Nach massiven Protesten sah sich Ministerpräsident Benjamin Netanyahu gezwungen, den geplanten Umbau des Justizsystems auszusetzen. Wie es weitergeht, ist unklar. Peter Lintl zeichnet drei mögliche Szenarien.
Die israelische Regierung versucht, eine Justizreform voranzutreiben, die den Obersten Gerichtshof dem Parlament unterordnen und mit ideologisch gleichgesinnten Richtern besetzen soll. Das Parlament würde damit faktisch keiner Kontrollinstanz mehr unterliegen. Israel würde zu einer majoritären Demokratie – und der Tyrannei der Mehrheit wären Tür und Tor geöffnet.
Das Vorhaben hat eine Protestwelle ausgelöst, wie sie das Land noch nie erlebt hatte. Hunderttausende gehen seit Wochen auf die Straße, weil sie um ihre Demokratie fürchten. In der vergangenen Woche spitzte sich die Lage zu: Zunächst forderte Verteidigungsminister Yoav Galant einen Aufschub der Maßnahmen und Gespräche mit der Opposition, weil er in der Situation die Verteidigungsfähigkeit des Landes gefährdet sah. Anfang der Woche rief dann die größte Gewerkschaft des Landes, Histadrut, einen beispiellosen Generalstreik aus. Dieser legte das ganze Land lahm – vom Flughafen über weite Teile des öffentlichen Dienstes bis hin zu Kaufhäusern.
Netanyahu versuchte zunächst, durch die Entlassung Galants der Situation Herr zu werden. Unter dem massiven Druck und wohl auch wegen der Ungewissheit, ob er noch eine Mehrheit für seine Pläne hat, sah er sich dann aber gezwungen, die Reform auszusetzen. Anschließend kündigte er Verhandlungen mit der Opposition an. In einer Rede dazu ging Netanyahu davon aus, dass er zentrale Elemente dennoch verabschieden werde. Dies käme aber einer Quadratur des Kreises gleich: Die Opposition wird massive Änderungen fordern, während die Hardliner seiner Regierung diese kaum akzeptieren werden. Es ist unklar, wie es jetzt weitergehen wird, drei Szenarien scheinen aber möglich.
In der vierwöchigen Sitzungspause im April will die Regierung Gespräche führen, um einen möglichen Kompromiss auszuloten. Auch der Präsident, die Opposition und sogar einige Likud-Mitglieder drängen darauf. Selbst die Ultraorthodoxen haben signalisiert, dass sie jeder Entscheidung Netanyahus folgen werden.
Und gleichwohl scheint ein Kompromiss unwahrscheinlich. Das liegt zum einen an den unterschiedlichen Prioritäten der Koalitionäre: Während für einen Teil der Regierung die Besetzung des Gerichts mit politisch Gleichgesinnten Priorität hat, fordern die Ultraorthodoxen vor allem das Recht des Parlaments ein, dessen Urteile überstimmen zu können. Für die Opposition müssten hingegen alle diesbezüglichen Vorhaben massiv überarbeitet werden, um akzeptabel zu sein und ein unabhängiges Gericht sowie Grundprinzipien liberaler Demokratie zu erhalten. Dies wiederum ist für weite Teile der Regierung schwer akzeptabel – denn die Unterordnung des Gerichts ist eine lang gehegte Vision. Finanzminister Bezalel Smotrich und Sicherheitsminister Ben Gvir haben bereits mit ihrem Rücktritt gedroht, sollte die Reform scheitern. Auch Teile des Likuds um Yariv Levin könnten mit einem für die Opposition tragbaren Kompromiss nur schwer leben.
Ein zweites Szenario wäre, dass Netanyahu nur auf Zeit spielt und anstrebt, den Kern der Justizreform auch ohne größere Kompromisse mit der Regierungsmehrheit durchsetzen zu können – oder auch zu müssen, sollten Verhandlungen mit der Opposition scheitern. Manche Beobachter rechnen auch mit einem Taktikwechsel Netanyahus: Das Paket würde nicht mehr als Ganzes, sondern scheibchenweise und mit kleineren Anpassungen verabschiedet. Das würde weiterhin den Forderungen der Hardliner entsprechen und mag mit der Hoffnung verbunden sein, dass die Proteste nicht noch einmal an Fahrt gewinnen.
Gleichwohl wäre dies ein Rückfall in die Position der harten Konfrontation. Ohne jeden Kompromiss erscheint es unwahrscheinlich, dass die Demonstrierenden nicht wieder auf die Straße gehen – gerade auch vor der Gewissheit, einen Sieg gegen die Netanyahu-Regierung errungen und den einstweiligen Stopp der Regierungspläne erzwungen zu haben.
Zudem würde dies einen weiteren Eskalationshorizont implizieren: Nämlich dass der Oberste Gerichtshof einer Klage dagegen stattgibt und weite Teile der Reform der Judikative zurückweist. Aber auch ein solcher Vorgang wäre beispiellos und würde ungeklärte Fragen aufwerfen: Gibt es verfassungswidrige Verfassungsänderungen und hat das Gericht das Mandat, dies festzustellen?
Damit träte eine Lage ein, in der unklar wäre, welches Recht gilt und durchgesetzt werden muss – und die Legitimität des Obersten Gerichtshofs und der Regierung gleichermaßen massiv beschädigt würde.
Vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen ist auch ein Scheitern der Regierung nicht mehr unwahrscheinlich: Entweder, weil es für die ursprüngliche Reform keine Mehrheit gibt oder weil Netanyahu einen Kompromiss eingeht, den einige in der Regierung nicht mittragen.
Und dennoch: Das Interesse am Fortbestand dieser Koalition ist immens – nicht zuletzt bei Netanyahu. Schließlich gibt ihm nur diese Koalition politischen Spielraum in Bezug auf seine Anklage wegen Korruption. Ein Scheitern würde für Netanyahu einen Kontrollverlust bedeuten.
Zudem ist diese Koalition auch ein lang ersehnter Traum der israelischen Rechten, mit der sie hoffen ihre politischen Visionen umsetzen zu können. Dies betrifft nicht nur die Justizreform, sondern auch den Versuch, die israelische Kontrolle des Westjordanlandes unwiderruflich zu zementieren. Sollte diese Koalition scheitern, würde dies generell das Scheitern rechter Maximalforderungen bedeuten – einschließlich der Idee, den Konflikt gegen die Palästinenser mit Gewalt gewinnen zu können. Und dass sich so eine Hart-Rechts-Koalition in naher Zukunft wiederholt, ist nahezu ausgeschlossen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Regierung in aktuellen Umfragen ihre Mehrheit deutlich verloren hat.
In jedem Szenario steht für die Beteiligten und für die weitere Entwicklung Israels enorm viel auf dem Spiel. Die nächsten Wochen werden für die Demokratie des Staates richtungsweisend sein.
Die neue Regierung verfolgt grundlegende Änderungen der staatlichen Ordnung und im israelisch-palästinensischen Konflikt
doi:10.18449/2023A03
Während die Neuwahlen in Israel mitunter als gelebte Demokratie gefeiert werden, sind sie tatsächlich das Gegenteil: Ein Ausdruck der Instabilität des politischen Systems. Dahinter steht ein Abwehrkampf gegen eine fundamentale Transformation des Landes, meint Peter Lintl.