Die Covid‑19-Pandemie hat die Beziehungen zu Subsahara-Afrika weit oben auf die maghrebinische Agenda gesetzt und damit bestehende Tendenzen verstärkt. Marokko hat unter den Maghreb-Staaten die profilierteste Subsahara-Politik vorzuweisen. Eine Rolle spielen dabei attraktive Wachstumsmärkte in Afrika, Frustration über den beschränkten Marktzugang in Europa, die Perspektivlosigkeit der Integration im Maghreb und der Wunsch, die Westsahara möge als marokkanisch anerkannt werden. Marokkos Subsahara-Politik hat Spannungen mit Algerien verschärft und in Tunesien eigene Ambitionen geweckt. Algier als wichtiger Financier und sicherheitspolitischer Akteur in der Afrikanischen Union (AU) sowie »Schutzmacht« der Unabhängigkeitsbewegung der Westsahara versucht, Rabat auszubremsen. Tunis dagegen setzt auf Nachahmung und erhofft sich von engeren Beziehungen zu Afrika mehr Wirtschaftswachstum. Die Europäische Union (EU) sollte diese Tendenzen als Chance für afrikanische Integration und trianguläre EU-Maghreb-Subsahara-Kooperationen verstehen. Dies könnte Marokkos hegemoniale Ansprüche relativieren, Algeriens Gefühl des Bedeutungsverlusts entgegenwirken und Tunesiens Wirtschaft stärken – und damit negative Dynamiken des Wettstreits entschärfen.
Die Afrikapolitiken der Maghreb-Staaten unterscheiden sich maßgeblich in ihrer Intensität, Sichtbarkeit und Motivation sowie ihren Schwerpunkten. Darüber hinaus spiegeln sie die generellen innen- und außenpolitischen Kapazitäten des betreffenden Staates. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der jeweiligen Vermarktung der eigenen Afrikapolitik.
Die progressivste und dynamischste Afrikapolitik der drei Länder betreibt seit geraumer Zeit Marokko. Schon König Hassan II. (1961–1999) hatte die Fühler nach Westafrika ausgestreckt. Aber erst unter der Führung seines Sohns, Mohammed VI. (seit 1999), strebt Marokko danach, wirtschaftlich und diplomatisch eine Schlüsselrolle auf dem afrikanischen Kontinent zu spielen. Mohammed VI. hat die Afrikapolitik zur Chefsache gemacht und unterfüttert sie mit intensiver Reisediplomatie und strategischen Auftritten, etwa beim 5. AU–EU-Gipfel 2017 in Abidjan. Mit seinem Soft-Power-Ansatz, der eine wirtschafts-, entwicklungs-, migrations- und religionspolitische Komponente umfasst, konnte Marokko in den vergangenen Jahren beachtliche Erfolge erzielen. So wurde das Königreich im Januar 2017 nach 33 Jahren wieder in die AU aufgenommen – gegen den Widerstand von Schwergewichten wie Südafrika und Algerien, unterstützt durch zahlreiche kleinere westafrikanische Staaten, aber auch Ruanda. Die Vorgängerorganisation hatte Rabat 1984 aus Protest verlassen, da sie die Westsahara aufgenommen hatte.
Vor allem wirtschaftlich hat Marokko im letzten Jahrzehnt seine Präsenz in Subsahara-Afrika enorm ausgebaut. Es gehört neben Südafrika, Kenia und Nigeria zu den größten afrikanischen Investoren auf dem Kontinent, in Westafrika ist es der größte kontinentale Investor. Hier halten marokkanische Versicherungen, Telekommunikationsfirmen und Banken hohe Marktanteile. Nicht nur nach Westafrika exportiert Marokko zudem Agrar- und Erneuerbare-Energien-Technologie. Zunehmend orientiert sich das Land auch nach Ost- und Zentralafrika, etwa Äthiopien, Ruanda und Kamerun. Seit 2017 verfolgt Rabat überdies den Beitritt zur Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten (ECOWAS), bislang indes erfolglos.
