Indien hat bei den Vereinten Nationen vermieden, Russland wegen seines Angriffskrieges zu verurteilen. Sollte es an seiner Position festhalten, könnte es unter den veränderten geopolitischen Konstellationen zu einem Verlierer des Ukraine-Kriegs werden, meint Christian Wagner.
Indiens Enthaltungen bei den Abstimmungen der Vereinten Nationen (VN) gegen die russische Invasion in der Ukraine haben in vielen westlichen Hauptstädten und Medien Unverständnis ausgelöst. Der Konflikt stürzt Indien in ein kaum auflösbares Dilemma. Zum einen kann es sich nicht leisten, Partei im Konflikt zu ergreifen, ohne selbst massive außenpolitische Probleme zu riskieren, da es in der Auseinandersetzung mit China sowohl gute Beziehungen zu den USA als auch zu Russland benötigt. Zum anderen ist Indiens Enthaltung bei den VN zwar durchaus konsequent, vor allem mit Blick auf seine außenpolitische Maxime der strategischen Autonomie und sein Verhältnis zu Russland, doch könnte diese Position im Westen eine Diskussion über die Grenzen der künftigen Zusammenarbeit mit Indien auslösen. Das Land mag weit vom Kriegsschauplatz entfernt sein, doch die geopolitischen Folgen des Konflikts könnten es auch zu einem Verlierer des Ukraine-Kriegs machen.
Russland ist für Indien der zentrale internationale Partner. Erstens sind Schätzungen zufolge die indischen Streitkräfte zu 60 bis 70 Prozent von russischen Rüstungsgütern abhängig. Trotz der umfangreichen militärischen Zusammenarbeit mit den USA und Israel in den vergangenen Jahren wäre Indien ohne russische Waffentechnologie nicht in der Lage, auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen durch China und Pakistan zu reagieren. Zweitens haben Indien und Russland eine enge energiepolitische Zusammenarbeit. Russland gilt als einer der größten Investoren im indischen Energiebereich. Zugleich befinden sich die größten indischen Auslandsinvestitionen im Öl- und Gassektor in Russland. Drittens gilt Russland für Indien als wichtigster Verbündeter im Sicherheitsrat der VN. Allerdings hat sich Russland in den vergangenen Jahren zunehmend weniger als zuverlässiger Partner gezeigt. So hat es Indien nicht in die Verhandlungen zu Afghanistan einbezogen, seine militärische Zusammenarbeit mit Pakistan verstärkt und auch nicht gegen China interveniert, als es 2019 Kaschmir zu einem Thema im Sicherheitsrat der VN machte.
Die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen zu den USA haben seit dem Ende des Ost-West-Konflikts einen massiven Ausbau erfahren. Die gut ausgebildete und wohlhabende indische Diaspora in den USA hat die Beziehungen zu Indien fest in der amerikanischen Außenpolitik verankert. Die größte und die älteste Demokratie haben gemeinsame geopolitische Interessen, und arbeiten zum Beispiel mit Japan und Australien im Quadrilateralen Sicherheitsdialog (Quad) zusammen, um dem Aufstieg Chinas im Indo-Pazifik zu begegnen. Die USA sind mittlerweile der wichtigste Partner für die Modernisierung der indischen Streitkräfte.
Die westlichen Sanktionen werden Russland wirtschaftlich schwächen und vermutlich zu einer engeren Anbindung an China führen. Indische Experten fürchten bereits, dass sich dies mittelfristig negativ auf russische Rüstungsexporte auswirken könnte, die Indien wiederum in der militärischen Konfrontation gegen China entlang der umstrittenen Grenze benötigt.
Ungemach droht Indien auch von westlicher Seite. Aufgrund der deutlich verbesserten Beziehungen ist es dem Land in den vergangenen Jahren immer wieder gelungen, Ausnahmen von amerikanischen Sanktionen zu erwirken. So konnte Indien ohne Konsequenzen das russische Raketenabwehrsystem S-400 erwerben. Sollte Indien durch amerikanische Sanktionsregime künftig von russischer Energie- oder Militärtechnologie abgeschnitten werden, wäre dies eine massive Einschränkung indischer Sicherheitsinteressen. Sofern die politische Konfrontation zwischen den USA und Russland voranschreitet, könnte auch eine Diskussion über die künftige Rolle Indiens in dieser Auseinandersetzung entstehen. Bislang gilt es als Pfeiler der amerikanischen Indo-Pazifik Strategie mit Blick auf China.
Die Ukrainekrise zeigt auch den außenpolitischen Ambitionen Indiens, zum Beispiel eine Führungsmacht zu sein, klare Grenzen auf. Angesichts der eigenen Interessen und der fehlenden Möglichkeiten, Einfluss auf die Entwicklung zu nehmen, ist wohl am ehesten damit zu rechnen, dass die indische Regierung an einer Politik des »weiter so« beziehungsweise des »Durchwurschtelns« festhält. Die möglichen Reputationsverluste der größten Demokratie – die Verletzung der territorialen Integrität eines Landes durch einen Angriffskrieg seinen engsten Verbündeten de facto in Kauf zu nehmen, in dem auch indische Staatsbürger getötet wurden – sind dabei vermutlich noch das kleinste Problem für Neu-Delhi.
Die Anstrengungen Indiens dürften sich vor allem darauf richten, dass in westlichen Hauptstädten keine Diskussion über die Grenzen der künftigen Zusammenarbeit mit Indien entsteht, sollte die Regierung in Neu-Delhi an ihrer Haltung im Ukrainekonflikt festhalten. Das Festhalten an der bisherigen Balancepolitik könnte unter den veränderten geopolitischen Konstellationen für Indien zu einem unauflöslichen Dilemma werden und Indien zu einem Verlierer des Kriegs in der Ukraine machen.
doi:10.18449/2021S13
Wachsende Gemeinsamkeiten, wachsende Differenzen
doi:10.18449/2021A28