Das Verhältnis zwischen Indien und den westlichen Staaten ist zunehmend von einem Paradox geprägt. Auf der einen Seite hat der Aufstieg des Landes bewirkt, dass beide Seiten vermehrt geostrategische Interessen teilen, etwa im Indo-Pazifik. Auf der anderen Seite wachsen aber auch die Differenzen, weil Neu-Delhi sich innenpolitisch mehr und mehr von westlichen Vorstellungen entfernt – was für die Wirtschaftspolitik ebenso gilt wie für den Zustand der indischen Demokratie. Dieser Wandel berührt das Verhältnis zu Deutschland und Europa, denn die Förderung der indischen Industrie oder die Einschränkung demokratischer Rechte betreffen auch europäische Unternehmen bzw. zivilgesellschaftliche Organisationen. Das jahrzehntelang in Europa und den USA gepflegte Narrativ der Wertepartnerschaft mit Indien wird sich künftig eher an übereinstimmenden strategischen Interessen und weniger an gemeinsamen demokratischen Werten orientieren.
Indiens Aufstieg seit den 1990er Jahren hat das Land zu einem wichtigen Partner westlicher Staaten gemacht. Es unterhält in wachsender Zahl strategische Partnerschaften, kann wirtschaftliche Erfolge vorweisen, hat Gewicht in Global-Governance-Institutionen und beteiligt sich an der Quadrilateralen Gruppe (Quad) – all dies unterstreicht Indiens neue geostrategische Bedeutung. Die Biden-Administration hat bekräftigt, dass das Land ein zentraler Pfeiler der amerikanischen Indo-Pazifik-Strategie sei. Die Europäische Union hat eine Konnektivitätspartnerschaft mit Indien angekündigt, die die ohnehin guten Beziehungen zwischen beiden Seiten auf eine noch breitere Grundlage stellen wird. Die Leitlinien der Bundesregierung zum Indo-Pazifik betonen die Zusammenarbeit mit »Wertepartnern« in der Region, zu denen auch Indien gezählt wird. Neu-Delhi wiederum benötigt den bilateralen Austausch mit westlichen Staaten, um die wirtschaftliche und militärische Modernisierung des Landes voranbringen zu können.
Doch trotz der neuen geostrategischen Gemeinsamkeiten werden die Beziehungen des Westens zu Indien wohl nicht einfacher, sondern schwieriger werden. Grund dafür sind verschiedene innenpolitische Entwicklungen in der weltgrößten Demokratie. Erstens ist dort ein Abbau demokratischer Rechte zu beobachten, seit 2014 Narendra Modi von der Bharatiya Janata Party (BJP) die Regierung übernommen hat. So stufte der Freedom-House-Bericht 2021 die indische Demokratie erstmals seit 1997/1998 wieder nur noch als »teilweise frei« ein. Das schwedische V-Dem Institute erklärt das Land in einem jüngsten Bericht zur »elektoralen Autokratie«. Zweitens verfolgt Neu-Delhi eine neue Wirtschaftspolitik der Eigenständigkeit, die tendenziell darauf zielt, die nationale Industrie zu fördern.
Indiens Demokratie: Einheit vor Vielfalt?
Für ihre Vision eines neuen Indiens wurde die Regierung Modi vom Wahlvolk bestätigt. Bei ihrer Wiederwahl 2019 gewann sie mit 303 Sitzen (37 Prozent) eine noch größere absolute Mehrheit als beim Wahlsieg 2014, als sie 282 Sitze (31 Prozent) erhielt. Von ihren drei zentralen Versprechen aus dem letzten Wahlkampf hat die BJP bislang zwei umgesetzt. Erstens fielen die Sonderrechte für den Bundesstaat Jammu und Kaschmir weg; er wurde im Augst 2019 in zwei Unionsterritorien umgewandelt. Zweitens ermöglichte ein Urteil des Obersten Gerichts von Oktober 2019 den Bau eines Ram-Tempels in der nordindischen Staat Ayodhya – ein seit Jahrzehnten umstrittenes Vorhaben, weil auf dem Grundstück früher eine Moschee stand. Das dritte Anliegen ist die Einführung eines einheitlichen Zivilrechts, das vermutlich die Rechte religiöser Minderheiten beschneiden würde.