Zentraler Treiber dieser Politik ist das Bestreben, neue Märkte für marokkanische Unternehmen zu eröffnen, darunter insbesondere solche, die von der Königsfamilie kontrolliert werden. Dabei ist der nach wie vor beschränkte Zugang zum EU-Binnenmarkt ebenso von Belang wie die geschlossene Grenze und geringe wirtschaftliche Interaktion mit Algerien. Mindestens gleich wichtig für Marokkos sogenannten »Turn to Africa« ist sein Wunsch, dass sein Anspruch auf die Westsahara anerkannt wird. Eng verbunden damit ist das regionale Kräftemessen mit Algerien – nicht nur weil Algerien als »Schutzmacht« der Polisario, der Unabhängigkeitsbewegung der Westsahara, auftritt. Vielmehr versuchen beide Staaten, Spielräume zu nutzen, die sich neu aufgetan haben, unter anderem durch das Verschwinden des libyschen Herrschers Mu’ammar al-Qadhafi, der in Afrika entwicklungs- und sicherheitspolitisch sowie diplomatisch überaus aktiv war.
Irritation beim Nachbarn Algerien
Die marokkanischen Erfolge auf dem Kontinent im letzten Jahrzehnt können für Algerien fast schon als traumatisch bezeichnet werden – denn Algerien hat die umgekehrte Entwicklung durchlaufen. In den ersten Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit (1962) genoss Algerien in weiten Teilen Subsahara-Afrikas hohes Prestige, das es sich durch militärische, logistische und finanzielle Unterstützung antikolonialer Bewegungen erarbeitet hatte. Auch die enge entwicklungspolitische Kooperation mit jungen Staaten Afrikas und das bedeutende Engagement in der Bewegung der Blockfreien Staaten trugen zum algerischen Standing auf dem Kontinent bei.
Seit dem Bürgerkrieg in den 1990er Jahren, der mit dem Ende der Ordnung des Kalten Krieges zusammenfiel, ist es Algier nicht mehr gelungen, an die vergangene Größe bzw. die Politik der »strategischen Tiefe« in Afrika anzuknüpfen. Eine partielle Ausnahme bildet der sicherheitspolitische Bereich: Hier spielt Algerien innerhalb von AU-Institutionen eine relevante Rolle; ferner hat Algier sich teils erfolgreich als Mediator in afrikanischen Konflikten eingebracht. Als weniger ertragreich erwiesen sich wirtschaftliche Vorstöße unter Präsident Abdelaziz Bouteflika (1999–2019), zum Beispiel eine ambitionierte afrikanische Investitionskonferenz in Algier Ende 2016. Algerien ist zwar Gründungsmitglied des AU-Entwicklungsprogramms NEPAD (jetzt AUDA), aber bisher nicht durch übermäßiges Engagement aufgefallen, obwohl es bis vor wenigen Jahren über erhebliche materielle Ressourcen verfügte.
Was Algeriens Engagement in Afrika seit 2013 behinderte, war die stark angeschlagene Gesundheit Bouteflikas; sie verunmöglichte dessen Reisediplomatie. Dabei hatte er einst als einer der Architekten der frühen Außenpolitik Algeriens und der Unterstützung antikolonialer Bewegungen gegolten.
Sein Nachfolger, Abdelmadjid Tebboune, kündigte bei seinem ersten AU-Gipfel im Februar 2020 »Algeriens kraftvolle Rückkehr nach Afrika« an. Diese dürfte einerseits in dem Bestreben gründen, Marokko das Feld nicht allein zu überlassen. Andererseits sind es die von außen an das Land herangetragenen Sicherheitsherausforderungen, die es nach Süden blicken lassen: die Instabilität in Mali, der Zerfall Libyens, der Migrationsdruck an seinen Südgrenzen und die in Algier misstrauisch beäugte europäische und US-Militärpräsenz im Sahel.
Eine konturierte Afrikastrategie ähnlich der marokkanischen ist bislang jedoch nicht erkennbar. Die Perspektiven dafür sind nicht sonderlich gut: Die algerischen Entscheidungsträger sind mit erheblichen innen- und wirtschaftspolitischen Herausforderungen beschäftigt – zu deren Lösung sie bisher keine Strategie vorlegen konnten.
Aufholbedürfnis in Tunesien
Tunesien schaut seit einigen Jahren ebenfalls vermehrt und neidvoll auf die marokkanische Afrikapolitik. Aus Geschäftskreisen, aber auch in Ministerien ist zu hören, Tunesien könne schließlich vergleichbare oder bessere Expertise anbieten, zum Beispiel im IT‑, Immobilien- oder Bankensektor, bei der technischen Planung großer Infrastrukturprojekte sowie bei Dienstleistungen in den Bereichen Gesundheit und Bildung.
