kompromiss münden.

Der Grat allerdings ist schmal für die EU-Repräsentanten, nicht selbst in das Kräfte­messen zwi­schen Regierungspartei und Opposition hineinzugeraten und als Teil der innergeorgischen Auseinander­setzung zu gelten oder dazu gemacht zu werden. Mitte Dezember 2020 etwa wurden aus der VNB und VNB-nahen Kreisen An­würfe gegen westliche Diplomaten und Diplomatinnen laut. Der damalige Vorsit­zende der VNB, Grigol Waschadse, nannte diese Vorhaltungen als einen Grund für seinen darauffolgenden Rückzug aus der Partei. Anfang Februar 2021 zog sich dann der EU-Botschafter den Unmut des Georgi­schen Traums zu. Er hatte es als Verletzung des Datenschutzes kritisiert, dass eine Ab­geordnete der Regie­rungspartei die Telefon­nummer eines VNB-nahen Journalisten öffentlich gemacht hatte. In diesem Fall sahen sich gar Abge­ordnete des Europa­parlaments gezwun­gen, in einer gemeinsamen Stellungnahme ihre Rückendeckung für den EU-Botschafter zu signalisieren. In Reaktion auf kritische Äußerungen, die der Vorsitzende des Auswärtigen Aus­schusses des litau­i­schen Parlaments getätigt hatte, er­klärte zudem der neue georgische Pre­mier­minister Irakli Ghari­baschwili noch am Tag seiner Bestäti­­gung, dem 22. Februar 2021, dass derlei Ein­mischung von außen nicht hin­nehmbar sei.

Von der Fazilitation zur Mediation

Dabei spielt die EU in der innergeorgischen Kontroverse eine immer wichtigere Rolle. Der Präsident des Europäischen Rats, Charles Michel, räumte bei seinem Besuch in Geor­gien An­fang März 2021 ein, es sei an der Zeit, von der reinen Fazilitation zur aktiven Medi­ation überzugehen. Nach seinem Be­such ernannte er zusammen mit dem Hohen Vertreter Josep Borrell den Schweden Chris­tian Danielsson zum Persönlichen Gesandten, der zum Zweck der Mediation nach Tbilisi reiste. Auch an diesen Gesprä­chen ist weiterhin die US-Botschaft betei­ligt. Neben der Frage von Neuwahlen und der Freilassung Melias dürfte es bei den Unterredungen um die Reform der Justiz und der Wahl­gesetzgebung, die Stärkung der parlamentarischen Kontrollfunktion und Möglichkei­ten der De-Polarisierung gehen.

Regionale Rekonfigurationen

Georgiens innenpolitische Turbulenzen fallen zeitlich mit bedeutenden Veränderungen in seiner Nachbarschaft zusammen. Die Eskalation des Konflikts um Berg-Kara­bach zwischen Georgiens Nachbarländern Armenien und Aserbaidschan im Herbst 2020 hat den seit 26 Jahren bestehenden Status quo beendet. Aserbaidschan eroberte weite Teile der Territorien zurück, die seit 1994 von armenischer Seite kon­trolliert worden waren. Seit dem trilateralen Ab­kommen zwischen Baku, Eriwan und Mos­kau vom 10. Novem­ber 2020 sind zudem russische Friedenstruppen in der Konfliktregion stationiert. Darüber hinaus setzten die krie­gerischen Auseinandersetzungen einen Prozess regionaler Rekonfiguration in Gang oder verstärkten ihn, bei dem allen voran Russland und die Türkei eine hervor­gehobene Rolle spielen. Wie sich das Kräfteverhältnis der beiden Regionalmächte im Südkaukasus en détail darstellt und ent­wickelt, ist eine der meistdiskutierten Fragen im Kontext des 44-tägigen Kriegs. Weitestgehend einig sind sich Beobachter und Be­obachterinnen indes darin, dass er die Mängel und Schwächen des EU-Instrumen­tariums deutlich gemacht hat. Nicht wenige sehen überdies die Formel »geopolitische Kommission« der EU zur Worthülse degra­diert, zumal was ihre unmittelbare östliche Nachbarschaft anbelangt.

