Mit 3,3 Milliarden Euro will die Europäische Kommission den Westbalkanländern unter die Arme greifen, um die Folgen der Pandemie zu mildern und sie schneller an die EU heranzuführen. Ohne einen grundsätzlichen Richtungswechsel kommt dieser Vorstoß jedoch zu spät, meint Dušan Reljić.
Wenn sich am 6. Mai die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder mit den Kollegen aus den Westbalkanländern per Video zusammenfinden, soll ein Hilfspaket der Europäischen Union in Höhe von 3,3 Milliarden Euro im Mittelpunkt stehen. Der geplante Umfang der finanziellen Unterstützung für die Staaten Südosteuropas stelle unter Beweis, so die Kommission, dass die EU angesichts der Krise entschieden vorgehe. Neben den Soforthilfen für medizinische und soziale Zwecke werde im Herbst ein »robuster Wirtschafts- und Investitionsplan« vorgestellt, der mit Maßnahmen in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Sozialpolitik insbesondere auf die gesellschaftliche Entwicklung ziele. Mit dem Beistandspaket gehe man weit über das hinaus, was jeder andere Partner der Region zur Verfügung gestellt habe, denn der Westbalkan sei »eine geostrategische Priorität« der Union. Offenbar möchte die – laut Präsidentin Ursula von der Leyen »geopolitische« – Kommission in Südosteuropa jetzt eindeutige Zeichen setzen. Denn, so der deutsche Chefdiplomat Heiko Maas: »Ohne den Westbalkan ist das europäische Projekt unvollendet«. Er sei umgeben von EU-Staaten. Man dürfe daher dort keine Unsicherheit und Instabilität zulassen.
Allerdings scheint das Durchsetzungsvermögen der EU im Westbalkan und insbesondere im größten und politisch bedeutendsten Staat der Region, Serbien, seit dem Seuchenausbruch angeschlagen zu sein. In den Nachrichtenmedien der Region wurde anfangs vor allem über die Ankunft medizinischer Hilfstransporte aus China, der Türkei oder Russland berichtet. Die Solidarität der EU sei ein Märchen, polterte Serbiens starker Mann, Präsident Aleksandar Vučić. Unmittelbarer Anlass für seinen Missmut war die Brüsseler Entscheidung, die Westbalkanländer nicht von einem am 19. März 2020 verhängten Exportverbot für medizinische Schutzausrüstung in Drittländer auszunehmen. Kurz vor der Kommissionsmitteilung zum Westbalkan-Gipfel wurden diese Güter dann doch für die Region freigegeben.
Dass Vučić sich zu dem tollkühnen Versuch hinreißen ließ, vor laufenden Kameras dem chinesischen Volk auf Chinesisch zu danken, ferner die chinesische Flagge küsste und den chinesischen Führer als »Freund und Bruder XI Jiping« hofierte, ist nur zum Teil mit hemmungsloser Anbiederung zu deuten. Vielmehr hat sich im Westbalkan die Einsicht ausgebreitet, dass die angestrebte EU-Mitgliedschaft nicht das Allheilmittel für die hartnäckigen Probleme der Region sein kann.
Die starke Verflechtung der Region mit der EU, vor allem über deutsche und italienische Unternehmen, hat nicht nur Vorteile. Als Folge der Krise in der Union nimmt die Nachfrage nach Produkten und Dienstleitungen aus der Region ab (über 70 Prozent des Außenhandels entfällt auf die EU), Investitionen aus der EU fallen aus, die Überweisungen der Migranten in die alte Heimat sinken. Die Weltbank rechnet mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung im Westbalkan um bis zu 5,7 Prozent in diesem Jahr. Selbst bei bester Wirtschaftslage in der EU aber vermag der Westbalkan nicht genug Investitionen aufzubringen, um ein Wachstum von über sechs Prozent jährlich zu erreichen. So viel wäre notwendig, um in 30 Jahren zum EU-Durchschnitt aufzuschließen. Man blickt in der Region deswegen in der Hoffnung auf größere Investitionen zunehmend nach Asien, vor allem nach China.