Mit dem Ende des Ben-Ali-Regimes 2011 und nach gut zwei Jahrzehnten, in denen Subsahara-Afrika eine geringe Rolle spielte, erwacht Tunesien allmählich aus seinem Dornröschenschlaf. Die 2011 gewählte Übergangsregierung hat versucht, an das diplomatische Engagement in Afrika von Präsident Habib Bourguiba (1957–1987) anzuknüpfen. Doch geschah dies nur kurzfristig und wenig strategisch. So konnte Tunis etwa die Entscheidung der Afrikanischen Entwicklungsbank (AfDB) von 2013, ihren Sitz nach Abidjan zurückzuverlegen, nicht verhindern.
Dennoch hat sich Tunesien schrittweise wieder stärker Subsahara-Afrika zugewandt. Davon zeugen die Aufnahme, vorerst als Beobachter, in die ECOWAS 2017 und der Beitritt zum COMESA, dem Gemeinsamen Markt Ost- und Südafrikas, 2018. Im Jahr 2017 besuchte der damalige Premierminister Niger, Mali und Burkina Faso. Der seit Herbst 2020 amtierende neue Premierminister Hichem Mechichi kündigte mit Blick auf die afrikanischen Märkte an, wirtschaftliche Diplomatie voranzutreiben.
Letztlich sind es vor allem privatwirtschaftliche Akteure, die eine deutlichere Ausrichtung auf Afrika forcieren, allen voran der Tunisia–Africa Business Council (TABC). Sie knüpfen Kontakte, organisieren Konferenzen und betreiben Lobbying, um die für Investitionen und Exporte erforderlichen juristischen und administrativen Rahmenbedingungen zu schaffen. Dass dies Zeit braucht, liegt an grundlegenden Problemen der jungen Demokratie: einer langsamen Entscheidungsfindung, einem überforderten Parlament, wenig politischer Kontinuität.
Institutionelles Powerplay
Das selbstbewusste Auftreten Marokkos, die Verteidigung alter Errungenschaften in Algerien und das wieder erwachende Interesse Tunesiens schlagen sich auch innerhalb der afrikanischen Institutionen und Organisationen nieder. Seit dem Ende des libyschen Diktators Qadhafi 2011 war Algerien innerhalb der AU unangefochten das maghrebinische Schwergewicht. Mit seinem Beitritt 2017 erwartet Marokko relevante Positionen und Einfluss in AU-Gremien, ist es doch nun mindestens ähnlich gewichtiger Beitragszahler wie Algerien.
Algerien stellt seit bald zwei Jahrzehnten den AU-Kommissar für Frieden und Sicherheit, dem der AU-Friedens- und Sicherheitsrat (PSC) untersteht. In den PSC ist Marokko schon 2018 eingezogen, 2019 hatte es dessen rotierenden Vorsitz inne. In vielen AU-Gremien, in denen Rabat präsent ist, kommt es zu Tauziehen um Formulierungen in Dokumenten, die den Westsahara-Konflikt betreffen (könnten), oder um die Anwesenheit des AU-Mitglieds Republik Sahrawi. Zwar ist es Marokko bislang nicht gelungen, die Polisario aus der AU zu verdrängen. Aber Lagerbildungen haben sich verstärkt. Einflussreiche Länder wie Südafrika schlagen sich weiterhin klar auf die Seite der Polisario, zwölf AU-Mitglieder stützen indes explizit den marokkanischen Anspruch auf die Westsahara, indem sie seit 2019 im von Marokko besetzten Teil ein Konsulat eröffnet haben.
Algerien beherbergt mit dem Terrorismusforschungszentrum der AU (ACSRT) eine wichtige AU-Institution. Nun konnten Marokko und Tunesien nachziehen: Das 2018 neu geschaffene Migrationsobservatorium der AU ist in Rabat ansässig, das statistische Büro der AU in Tunis. Auch in für Afrika relevanten Positionen innerhalb der Vereinten Nationen (VN) gelang Marokko 2020 ein Punktesieg: Es stellt den Vorsitzenden der unabhängigen Untersuchungskommission für Libyen des VN-Menschenrechtsrats. Algeriens Kandidat für den Posten des VN-Sonderbeauftragten für Libyen hingegen scheiterte, allem Anschein nach an den USA. Dies wiederum zeigt, wie der Einfluss der Maghreb-Staaten in Afrika zuweilen über Bande gespielt wird bzw. auch von der Unterstützung externer Akteure abhängt.