Georgien in volatiler Nachbarschaft

Georgien ist das einzige Land im Südkaukasus, das mit der EU ein Assoziierungs­­abkommen geschlossen hat und das Lang­zeitziel euroatlan­tische Integration verfolgt. Das Land sieht sich mit mindestens fünf zentralen Veränderungen und Entwicklungsperspektiven in seiner Nachbarschaft konfrontiert. Erstens ist die Bedeutung von Georgiens Nach­barstaaten Russland und Türkei für die anderen beiden Nachbarn Armenien und Aserbaidschan im Kontext der Eskalation vom Herbst 2020 gewachsen. Zweitens nimmt man in Georgien eine Verschlechterung der eigenen sicherheits­politischen Lage wahr: Nach der Stationierung russischer Truppen in Aserbaidschan wird sehr sensibel registriert, dass Georgien, auch angesichts der gestiegenen russischen Dominanz im Schwarzmeerbecken, in geo­graphischer Hinsicht nunmehr von russi­schen Truppen umgeben ist. Drittens stellt sich für Tbilisi die Frage, welche Folgen für Georgien die neue Rolle der Türkei im Südkaukasus und die Entwicklung der tür­kisch-russischen Beziehungen in der Region haben werden. Viertens wird in Georgien diskutiert, welche Auswirkungen die im Abkommen vom 10. November 2020 an­visierte Öffnung regionaler Kommunikations­verbin­dungen, die bislang aufgrund des armenisch-aserbaidschanischen Kon­flikts blockiert waren, auf Georgiens Funk­tion als Transitland und angestrebte Zu­kunft als regionaler Verkehrsknotenpunkt hätte. Fünftens schließlich wird die Stär­kung des russischen Einflusses im Südkaukasus als Faktor wahrgenommen, der Georgiens euroatlantischen Integra­tions­prozess zu­sätzlich bedrohen könnte.

Neuer regionaler Kontext für die EU-Georgien-Beziehungen

All diese (potentiellen) Veränderungen – und wie sie lokal wahrgenommen und inter­pretiert werden – betreffen nicht zu­letzt Georgiens Verhältnis zur EU. Deren Handlungsspielraum im Südkaukasus schwindet, während der Einfluss Russ­lands und der Türkei wächst. Lange etwa galt die Türkei aus Sicht Tbilisis als Partne­rin bei und Wegbereiterin für Geor­giens euroatlan­tische Integration, da sie Nato-Mitglied und EU-Beitrittskandidatin ist. Nun hat Ankara Ende Januar 2021 zusammen mit Teheran eine Kooperationsplattform für die Region im 3+3-Format vorgeschlagen. Neben der Türkei und den drei südkaukasischen Staa­ten soll es die Regionalmächte Iran und Russland einschließen, nicht aber die EU und die USA. Schon nach dem rus­sisch-georgischen Krieg 2008 hatte Ankara ein ähnliches regionales Kooperationsformat in die Debatte gebracht, damals als 3+2-Version ohne Iran. Verwirklicht wurde der Vorschlag freilich nicht. Allerdings waren die (geo-)politischen Bedingungen damals deutlich andere, und zwar nicht nur in der Region, sondern auch im Hinblick auf das türkisch-europäische und das türkisch-ameri­kanische Verhältnis.

Ungleichgewicht Angebot und Nachfrage

Schon seit längerem wird vor allem in der Region selbst, immer öfter aber auch von verschiedenen Akteuren in der EU disku­tiert, ob diese die passenden Angebote für die Länder in der östlichen Nachbarschaft hat, um als Akteurin relevant bleiben zu können. Die jüngste Eskalation im Konflikt um Berg-Karabach hat diesen Diskussionen weiteren Auftrieb verliehen. Als Kerndefi­zite wer­den etwa mangelnde sicherheits­politische Kooperationsangebote sowie die nur be­grenzte Rolle der EU als Akteurin in der Konflikttransformation genannt. Diese Debatten betreffen auch Geor­gien, das sich sowohl mit Fragen natio­naler Sicherheit als auch den ungelösten Konflik­ten mit Ab­chasien und Südossetien kon­frontiert sieht.

Sicherheitspolitische Zusammenarbeit und Engagement bei der Konflikttransformation stehen jedoch in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander: Die Wei­terentwicklung beider Bereiche geht nicht unbedingt und schon gar nicht zwangs­läufig Hand in Hand. So befasst sich die EU vor allem auf der Ebene der unmittelbaren Konfliktparteien (Tbilisi, Suchum/i und Tschin­val/i) mit den Kon­flikten um die ab­trünnigen De-facto-Staaten Abchasien und Südossetien. Georgische Akteure hingegen betrachten die Konflikte meist durch das Prisma der geor­gisch-russischen Konfrontation. Eine enge, möglichst auch sicherheits­politische Anbindung an euroatlantische Institutionen wird in Tbilisi nicht zuletzt als Mög­lichkeit gesehen, sich gegen Russ­land abzusichern. Georgiens engere Ver­knüpfung mit der EU führt allerdings dazu, dass diese in Abchasien und Südossetien kaum als neutrale Konfliktvermittlerin wahrgenommen wird. Das hat zur Folge, dass die EU ihnen gegenüber praktisch keinerlei Einflussmöglichkeiten besitzt.

