Ein Jahr nach dem Putsch sitzt die nigrische Militärjunta fest im Sattel. Um ihre Macht zu sichern, so Lisa Tschörner in diesem Spotlight, mobilisieren die neuen Machthaber die Bevölkerung, inszenieren eine erfolgreiche Abwehr von Bedrohungen und bauen Partnerschaften mit autoritären Staaten aus.
Mitte Juli 2024 in Niger: Knapp ein Jahr nach dem Militärputsch und von vielen seit langem erwartet, präsentieren die neuen Machthaber ihr zukünftiges Regierungsprogramm. Es besteht aus einer politischen Vision von Putschistenführer Abdourahamane Tiani sowie einem vom Wirtschafts- und Finanzministerium veröffentlichten „Resilienzprogramm zur Rettung des Vaterlandes“.1 Beide Dokumente lesen sich wie ein ambitionierter Entwicklungsplan, den auch westliche Geber problemlos unterschreiben könnten: Eigenverantwortung, gute Regierungsführung, Korruptionsbekämpfung und eine unabhängige Justiz sowie Investitionen in Bildung und die Schaffung von Arbeitsplätzen sind zentrale Bestandteile beider Dokumente. Auch vom Aufbau einer „echten“ Demokratie und der Organisation von freien Wahlen ist die Rede.
Mit dem „ergebnisorientierten Ansatz“ hat sogar die Sprache und Funktionslogik der internationalen Entwicklungszusammenarbeit Einzug in das Programm gehalten. Dies ist insofern nicht verwunderlich, als die redaktionelle Verantwortung beim Planungsministerium lag, dessen Kader im Zuge des Militärputsches nicht ausgetauscht wurden. Außerdem waren mit UNDP und USAID auch internationale Geber in die Erarbeitung des Resilienzprogrammes involviert. Ein Vergleich mit den Regierungsprogrammen der demokratisch legitimierten Vorgängerregierungen zeigt sogar, dass Teile der neuen Programmatik paraphrasiert oder gar wortwörtlich aus vorherigen Strategiepapieren übernommen worden sind.2
Die Realität der letzten zwölf Monate spricht hingegen eine andere Sprache. Binnen eines Jahres demontierten die selbsternannten Machthaber die wichtigsten demokratischen Institutionen des Landes, indem sie die Verfassung abschafften, gewählte Volksvertreter absetzten und politische Parteien suspendierten. Unter dem Vorwand einer Transition, deren Ziel die Erneuerung des politischen Systems sei, etablierten sie ein autoritäres Regime, das die Lebensbedingungen der Menschen weiter verschlechtert hat und dessen Ende derzeit nicht in Sicht scheint.
Ein wichtiger Faktor für die Machtkonsolidierung der Militärjunta war die erfolgreiche Mobilisierung der Bevölkerung. Sie gelang durch ein Zweckbündnis der neuen Machthaber mit Teilen der nigrischen Zivilgesellschaft. Diese waren durch das repressive Vorgehen der Vorgängerregierungen zu einem Forum der politischen Opposition geworden.
Eine zentrale Rolle spielte dabei die Bewegung M62, die sich am 3. August 2022, 62 Jahre nach der Unabhängigkeit Nigers, als Bündnis von 15 zivilgesellschaftlichen Organisationen gegründet hat. Zu ihren Mitgliedern gehören auch prominente Anhänger der Oppositionspartei Lumana. Hauptanliegen von M62 war zum Zeitpunkt der Gründung der Protest gegen die Verlegung französischer Truppen von Mali nach Niger. Bis auf eine Ausnahme wurden alle geplanten Demonstrationen der Bewegung unter dem damaligen Präsident Mohamed Bazoum verboten. Im April 2023 verurteilte der Oberste Gerichtshof M62-Anführer Abdoulaye Seydou zu einer neunmonatigen Haftstrafe, nachdem er der nigrischen Armee schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen hatte. Nur wenige Wochen nach dem Putsch wurde Seydou wieder aus der Haft entlassen, nachdem M62 Demonstrationen und nächtliche „patriotische Wachen“ zur Unterstützung der Putschisten organisiert hatte. Die andauernde Sicherheitskrise, eine zunehmende Präsenz ausländischer Truppen und mehrere Korruptionsskandale hatten auch innerhalb der Bevölkerung den Rückhalt der abgesetzten Regierung geschwächt. Mit dem Militärputsch verbanden nun viele die Hoffnung auf politischen Wandel und folgten daher Aufrufen aus der Zivilgesellschaft, den Putsch zu unterstützen.