Tauziehen um Sicherheitsallianzen
Negative Effekte der algerisch-marokkanischen Konkurrenz sind insbesondere im Sicherheitsbereich erkennbar. Zwar war Algerien durch sein Engagement in Bezug auf den AU-Sicherheitsrat und das ACSRT eine der treibenden Kräfte der Afrikanischen Friedens- und Sicherheitsarchitektur (APSA). Aber trotz der erheblichen und geteilten Sicherheitsherausforderungen im Sahel-Sahara-Raum beteiligen sich an keiner der multilateralen Sicherheitsinitiativen alle drei Maghreb-Staaten gemeinsam, sieht man von der losen Einbindung in die Trans-Sahara Counterterrorism Partnership der USA ab. Vielmehr versuchen Algerien und Marokko, sich separat zu profilieren.
2010 hat Algier in Tamanrasset mit CEMOC ein Gemeinsames operationelles Generalstabskomitee ins Leben gerufen, um mit Mali, Mauretanien und Niger Terrorismus im Sahel zu bekämpfen und die Sicherheitskapazitäten dieser Staaten aufzubauen. Marokko und Tunesien ihrerseits engagieren sich in der noch von Qadhafi gegründeten CEN-SAD, der Gemeinschaft der Sahel-Sahara-Staaten, die auch eine Sicherheitsdimension hat. Aber weder CEN-SAD noch CEMOC spielen im Sahel eine bedeutende Rolle. Sichtbarer sind Initiativen, bei denen externe Akteure involviert sind, wie die G5‑Sahel.
Zwar konnte Algerien im Bereich der Konfliktbeilegung in der Vergangenheit Erfolge verbuchen, etwa mit dem Accord d’Alger für Mali 2015. Doch in jüngerer Zeit macht Marokko Algerien auch diese Rolle streitig. So wurde 2015 im marokkanischen Skhirat das Abkommen zur Etablierung der VN-gestützten Regierung in Libyen unterzeichnet. Im Herbst 2020 verhandelten libysche Konfliktparteien abermals in Marokko, obwohl sich Algerien, zeitweise zusammen mit Tunesien, den Libyern wiederholt als Mediator angeboten hatte und bei wichtigen Konfliktparteien Ansehen genießt. Hier zeigt sich einmal mehr die stärkere Strategie- und Handlungsfähigkeit der vom König bestimmten marokkanischen Politik. Selbst in Mali, wo sich Algerien nach dem Coup d’État im August 2020 schnell als Vermittler zu positionieren beabsichtigte, erschien Marokko bald und bot seine Hilfe an.
Tunesien wiederum versucht vor allem, sich beim Peace-Keeping einen Namen zu machen. 2019 nahm das kleinste Land des Maghreb an fünf Missionen der VN in Subsahara-Afrika teil, etwa an der MINUSMA in Mali. Marokko war 2019 in drei Missionen engagiert, mit teils großen Kontingenten. Algerien schließlich macht im November 2020 mit einer Verfassungsänderung den Weg frei für eine Beteiligung seines Militärs an internationalen Peace-Keeping-Einsätzen, von denen die Mehrheit in Afrika stattfindet. Dies könnte einen maghrebinischen Überbietungswettbewerb lostreten – mit möglicherweise positiven Effekten.
Ungleicher Wirtschaftswettbewerb
Der Sektor, in dem sowohl Algerien als auch Tunesien am meisten Aufholbedarf haben, ist die Wirtschaft. Nicht nur ist Casablanca gemessen am Volumen der größte Finanz-Hub auf dem Kontinent. Beim Handel mit und den Investitionen in Subsahara-Afrika liegt Marokko eindeutig vorn (siehe Graphik).