Ideologische Grundlage der BJP für die Neuausrichtung des Landes ist die Vorstellung, dass Indien zuallererst ein Staat der Hindus sei. Der Hindu-Nationalismus fußt auf der Idee des Hindutums (Hindutva), dessen Grundgedanken in den 1920er und 1930er Jahren von V. D. Savarkar und dem langjährigen Führer des Nationalen Freiwilligenkorps (Rashtriya Swayamsevak Sangh, RSS), M. S. Golwalkar, formuliert wurden. Hindutva orientiert sich am Vorbild des ethnischen Nationalismus im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts. Das Ziel ist die Schaffung einer Hindu-Nation (Hindu-Rashtra), die auf Sprache, Geschichte, Kultur, Geographie und Abstammung beruht. Damit verband sich anfangs auch die Ablehnung äußerer Einflüsse. In diesem Sinne galt die Eroberung Indiens durch die Muslime und später durch die Briten als Ursache für den vermeintlichen Niedergang der Hindus. Die Idee von der Einheit der Hindu-Nation findet ihren Niederschlag heute in Slogans und Forderungen wie »Eine Nation«, »Eine Verfassung« oder »Eine Sprache«. Bislang galt das Prinzip »Einheit in Vielfalt« (Unity in Diversity) als eine der zentralen Grundlagen der indischen Verfassung. Die Ideen von Hindutva folgen hingegen eher einem Prinzip, das mit »Einheit vor Vielfalt« umschrieben werden könnte.
Der Wandel hin zu einem »illiberalen Indien« (Sumit Ganguly) zeigt sich auf verschiedene Weise. Erstens gilt Kritik an der Regierung als zunehmend unerwünscht. Kritische Intellektuelle und Medien sowie nationale und internationale Organisationen der Zivilgesellschaft sehen sich vermehrt bürokratischen Kontrollen ausgesetzt oder werden strafrechtlich verfolgt. So ist die Zahl der Anklagen wegen staatsgefährdender Aktivitäten seit 2014 deutlich gestiegen. Des Weiteren war Indien 2018 und 2019 die Demokratie, in der das Internet am häufigsten abgeschaltet wurde. Die damit einhergehenden Einschränkungen der Grundrechte schlagen sich nieder in negativen Bewertungen im Index der Pressefreiheit 2020 und im Freiheitsindex (Human Freedom Index). Zuletzt wurde bekannt, dass die Regierung die Corona-Pandemie im Sommer 2020 nutzte, um eine neue Medienstrategie gegen missliebige Berichterstattung zu erarbeiten. Im März 2021 wurden neue Regelungen für Internetkonzerne verabschiedet, die der Regierung weitere Möglichkeiten eröffnen, kritische Medienarbeit zu unterbinden.
Zweitens hat die Regierung durch personelle Veränderungen dafür gesorgt, dass sie mehr Einfluss in bislang als unabhängig geltenden Institutionen gewinnt, darunter der Zentralbank und der nationalen Wahlkommission. Drittens ist das Oberste Gericht kaum mehr bereit, strittige Entscheidungen der Regierung zeitnah zu überprüfen, etwa in föderalen Streitfällen. Dies betraf im August 2019 die Aufteilung und Umwandlung des Bundesstaates Jammu und Kaschmir in zwei von Neu-Delhi verwaltete Unionsterritorien, die vollzogen wurde, ohne dass die gewählte Landesregierung zugestimmt hatte. Im Herbst 2020 beschloss das nationale Parlament weitreichende Reformen in der Landwirtschaft, obwohl der Agrarsektor verfassungsrechtlich in den Zuständigkeitsbereich der Bundesstaaten fällt. Im Frühjahr 2021 wurden die Kompetenzen der gewählten Regierung des Hauptstadtterritoriums von Neu-Delhi beschnitten.
Grafik 1 Entwicklung demokratierelevanter Indizes für Indien 2014–2020 |
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Demokratie-Index |
2014 |
2020 |
Economist Democracy Index |
Defekte Demokratie |
Defekte Demokratie |
Freedom House Index |
Frei |
Teilweise frei |
Freedom House Index, |
Teilweise frei |
Teilweise frei |
Universität Würzburg, |
Defizitäre Demokratie |
Defizitäre Demokratie |
Reporter ohne Grenzen, |
Schwierige Situation |
Schwierige Situation |
Bertelsmann |
Defekte Demokratie |
Defekte Demokratie |
Legatum Prosperity Index, |
Platz 78 von 142 |
Platz 106 von 167 |
V-Dem: Deliberative Democracy Index |
0,56 Punkte |
0,3 Punkte (2019) |
CATO Institute, |
Platz 87 von 159 |
Platz 111 von 162 (2018) |
Quellen: The Economist, Democracy Index 2020; Democracy Index 2014; Freedom House, Freedom in the World 2020; Freedom in the World 2015; Freedom on the Net 2020; Freedom on the Net 2014; Universität Würzburg, Matrixdarstellung 2014; Reporter ohne Grenzen, India; World Press Freedom Index 2014; Bertelsmann Stiftung, Atlas BTI, India Overall Results; Legatum Institute, The Legatum Prosperity Index, Downloads; V-Dem Institute, Country Graph. |
Indiens Wirtschaft: Eigenständigkeit vor Weltmarktintegration?