Für die Mobilisierung der Bevölkerung bedienten sich sowohl die neuen Machthaber als auch ihre zivilgesellschaftlichen Verbündeten einer neo-souveränistischen Rhetorik, die mit dem Scheitern internationaler Stabilisierungsbemühungen in der Region an Popularität gewonnen hatte. Entgegen anti-kolonialer oder panafrikanischer Bestrebungen distanziert sich die neo-souveränistische Rhetorik von universalistischen Vorstellungen wie Demokratie oder Menschenrechten, die als "trojanische Pferde" des Westens abgelehnt werden. Sie propagiert stattdessen die Existenz einer nationalen Gemeinschaft, die sich aus der Abgrenzung gegenüber gemeinsamen Feinden konstituiert. Kernbestandteil ist dabei die Unterscheidung in Patrioten und Vaterlandsverräter, die nicht nur die emotionale Bindung der Massen an das politische Projekt der Junta sicherstellt, sondern zugleich jegliche Form des Hinterfragens oder der Kritik unterbindet.
Mit der Gründung eines "Solidaritätsfonds zur Rettung des Vaterlandes" und der namentlichen Nennung aller Spender*innen forderte die Junta beispielsweise alle Patriot*innen dazu auf, zusammenzustehen. Gemeinsam müssten alle Nigrer*innen zur „wahren“ Souveränität des Landes beitragen und die Auswirkungen der Sanktionen abmildern, die von der Regionalorganisation ECOWAS und Nigers westlichen Partnern als Reaktion auf den Putsch verhängt worden waren.
Gleichzeitig nutzten die neuen Machthaber und ihre Unterstützer*innen den neo-souveränistischen Diskurs aber auch mit Erfolg, um die zahlreichen willkürlichen Verhaftungen oder die massive Beschneidung der Presse- und Meinungsfreiheit zu rechtfertigen.
Um trotz steigender Inflation, explodierender Lebensmittelpreise, wachsender Arbeitslosigkeit und zunehmender Anschläge durch dschihadistische Gruppen ihre Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, inszenierten die neuen Machthaber im Laufe des Jahres immer wieder die erfolgreiche Abwehr externer und interner Bedrohungslagen. Wiederholt warf die Junta dabei Frankreich subversive Destabilisierungsversuche vor, um anschließend ihre eigene Stärke gegenüber der einstigen Kolonialmacht aufzuzeigen. Beweise für die Beschuldigungen wurden dabei entweder gar nicht erst vorgelegt, oder aber durch gezielte Desinformation konstruiert.
So bezichtigten die neuen Machthaber Frankreich beispielsweise öffentlich der Befreiung und der militärischen Ausbildung von Terroristen oder der Planung einer Militärintervention, um sich anschließend für den erzwungenen Abzug des französischen Botschafters und der französischen Militärmission in den Straßen der Hauptstadt Niamey feiern zu lassen.
Später folgte die Fabrikation von Bedrohungsszenarien durch nicht weiter spezifizierte, aber als omnipräsent dargestellte „ausländische Mächte“ oder sogenannte „Agenten Frankreichs“, zu denen neben den Staaten der Regionalorganisation ECOWAS auch die Europäischen Union zählte. So proklamierte die Junta beispielsweise im Oktober 2023, einen spektakulären Fluchtversuch des abgesetzten Präsidenten Bazoum nach Nigeria vereitelt zu haben, der von einer „ausländischen Macht“ orchestriert worden sei. Eine Anfang Februar 2024 in den Abendnachrichten des staatlichen Fernsehsenders Télé Sahel ausgestrahlte Reportage über eine Razzia bei EUCAP Sahel warf wiederum der EU-Trainingsmission vor, illegal Waffen gehortet zu haben, um im Namen Frankreichs das Land zu unterwandern. Das verwendete Bildmaterial von Landminen stammte jedoch aus einem anderen Kontext.
Gleichzeitig nutzte die Junta den Vorwand externer und interner Bedrohungsszenarien, um den Beginn des angekündigten nationalen Dialogprozesses, der über die Dauer der Transitionsphase entscheiden sollte, auf unbestimmte Zeit hinauszuzögern und sich stattdessen den uneingeschränkten Zugang zu staatlichen Ressourcen zu sichern. So wurde beispielsweise im Februar 2024 eine neue Verordnung erlassen, nach der Militärausgaben nicht mehr den Regularien für die öffentliche Auftragsvergabe und damit einer unabhängigen Kontrolle unterliegen. Somit wurde nicht nur der Weg für eine schnellere Abwicklung von Waffenkäufen oder den Einsatz von Söldnern geebnet, sondern auch für die persönliche Bereicherung der neuen Machthaber.
Ein weiteres zentrales Element der Machtkonsolidierung war der Ausbau von Kooperationen mit anderen autoritären Regimen. Dabei stand neben militärischen Partnerschaften auch die Etablierung neuer Wirtschaftsbeziehungen im Vordergrund.
Mit der Gründung der Allianz der Sahelstaaten schloss Niger bereits im September 2023 ein regionales Verteidigungsbündnis mit den Putschregierungen der Nachbarländer Mali und Burkina Faso, um gemeinsam einer möglichen Militärintervention der ECOWAS entgegenzutreten. Vier Monate später verkündeten die drei Länder gemeinsam ihren Austritt aus der Regionalorganisation und beschlossen Anfang Juli 2024 die Bildung einer Konföderation, um in allen Politikfeldern enger zusammenzuarbeiten.