Die marokkanischen Exporte haben sich zwischen 2005 und 2019 vervierfacht. Tunesien konnte im selben Zeitraum seine Exporte mehr als verdoppeln. Beide Staaten weisen große Handelsbilanzüberschüsse gegenüber Subsahara-Afrika auf. Algerien dagegen importiert deutlich mehr aus Subsahara-Afrika, als es dorthin exportiert. Immerhin ist seit einigen Jahren sein Exportvolumen markant gestiegen und eine sprunghafte Zunahme seiner Importe aus dem südlichen Afrika zu verzeichnen. Beides spricht für wachsende Handelsbeziehungen zu einigen Staaten Subsahara-Afrikas.
Am Ungleichgewicht zugunsten Marokkos dürfte auch die 2019 lancierte panafrikanische Freihandelszone (AfCFTA), an der sich alle drei Maghreb-Staaten beteiligen und die schrittweise in Kraft treten soll, vorerst kaum etwas ändern. Tunesien und Algerien haben (noch) keine Wirtschaftsstrategie für Subsahara-Afrika. Eine weitere Hürde ist die Abwesenheit von Doppelbesteuerungsabkommen und Devisenausfuhrbeschränkungen. Algerien hat zudem den Nachteil einer wenig diversifizierten Exportwirtschaft und wenig kompetitiver Dienstleistungen – ob der von einem Minister im Herbst 2020 für den Export vorgeschlagene öffentliche Bausektor eine Ausnahme bildet, ist unklar. Tunesien hat in den vergangenen Jahren mit der Eröffnung von zwei neuen Botschaften und vier Handelsbüros in Afrika immerhin konkrete Schritte unternommen.
Konnektivität als Schlüssel
Sowohl Algerien als auch Tunesien haben erkannt, dass Marokkos wirtschaftliche Erfolge in Subsahara-Afrika unter anderem in einer vorausschauenden Politik der Konnektivität gründen. Als Folge sind neue Fluglinien von Tunesien nach Subsahara-Afrika eingerichtet und ein algerisch-mauretanischer Grenzübergang geöffnet worden. Letzteres hat Algier als Schritt zur intensiveren Kooperation mit ganz Westafrika gepriesen. Ferner hat Algerien 2020 seinen Teil der Transsahara-Autobahn fertiggestellt; sie soll bis nach Nigeria führen, Tunesien ist gleichfalls an sie angeschlossen. Ob diese Route, wenn sie dereinst im Sahel vollendet ist, eine zentrale Verkehrsader sein wird, hängt maßgeblich von der Stabilität und Sicherheit im Sahel-Sahara-Raum ab.
Marokkos gute Verkehrsverbindungen nach Subsahara-Afrika dürften auf lange Sicht konkurrenzlos bleiben, schon aufgrund der geographischen Lage des Landes. Casablanca ist mit Abstand der größte Flug-Hub im Maghreb, Marokko ist das über Seewege am besten verbundene Land Afrikas; Tanger Med hat sich – gemessen am Containerumschlagsvolumen – als größter Hafen Afrikas etabliert, liegt am Atlantik und gleichzeitig nah am Mittelmeer. Die Seewege von Algerien nach Subsahara-Afrika sind lang, die von Tunesien noch länger. Tunesien hat überdies den Nachteil, dass alle Landwege entweder über libysches oder algerisches Territorium führen. Das heißt, Exportieren ist entweder gefährlich oder angewiesen auf die Kooperationsbereitschaft Algeriens. Für Tunesiens Exportfähigkeit nach Süden ist der Ausbau des Flugverkehrs und der Häfen unumgänglich, trotz des vergleichsweise langen Seewegs.
Rivalitäten existieren auch mit Blick auf die Energietransport-Infrastruktur. Seit Jahrzehnten gibt es Pläne für eine algerisch-nigerianische Gaspipeline. Konkreter scheint indes ein 2016 von Marokko und Nigeria unterzeichnetes Abkommen für eine Pipeline von Nigeria ans Mittelmeer zu sein.
Inwieweit solche Infrastrukturprojekte voranschreiten, hängt nicht zuletzt von der Unterstützung durch nichtafrikanische Staaten ab. Hier kommt insbesondere China ins Spiel, das erkennbar in trilateralen Kooperationen mit Nord- und Subsahara-Afrika denkt. Damit beeinflusst es den maghrebinischen Wettstreit um die Funktion als »Tor zu Afrika«. Bislang war Algerien sogenannter »umfassender strategischer Partner« Pekings im Maghreb. In jüngerer Zeit fokussiert sich China aber verstärkt auf Marokko, zum Beispiel als Produktionsstätte und Exportbasis von Fahrzeugen für ganz Afrika. Auch Russland, traditionell Partner Algeriens, zeigt Interesse an Marokko für trilaterale Kooperationen mit Subsahara-Afrika.