Obschon nach wie vor limitiert, hat die EU besonders nach dem Augustkrieg von 2008 durchaus versucht, ihr Engagement in der Konflikttransforma­tion auszubauen. Sie tat dies beispielsweise durch die EU Monito­ring Mission sowie den EU-Sonderbeauftrag­ten für den Südkaukasus und die Krise in Georgien, als Co-Vorsitzende bei den Genfer Gesprächen zwischen den in­volvierten Par­teien oder indem sie Maß­nahmen zur Kon­flikttransformation finanziell unterstützte. Zugleich aber haben sich die Spielräume der EU in diesem Bereich weiter verkompliziert. Sie muss hier in einem mehrdimen­sionalen Konfliktsetting agieren, da sich der Konflikt zwischen Georgien, den De-facto-Staaten und Russ­land auf verschiedenen Ebenen entfaltet. Auch das belastete Ver­hältnis zwischen Russland und der EU schmälert die Einwirkungsmöglichkeiten der Union.

Andererseits ist auch die aktuelle innenpolitische Krise in Georgien wenig förder­lich dafür, eigene kon­struktive Politik­ansätze zu formulieren. Das gilt nicht nur, aber auch für den Umgang mit den De-facto-Staa­ten. Zurzeit, so scheint es, werden in Geor­gien (außen-)politische Zielsetzungen zur Geisel der Innenpolitik oder der Verfolgung parti­kularer Machtinteressen. Offensichtlich binden innenpolitische Kon­troversen derart viele Ressourcen, dass die Krise zu Lasten des Outputs geht. Daher dürfte es weder im Interesse Georgiens noch der EU liegen, dass sich die derzeitige Situation verstetigt.

Ausblick

Sowohl die innenpolitische Krise als auch der Wandel des regionalen Umfelds stellen die EU-Georgien-Beziehungen vor Her­aus­forderungen. Dass sich die EU mit Charles Michel auf oberster Ebene aktiv in der innergeorgischen Kontroverse enga­giert, dürfte auch eine Reaktion auf die gerade in den letzten Monaten ge­äußerte Kritik sein, die EU sei in ihrer östlichen Nachbarschaft zu wenig sichtbar. Der Einsatz kann daher als positives Zeichen gewertet werden. Offen­bar wird dies auch in Georgien mehrheitlich so gesehen. Dafür sprechen Äußerungen politischer Akteure sowie von NGO-Vertretern und -Vertreterin­nen, aber auch die Berichterstattung in wichtigen Medien.

Eine solche Form der Mitwirkung von Vertreterinnen und Vertretern der EU und ihrer Mitgliedstaaten in einem assoziierten Partnerland lenkt indes erneut den Blick auf eine Reihe übergeordneter Fragen. Es geht unter anderem darum, wie lokale Konfliktlösungs­mechanis­men nachhaltig gestärkt werden können, wie sich die »Owner­ship« des Reformkurses darstellt und wie es um Symmetrie und Asymmetrie im Verhält­nis zwischen der EU und Geor­gien bestellt ist.

Es ist nicht ohne Risiko, dass sich die EU selbst als Akteurin in der innenpolitischen Auseinandersetzung wiederfindet und da­bei helfen soll, die Defizite des politischen Systems Georgiens zumindest kurz­fristig auszugleichen. Solch ein Engagement be­wirkt nicht automatisch, dass sich lokal verankerte Aus­gleichs- und Kon­flikt­lösungs­verfahren etablieren. Es ebnet deshalb nicht zwangsläufig den Weg zu einer nach­haltigen künf­tigen Krisenvermei­dung. Wird die EU den an sie gerichteten Erwar­tungen nicht ge­recht, hat das zudem womöglich negative Folgen für die Glaub­würdigkeit der EU, sowohl in den Augen der lokalen politischen Elite als auch der georgischen Bevöl­kerung. Die Mediations­tätigkeit der EU wird daher von man­chen bereits als eine Art Lackmustest für die Bedeutung der Union in ihrer Nachbarschaft insgesamt gese­hen. Wie auch immer die Mediation ausgehen wird: Die EU sollte ihr sichtbares Interesse an Georgiens Ent­wicklung auch darüber hin­aus aufrechterhalten. Die der­zeitige Aufmerksamkeit sollte nicht punk­tuell bleiben, denn das könnte sich letztlich als kontraproduktiv herausstellen.