Das angekündigte EU-Hilfspaket wird wenig an den grundlegenden Problemen der Region ändern können, wenn die EU den Westbalkan nicht anders als bisher als festen Bestandteil der EU behandelt – aus den genannten »geopolitischen« Gründen. Dazu würde zunächst gehören, dass die geplanten Hilfen keine einmalige Leistung sind, die überwiegend auf Krediten und nicht auf Zuwendungen fußt. Anders als die »neuen« Mitgliedsländer der Union haben die Westbalkanländer bisher keine solidarischen Aufbaubeihilfen zum Ausgleich ihres Handelsbilanzdefizits mit der EU von über 100 Milliarden Euro im vergangenen Jahrzehnt erhalten. Um das zu ändern, müsste der Region schon vor der Mitgliedschaft Zugang zu den Struktur- und Kohäsionsfonds der EU oder einer vergleichbaren Zuwendungsquelle eröffnet werden, damit umfassender und dauerhafter Wachstum einsetzt.
Selbst wenn die EU mit diesem Weg eine grundsätzlich andere Haltung einnimmt, steht nicht fest, ob es dafür nicht zwölf Jahre zu spät ist: Ein vergleichbarer Vorstoß hätte nach 2008/2009 stattfinden sollen, als die große Schulden- und Finanzkrise auf den Westbalkan überschwappte und die Region noch schlimmer als die EU selbst traf. In der Zwischenzeit haben im Westbalkan zwei vermutlich unumkehrbare Entwicklungen stattgefunden. Zum einen haben die Menschen die Hoffnung aufgegeben, dass sie Wohlstand noch erleben werden. Deswegen wandern sie in Massen aus: Im Jahr 2018 hat alle zwei Minuten ein Bürger der Westbalkanstaaten eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in der EU bekommen – insgesamt 230.000 Menschen.
Zum anderen haben nach der Finanzkrise 2008 überall im Westbalkan rechtspopulistische und autoritäre Kräfte wieder die Oberhand gewonnen (Nordmakedonien ist derzeit die Ausnahme). Das demokratische Potenzial der Gesellschaften ist weiter zurückgegangen – unter anderem wegen der Vergreisung der Bevölkerung und massenhafter Auswanderung, der wirtschaftlichen Schwächen und der nicht beigelegten ethnopolitischen Konflikte. Darauf verweisen alle Untersuchungen von internationalen Demokratie- und Menschenrechtsorganisationen. Zudem ist fraglich, ob Vučić und die anderen Alleinherrscher bereit sind, friedlich die Macht wieder abzugeben.
Nach dem Gipfel nächste Woche wird folglich ein Dilemma ungelöst bleiben: Soll man, geopolitisch motiviert, die Staaten letztlich in die EU durchwinken, wie es mit den ostmitteleuropäischen Staaten seinerzeit der Fall war? Oder darf die weitere Annäherung der Westbalkanstaaten an die EU erst nach dem Einlenken ihrer Regierungen in rechtsstaatliche Bahnen stattfinden? Nach dem Abklingen der Pandemie sollen Parlaments- und andere Wahlen in Serbien, Montenegro, Nordmakedonien sowie Bosnien und Herzegowina stattfinden. Eine gründliche Überprüfung der demokratischen Qualität dieser Wahlen müsste die Grundlage sein, auf der die EU entscheiden sollte, mit welchen Regierungen sie den Erweiterungsprozess weiterführen und mit welchen sie ihn vorerst einfrieren möchte.
Mit den bestehenden Instrumenten ihrer Erweiterungspolitik gelingt es der EU nicht, zur Verbesserung der Lebensverhältnisse auf dem Westbalkan beizutragen. Im Interview spricht Dušan Reljić über die prekäre Situation in der Region und die Verantwortung der EU in diesem Zusammenhang.
doi:978-88-9368-124-7