Kampf um die Herzen
Tunesische und algerische Versuche, Marokko das Feld bei Soft-Power-Ansätzen nicht allein zu überlassen, sind noch bescheiden – wie an der externen Kommunikation abzulesen ist. So hat Algerien einen Schuldenerlass von über 3 Milliarden US-Dollar für 14 afrikanische Staaten zwischen 2013 und 2018 medial kaum ausgeschlachtet. Rabats Lieferung von Covid‑19-Schutzausrüstung »made in Morocco« nach Subsahara-Afrika wurde hingegen international viel beachtet.
Aber auch jenseits der Außendarstellung verfolgt Marokkos Subsahara-Strategie einen deutlich raffinierteren Ansatz. Zum einen findet in Marokko viel mehr Forschung zu Afrika statt; schon 1987 gründete der damalige König ein Institut für Afrikastudien und eine wachsende Zahl marokkanischer Think-Tanks beschäftigt sich mit Subsahara-Afrika und Marokkos Rolle in Afrika.
Zum andern äußert sich die Strategie in konkreten Politiken. In der Entwicklungspolitik etwa hat Rabat seit längerem einen Süd-Süd-Schwerpunkt, der klassische Entwicklungshilfe wie Wasserprojekte umfasst. Hier versucht Algerien nachzuziehen. Im Frühjahr 2020 verkündete der algerische Präsident die Gründung einer Entwicklungsagentur für Afrika. Die Tunesische Agentur für technische Zusammenarbeit (ATCT) deckt Afrika bisher nur über ein Büro in Mauretanien ab. Sie erhält in ihren Afrikaaktivitäten aber zunehmend externe Unterstützung, zum Beispiel von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) oder der Türkischen Kooperations- und Koordinationsagentur (TİKA).
Auch in der Bildungspolitik steht Marokko konkurrenzlos da. Es zählte 2019 über 17 000 Studierende aus Subsahara-Afrika, wovon circa die Hälfte ein marokkanisches Stipendium hatte. Algerien beherbergt seit 2014 mit deutscher Unterstützung eine Fakultät der Panafrikanischen Universität (PAU), allerdings mit relativ wenig Studenten; die offizielle Gesamtzahl afrikanischer Studierender in Algerien lässt sich nicht eruieren. In Tunesien halbierte sich gar die Zahl der Studierenden aus afrikanischen Ländern von 12 000 (2010) auf 6 500 (2018).
In der Religionsdiplomatie haben die Nachbarstaaten Marokko nichts entgegenzusetzen. Rabat bildet Imame aus rund zehn afrikanischen Staaten aus. Oftmals nutzt es seine Sufiorden, allen voran die Tidjaniya, die in Westafrika Millionen von Anhängern hat, als Türöffner. Führer der marokkanischen Tidjaniya haben den König und Wirtschaftsdelegationen nach Subsahara-Afrika begleitet. Ein Besuch des marokkanischen Außenministers in Mali nach dem Coup d’État 2020 galt auch dem lokalen Führer der Tidjaniya. Während das Grab des Ordensgründers im marokkanischen Fez zur Pilgerstätte für Gläubige aus Subsahara-Afrika geworden ist, ist es Algier nicht gelungen, aus dessen Geburtsort in Algerien symbolisches Kapital zu schlagen.
Nicht zuletzt hat Marokko mit seiner Migrationspolitik die anderen Maghreb-Staaten in den Schatten gestellt. So hat es seit 2014 Zehntausenden irregulären Migrierenden aus Subsahara-Afrika durch sogenannte Regularisierung temporäre Aufenthaltsgenehmigungen ermöglicht und damit den Zugang zum Arbeitsmarkt, Gesundheitswesen und Bildungssystem. Selbst wenn diese Politik auf dem Papier überzeugender wirkt als in der Umsetzung, hat sie Marokko Goodwill in Subsahara-Afrika verschafft und lässt Algerien und Tunesien im Vergleich dazu weniger gut aussehen. Dabei hat Tunesien ebenfalls einen Meilenstein gesetzt, indem es 2018 als erstes arabisches Land ein Gesetz gegen Rassismus verabschiedete. Letztlich sind tunesische Maßnahmen genauso wie algerische oft nicht sichtbar genug. Marokko verkauft das, was es tut, einfach besser – nach innen und außen.
