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Labours Linksruck verändert auch die britische EU-Debatte

Mit Jeremy Corbyn als neuem Parteiführer hat sich die britische Labour-Partei für einen vollständigen Politikwechsel entschieden. Dieser Umbruch wird auch die Verhandlungen über die Zukunft Großbritanniens in der EU verändern, meint Nicolai von Ondarza.

Kurz gesagt, 14.09.2015 Research Areas

Mit Jeremy Corbyn als neuem Parteiführer hat sich die britische Labour-Partei für einen vollständigen Politikwechsel entschieden. Dieser Umbruch wird auch die Verhandlungen über die Zukunft Großbritanniens in der EU verändern, meint Nicolai von Ondarza.

Schon im ersten Wahlgang haben die Mitglieder und Unterstützer von Labour den langjährigen Parteirebellen Jeremy Corbyn mit knapp 60 Prozent zum neuen Vorsitzenden gewählt. Es war die erste Urwahl dieser Art bei Labour. Angesetzt nach der krachenden Niederlage der Partei bei der Unterhauswahl im Mai dieses Jahres, sollten die Mitglieder eine neue Richtung für die Partei vorgeben. Corbyn galt zunächst als absoluter Außenseiter, der nur nominiert wurde, weil ein kleiner Teil der Labour-Abgeordneten dem linken Flügel der Partei eine Stimme bei der Urwahl geben wollte. Doch Corbyn hat mit einer Mischung aus persönlicher Integrität, dem Ruf nach Rückkehr zu traditionellen Prinzipien von Labour und Anti-Establishment-Rhetorik die Basis überzeugt und damit gegen die bisherige Führung von Labour durchgesetzt. Die Partei steht nun vor einem Neuanfang.

Abkehr vom politischen Erbe von New Labour

Innerparteilich bedeutet die Wahl von Corbyn vor allem eines: Eine Absage an New Labour. Denn der 66-jährige langjährige Abgeordnete ist die Antithese für alles, für das Tony Blair mit seiner Modernisierung der Labour Partei stand. In seinen mehr als dreißig Jahren im Parlament hat Corbyn häufiger als jeder andere Labour-Abgeordnete gegen die Parteiführung gestimmt, unter anderem, als es um den Irak-Krieg und zahlreiche Wirtschaftsreformen ging. So zielt auch jetzt sein Programm auf einen radikalen Politikwechsel ab. Statt Sparpolitik will er zur staatlich gestützten Wachstumspolitik zurückkehren, den britischen Sozialstaat wieder aufbauen und Privatisierungen stoppen; Unternehmen in Schlüsselsektoren wie die Bahn oder Energieversorger möchte er wieder verstaatlichen. Politisch steht er damit Parteien wie Syriza, Podemos oder Die Linke näher als den sozialdemokratischen Parteien Europas. In diesem Sinne hat Corbyn etwa im Juli 2015, während der Verhandlungen mit Griechenland, in London eine Demonstration zur Unterstützung der Syriza-Regierung mitorganisiert und Alexis Tsipras 2012 beim Wahlkampf in Griechenland unterstützt.

Aus europäischer Perspektive ebenso bedeutsam ist der Richtungswechsel, den Corbyn in der Außen-, Sicherheits- und Europapolitik für Labour ankündigt. Besonders hier will er sich vom Erbe Blairs abgrenzen und hat bereits eine Entschuldigung für die britische Beteiligung am Irak-Krieg ankündigt. Corbyn ist ebenso langjähriger Kritiker der NATO, der die transatlantische Allianz und die EU für den Konflikt in der Ukraine (mit)verantwortlich macht, während er die NATO-Osterweiterung als Fehler bezeichnet. Als Parteiführer will er auf eine Reduzierung der Rolle der NATO hinarbeiten.

Zwar lehnt Corbyn die EU nicht vollständig ab wie Nigel Farage von den EU-Gegnern der UK Independence Party, der ihn bereits zu einer Kooperation bei der Austrittskampagne beim geplanten EU-Referendum eingeladen hat. Aber in seiner Kampagne für den Labour-Vorsitz hat Corbyn sich nur nach langem Zögern für den Verbleib in der EU ausgesprochen. Insbesondere das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP lehnt Corbyn kategorisch ab, während er den Umgang mit Griechenland als ökonomischen Kolonialismus bezeichnet hat. Er sieht sich in der Tradition der EU-Skepsis von Labour der 1980er-Jahre und hat sowohl im ersten britischen Referendum 1975 gegen den Verbleib Großbritanniens in der EU als auch im Parlament 2009 gegen die Ratifikation des Lissabonner Vertrags gestimmt.

Neue Komplikationen für die Verhandlungen mit Großbritannien

Corbyn fordert damit eine vollkommen andere Richtung bei der EU-Reform als der britische Premierminister David Cameron. Denn dieser setzt bei den Verhandlungen um die Zukunft Großbritanniens in der EU genau in den Bereichen Prioritäten, die Corbyn an der EU kritisiert: Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, Abbau von Regulierung und Ausbau des Freihandels sind die Stichworte. Obwohl die nächste Parlamentswahl – und damit Corbyns Chance auf Regierungsverantwortung – regulär erst 2020 ansteht, verändert er damit bereits jetzt die Dynamik der Verhandlungen über Großbritanniens Zukunft in der EU.

Denn auf der einen Seite sind die Verhandlungen mit Großbritannien auf einmal mit zwei sich widersprechenden britischen Reformvorstellungen konfrontiert. In dem Maße wie Cameron Deregulierung und mehr Wettbewerbsfähigkeit fordert, will Corbyn die soziale Dimension in der EU stärken und die Union als Schutz gegen die Globalisierung einsetzen. Wo Cameron die Aufnahme von Flüchtlingen ablehnt, fordert Corbyn eine Beteiligung an der Verteilungsquote. Wo die Konservativen den Binnenmarkt und TTIP als die wenigen Vorteile der EU herausstreichen, setzt Corbyns größte Kritik an. Kurzum: Die EU-Verhandlungsführer werden zwangsläufig an einen Punkt kommen, bei dem sie wählen müssen, ob sie bei einer Einigung mit Großbritannien die Konservativen und ihre Wähler oder Corbyn und Labour vor den Kopf stoßen.

Auf der anderen Seite geht Labour damit als natürlicher Verbündeter der EU-Befürworter in Großbritannien bei der bevorstehenden Referendumskampagne verloren. So hat sich die bisherige Labour-Führung ohne Vorbehalte hinter den Verbleib in der EU gestellt. Anders als die Konservativen, die auch unter David Cameron in EU-Fragen tief gespalten sind, war bisher in Brüssel die Devise, dass man auf Labour und seine Wähler beim Referendum bauen könne. Mit Corbyn hat Labour nun aber eine Führung, die sich bei der Volksabstimmung ambivalent äußern dürfte. Sollte sich Cameron mit seiner marktliberalen Reformagenda durchsetzen, könnten sich im schlimmsten Fall Corbyn-Befürworter in Partei und Gewerkschaften sogar aktiv für den Austritt einsetzen. Das politische Erdbeben in der Labour-Partei dürfte damit weit über Großbritannien hinausreichen.

Der Text ist auch bei EurActiv.de und Handelsblatt.com erschienen.