Aus der Europäischen Union heraus wird stets betont, dass Georgien die im Assozi­ierungsabkommen vereinbarten Reformen aus eigenem Interesse umsetzen müsse, denn davon würden schließlich in erster Linie das Land und seine Bevölkerung selbst profitieren. Das dürfte in vielerlei Hinsicht zutreffen, trägt aber dem großen macht­politischen Gefälle zwischen Brüssel und Tbilisi und dem Mehrwert, den eine Annä­herung Georgiens an die EU für diese hat, nicht genug Rechnung. Vielmehr bemäntelt die Betonung des Eigeninteresses der Part­ner, dass auch die EU davon profi­tiert, wenn Länder in ihrer unmittelbaren Nach­barschaft große Teile des EU-Acquis über­nehmen – und das ohne aktuelle Bei­tritts­perspektive. Als die georgische Regie­rung ankündigte, 2024 die EU-Mitglied­schaft zu beantragen, dürfte sie damit unter anderem im Sinn gehabt haben, dem aufwendigen Prozess des »Der-EU-ähn­lich-Werdens« eine konkrete Zielvorstellung zu geben. Bei ihrem Engagement in Geor­gien mit dem Ziel, die innenpolitische Patt­situation aufzulösen und einen Kom­pro­miss zu erreichen, sollte es die EU deshalb nicht bewenden lassen. Darüber hinaus sollte Brüssel über Zukunfts­perspektiven für die gemeinsamen Bezie­hungen nach­denken und dabei Erwartungen und Bedürfnisse der Partner berücksichtigen. Glaubwürdigkeit und Akteurs­qualität der EU in ihrer östlichen Nachbar­schaft hängen nämlich nicht nur von ihrer eigenen Ein­schätzung dessen ab, was sie leistet, sondern auch davon, wie die Part­ner­länder die Aktionen der EU wahrnehmen und bewer­ten. Die Differenz zwischen den Erwartungen beider Seiten, etwa in Bezug auf sicher­heitspolitische Kooperation, En­gagement in der Konfliktbearbeitung und die strategische Vision der Zusammenarbeit, ist proble­matisch. Dieses Pro­blem wird sich nicht von selbst auflösen, auch wenn die EU es möglicherweise nicht angemessen wahrnehmen will, da sie ja immerhin um­fängliche finan­zielle Unter­stützung leistet. Angesichts regionaler Ver­änderungen könnte nicht nur die in­nen­politische Krise Georgiens, sondern auch die skizzierte »Erwartungs­lücke« die Bezie­hungen zwi­schen Georgien und der EU belasten. Oder posi­tiver formu­liert: Aus beidem leitet sich dringender Handlungsbedarf für die EU ab, ihren Bezie­hungen zu Georgien neue Im­pulse und neuen Drive zu geben.

Eine Fülle an Ideen und Vorschlägen da­zu liegt bereits auf dem Tisch. Nicht zuletzt entstammen sie dem breiten Kon­sul­ta­tions­prozess, den die EU-Kommission 2019 mit Blick auf eine Anpassung der Öst­lichen Partnerschaft über 2020 hinaus ins Leben rief. Viele dieser Vorschläge finden sich in den Schluss­folgerungen des Rats zur Öst­lichen Partner­schaft vom 11. Mai 2020 wieder: Stärkung der geteilten »Ownership« und eine maß­geschneiderte bilaterale Ko­operation im Sinne der Diffe­renzierung, mehr Konzen­tration auf das gemeinsame Fundament wie Demo­kratie, Rechtsstaatlichkeit und gute Regie­rungsführung, die Verständigung auf Mei­lensteine und Moni­toring-Mechanis­men, um den Prozess klarer und transparenter zur struk­turieren, die bessere Nutzung von Kondi­tionalität sowie eine ausgeweitete Zusam­men­arbeit im sicherheitspolitischen Bereich und bei der Konfliktbearbeitung.

Es ist also nicht der Man­gel an Ideen, der einem Ausbau des Engagements der EU in ihrer östlichen Nachbarschaft entgegenstände. Dass 2017 das letzte reguläre Gipfel­treffen zur Öst­lichen Partnerschaft statt­gefunden hat und der Termin eines für dieses Jahr anvisierten Treffens nach wie vor aussteht, deutet eher auf mangelndes strategisches Interesse seitens der EU hin.

Es kann daher auch als Aufruf an die Europäische Union verstanden werden, dass die georgische Regierung gerade jetzt über Pläne eines Antrags auf Mitglied­schaft in der EU spricht. Diese sollte sich veranlasst sehen, die eigene langfristige Rolle in der Region neu zu denken und eine strategische Vision für die Beziehungen mit den Ländern dort zu ent­wickeln, allen voran solchen mit dezi­diert euroatlantischer Aus­richtung wie Georgien. Andernfalls läuft sie Gefahr, in der Region weiter an Attrak­tivität zu ver­lieren.

Dr. Franziska Smolnik ist Stellvertretende Leiterin der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien. Dr. Mikheil Sarjveladze ist derzeit Gastwissenschaftler, Giorgi Tadumadze Praktikant in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021

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