Grenzen der Afrikapolitiken
Unabhängig von der Konkurrenz untereinander stoßen die Afrikaambitionen der Maghreb-Staaten an Grenzen:
Einerseits werden die Afrikapolitiken der Regierungen von den Gesellschaften nicht mitgetragen; Letztere schauen in der Regel eher nach Europa oder in die arabische Welt. In Marokko ist die Afrikapolitik das Steckenpferd des Königs, findet aber in den Parteien kaum Widerhall. Zivilgesellschaftliche Akteure beklagen, dass in erster Linie Großunternehmer im Dunstkreis der Monarchie profitierten und in Marokko keine Trickle-down-Effekte des Afrikaengagements festzustellen seien. Auch in Algerien ist Indifferenz mit Blick auf Subsahara-Afrika an der Tagesordnung. Lediglich wenige Eliten aus der Unabhängigkeitsbewegung, zivilgesellschaftliche Akteure und visionäre Unternehmer stützen die Afrikapolitik. In Tunesien propagieren primär dynamische privatwirtschaftliche Eliten die Hinwendung nach Süden.
Andererseits treffen die maghrebinischen Ambitionen auch bei Regierungen und Bevölkerungen in Subsahara-Afrika auf Hindernisse. Dabei spielt der im Maghreb verbreitete Rassismus eine Rolle, den die wachsende Migration aus Subsahara-Afrika zutage gefördert hat. Personen aus Subsahara-Afrika sehen sich nicht selten Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt – selbst von offizieller Seite. In Mali und Niger kam es seit 2018 wiederholt zu Demonstrationen gegen die rabiate algerische Abschiebungspolitik. Die Maghreb-Staaten riskieren, als Handlanger europäischer Abschottungspolitik wahrgenommen zu werden.
Die Grenzen seiner Afrikapolitik bekommt Marokko seit 2017 zu spüren: Die Sorge westafrikanischer Staaten vor dessen wirtschaftlicher Übermacht und seinem zuweilen dominanten Auftreten hat seine Aufnahme in die ECOWAS bislang verhindert. Grundsätzlich wird in Subsahara-Afrika am Willen der Maghrebiner gezweifelt, sich voll integrieren, also auf eine Sonderstellung verzichten zu wollen, unter anderem in der Handelspolitik mit Europa. Auf der Wahlliste für die AU-Kommissare 2021 steht nur ein Marokkaner auf wenig aussichtsreichem Platz und weder Algerier noch Tunesier – dies dürfte auch daran liegen, dass viele AU-Mitglieder gegenüber den Maghreb-Staaten Vorbehalte haben.
Denen zum Trotz dürften die Maghreb-Staaten von dem größer gewordenen Bedürfnis profitieren, afrikanische Lösungen für Afrika zu finden. Wegen der Lockdowns und Transportbehinderungen infolge der Covid‑19-Pandemie fordern innerafrikanische Stimmen verstärkt, Abhängigkeiten von externen Akteuren zu reduzieren und rein kontinentale Lieferketten aufzubauen. Gerade Marokko scheint sehr entschieden, hier eine wichtige Rolle einzunehmen und die attraktiven Märkte Subsahara-Afrikas nicht einfach außerkontinentalen Akteuren wie China, Russland, der Türkei sowie europäischen Staaten zu überlassen.
EU: Positive Dynamiken fördern
EU-Politik gegenüber dem Maghreb ist bisher hauptsächlich im Rahmen der Nachbarschafts- oder Mittelmeerpolitik erfolgt. Darüber hinaus kooperieren einzelne EU-Staaten, darunter Deutschland, teilweise eng mit einzelnen Maghreb-Staaten. Der wachsende Fokus sowohl des Maghreb als auch Europas auf Subsahara-Afrika eröffnet neue Perspektiven für alle Akteure. Voraussetzung dafür ist, dass deutsche und europäische wirtschaftliche und politische Akteure ihre Politiken stärker mit Blick auf den gesamten Kontinent und dessen Integration konzeptualisieren; ferner dürfen sie das Interesse des Maghreb an Afrika nicht als Konkurrenz zum Interesse an Europa oder zum eigenen Interesse an Afrika verstehen. Ansätze dazu existieren, etwa im Rahmen des G20 Compact with Africa (CwA).