Modis Amtsantritt 2014 ging einher mit großen Hoffnungen, das Land werde seine wirtschaftlichen Reformen fortsetzen und sich weiter in den Weltmarkt integrieren. Tatsächlich konnte Indien seine Position im Ease of Doing Business Index zwischen 2014 und 2019 von Rang 140 auf Rang 63 verbessern. Allerdings gelang es der Regierung nicht, wie angestrebt den Anteil des verarbeitenden Sektors am Bruttoinlandsprodukt auf 25 Prozent zu steigern, um Indien global wettbewerbsfähig zu machen. Vielmehr verringerte sich dieser Anteil zwischen 2014 und 2018 von 15,1 Prozent auf 14,8 Prozent. Das Wirtschaftswachstum sank bereits vor der Corona-Krise auf unter 5 Prozent und entfernte sich damit weiter von der 7-Prozent-Zielmarke der Regierung.
In einer Rede an die Nation, die im Zeichen der staatlichen Hilfsmaßnahmen gegen die Corona-Krise stand, verkündete Premier Modi am 12. Mai 2020 sein neues Konzept wirtschaftlicher Eigenständigkeit (Atmanirbhar Bharat bzw. self-reliance). Dessen Wurzeln liegen historisch in der Swadeshi-Bewegung, die dafür warb, bevorzugt Waren aus einheimischer Produktion zu nutzen, und deren Gedanken sich auch in den Schriften des RSS wiederfinden. Modi vollzog damit eine wirtschaftspolitische Kehrtwende, die sich durch verschiedene Entscheidungen der letzten Jahre allerdings schon angedeutet hatte. Die Politik der Eigenständigkeit steht in einer Reihe mit dem 2014 eingeführten »Make in India«-Programm, das darauf abzielt, Exporte zu fördern und Importe zu reduzieren. Modi prangerte auf dem Weltwirtschaftsforum 2018 den weltweit wachsenden Protektionismus an, doch begann seine Regierung selbst damit, Zölle wieder zu erhöhen. Im Herbst 2019 zog sich Neu-Delhi in letzter Minute aus der Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) zurück. Eine Beteiligung Indiens an dem Freihandelsprojekt hätte sein chronisches Handelsdefizit gegenüber China weiter vergrößert. Während des Grenzkonflikts mit China im Sommer 2020 verschärfte Indiens Regierung ihre Restriktionen gegen chinesische Firmen.
Unter anderen politischen Vorzeichen hatte Indien bereits ab den 1950er Jahren einen Kurs der Importsubstitution verfolgt. Damals orientierte man sich an sozialistischen Wirtschaftsmodellen und setzte auf einen großen Staatssektor. Allerdings brachte diese Politik bis zu ihrem Ende 1991 nur ein durchschnittliches Wachstum von etwa 3,5 Prozent. Modis jetziges Konzept zielt dagegen auf Privatisierung der oft defizitären Staatsunternehmen, auf Kommerzialisierung der Landwirtschaft sowie den Aufbau nationaler Champions, etwa im Technologiebereich. Prominente Kritiker wie Modis früherer Wirtschaftsberater Arvind Subramanian wenden dagegen ein, dass kein Entwicklungsland nach dem Zweiten Weltkrieg vermocht habe, allein durch heimische Nachfrage ein Wachstum von über 6 Prozent zu erzielen.
Indien: Ein ambivalenter Partner
Für Deutschland und Europa bleibt Indien außen- und wirtschaftspolitisch ein zentraler Akteur im Indo-Pazifik. Die gemeinsamen strategischen Interessen werden, auch mit Blick auf den Aufstieg Chinas, neue Initiativen in Bereichen wie Konnektivität, Digitalisierung, Transport oder maritime Wirtschaft hervorbringen, die die Zusammenarbeit weiter vertiefen. Der Technologietransfer deutscher und europäischer Firmen wird einen wichtigen Beitrag zur wirtschaftlichen Erholung Indiens nach der Corona-Pandemie leisten.
Doch Modis neue Wirtschaftspolitik der Eigenständigkeit wird es langfristig wohl vor allem mittelständischen Unternehmen erschweren, sich auf dem indischen Markt zu engagieren. Und wiederholt wurde in Washington, Brüssel und Berlin kritisiert, dass Indiens Regierung demokratische Rechte abbaut, Meinungs- und Pressefreiheit einschränkt und religiöse Minderheiten verfolgt. Der indische Außenminister hat bereits signalisiert, dass sein Land solchen westlichen Bedenken künftig weniger Aufmerksamkeit schenken werde. Stattdessen gibt es in seinem Ministerium bereits Überlegungen, eigene Indizes zu erstellen, damit sich die Erfolge der indischen Demokratie international besser darstellen lassen. Es ist nicht davon auszugehen, dass internationale Kritik einen nennenswerten Einfluss auf Indiens innenpolitische Entscheidungen haben wird. Damit dürfte die Partnerschaft künftig eher auf wechselseitigen strategischen Interessen im Indo-Pazifik basieren und weniger auf gemeinsamen demokratischen Werten.
Dr. habil. Christian Wagner ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Asien.
Jana Lemke ist Praktikantin in der Forschungsgruppe Asien.
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doi: 10.18449/2021A28