Unter dem Schlagwort der "Diversifizierung" von Partnerschaften warben die neuen Machthaber aber auch auf internationaler Ebene erfolgreich um die Gunst von Autokraten. Anfang Januar 2024 reiste der von der Junta ernannte Premierminister Ali Mahamane Lamine Zeine in Begleitung verschiedener Minister nach Russland, Serbien, in die Türkei und in den Iran.
Russland, das bereits im Dezember 2023 eine Delegation nach Niamey gesandt hatte, um ein neues Militärabkommen mit der Junta zu unterschreiben, schickte Anfang April ein Flugabwehrsystem zur Verteidigung gegen externe Angriffe sowie 100 Militärberater, um die nigrische Armee an dem neuen Waffensystem zu schulen. Die Türkei sicherte sich im Juli 2024 einen lukrativen Vertrag zum Abbau von Bodenschätzen, nachdem die Junta französischen und kanadischen Bergbauunternehmen die Konzessionen für den Abbau von Uran entzogen hatte.
Nigers Militärputsch vom 26. Juli 2023 war bereits die fünfte verfassungswidrige Machtübernahme durch Teile der nigrischen Armee seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1960. Den vorausgegangenen Putsch gegen Präsident Mamadou Tandja im Jahr 2010 bezeichneten viele als korrektiven bzw. pro-demokratischen Putsch. Die Armee sorgte nach einer einjährigen Übergangsphase für die Rückkehr zur demokratischen Ordnung. Dies scheint nicht im Sinne der derzeitigen Machthaber zu sein. Ein Zeitplan für die Organisation von Wahlen ist weder in Tianis politischer Vision, noch im Resilienzprogramm enthalten.
Trotzdem hoffen westliche Geber ein Jahr nach dem Putsch auf eine Normalisierung der Beziehungen mit dem Land, das sie noch vor kurzem als Stabilitätsanker der Region bezeichneten. Schließlich bestehen auch nach dem jüngsten Militärputsch und der anschließenden Suspendierung von Entwicklungs- und Militärhilfen die Interessen für das einstige Engagement weiter fort: Dazu zählen neben der Umsetzung der Agenda 2030 vor allem die Bekämpfung internationaler Terrornetzwerke, die Verhinderung von Migrationsbewegungen und die Eindämmung des zunehmenden geopolitischen Einflusses Russlands.
Politische Entscheidungsträger*innen in Berlin, Brüssel, Washington oder New York sollten sich aber darüber im Klaren sein, dass jegliche Kooperation mit den neuen Machthabern in Niamey Gefahr läuft, deren autoritäre Herrschaft weiter abzusichern.
Lisa Tschörner ist Wissenschaftlerin bei Megatrends Afrika und Teil der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten der SWP.
1 Programme de Résilience pour la Sauvegarde de la Patrie (PRSP)
2 Eine von der Autorin in Auftrag gegebene Analyse verglich das neue Resilienzprogramm (PRSP) mit den unter den Präsidenten Mahamadou Issoufou und Mohamed Bazoum verabschiedeten Programmen Renaissance II und III sowie dem Plan de Développement Economique et Social (PDES) 2022-2026. Die Analyse umfasste die Extraktion und Unterteilung in Einzelsätze aus den PDF-Dokumenten (mittels spaCy, ‘fr_core_news_sm‘), sowie die Umwandlung dieser in ‚word embeddings‘ mittels des ‚sentence-transformer‘-Modells 'paraphrase-multilingual-MiniLM-L12-v2'. Anschließend wurde die semantische Nähe der Sätze aus unterschiedlichen Texten anhand der Kosinusähnlichkeit berechnet. 12,7% der Sätze aus dem PRSP entsprachen mit einem Wert von über 0.9, Sätzen aus dem PDES. Die Autorin bedankt sich bei Paul Bochtler (SWP) für die Erstellung der Analyse.
Niger galt bis zum 26. Juli 2023 als letzter Stabilitätsanker im Sahel. Nun hat sich die vom Westen ausgebildete Armee an die Macht geputscht – und findet dafür Rückhalt in großen Teilen der Bevölkerung. Spannungen im Umgang mit der Sicherheitskrise sowie ein Legitimationsdefizit der Regierung haben den Staatsstreich begünstigt und zu seinem Erfolg beigetragen.
doi:10.18449/2023MTA-KA07
Jihadist groups such as Al-Qaeda and ISIS have gained influence in Niger's Tillabéri region, mobilising local populations with promises of protection and creating opportunities for social upheaval. Understanding these dynamics is crucial for effective political intervention in fragile contexts.
doi:10.18449/2023MTA-WP06