Afrikanische Integration könnte sich mittelfristig als Motor für die von der EU erwünschte, aber bislang erfolglose maghrebinische Integration erweisen. Erfolgreiche (wirtschaftliche) Integration auf dem Kontinent dürfte auch den Maghreb stabilisieren und liegt somit im Interesse der EU.
Für die EU impliziert die Unterstützung solcher vielversprechender Entwicklungen erstens, verstärkt auf trilaterale Wirtschafts- und Entwicklungskooperationen zu setzen. Konkret kann dies zum Beispiel heißen, maghrebinische Expertise zu nutzen und von ihr zu lernen, nämlich in von Deutschland und der EU unterstützten Wirtschaftspartnerschaften und Entwicklungsprojekten in Subsahara-Afrika. Die Maghreb-Staaten können hier dabei helfen, finanzielle wie technologische Brücken zwischen Europa und Afrika zu bauen bzw. auszubauen.
Daher liegt es zweitens für exporterfahrene Staaten wie Deutschland nahe, den beiden »Nachzüglern« Tunesien und Algerien technische Expertise anzubieten, wenn es darum geht, Strategien zu erarbeiten und die Infrastruktur für den Export lokal produzierter Güter nach Afrika auszubauen. Davon würden nicht zuletzt deutsche und europäische Produzenten im Maghreb profitieren, denen sich dadurch Märkte mit insgesamt rund 1 Milliarde potentiellen Konsumierenden eröffnen. Ein entsprechendes vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) finanziertes Projekt für tunesische Kleine und Mittlere Unternehmen (KMU) läuft bereits. Trilaterale Kooperation kann zudem bedeuten, gemeinsam die Voraussetzungen zu schaffen, um Tunesien als Hub für IT und die Ausbildung von Gesundheitsfachkräften in Afrika zu positionieren – in beiden Bereichen ist Tunis mit führend auf dem Kontinent. Der Zeitpunkt, um Algerien Unterstützung zum Export von Expertise und Gütern anzubieten, ist günstig: Algier ist derzeit zugleich an Exportdiversifizierung und am Ausgleich seines Handelsbilanzdefizites mit Afrika interessiert. Die Regierung steht unter großem Handlungs- und Erfolgsdruck.
Drittens müssen europäische Akteure potentiell negative (Neben-)Effekte europäischer Politiken im Maghreb eindämmen. Beim Migrationsmanagement gilt es, an die Reputation der Maghreb-Staaten zu denken, die eng mit der Behandlung Geflüchteter aus Subsahara-Afrika verknüpft ist. Überdies ist zu beachten, dass das von Europa getriebene neue Grenzmanagement in Afrika innerafrikanische Integration nicht behindern darf. Ebenso sollte Europa die afrikanischen Bemühungen um die AfCFTA ernst nehmen. Beim Verhandeln der bilateralen Freihandelsabkommen mit Marokko und Tunesien sind deren mögliche Folgen für die afrikanische Integration zu berücksichtigen.
Viertens ist wichtig, maghrebinischem Nullsummendenken entgegenzuwirken. Die EU sollte nicht entweder Marokkos oder Algeriens oder Tunesiens Afrikapolitik fördern, sondern die jeweiligen konstruktiven Ansätze. Dies gilt auch für die friedens- und sicherheitspolitischen Engagements der Maghreb-Staaten in Subsahara-Afrika. Im Westsahara-Konflikt ist weiterhin die Linie der Vereinten Nationen zu unterstützen und nicht auf Alleingänge von Frankreich oder Spanien einzuschwenken.
Wenn Europa sich als dezidierter Unterstützer der Annäherung von Nord- und Subsahara-Afrika etabliert und trianguläre Kooperationen forciert, hat es geopolitisch viel gewonnen: Die europäisch-afrikanische Achse würde gestärkt und der Spielraum für andere externe Akteure – wie China, Indien, die Türkei, die Golfstaaten – nicht wie bislang kontinuierlich wachsen.
Dr. Isabelle Werenfels ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika.
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doi: 10.18449/2020A83