Mit den bestehenden Instrumenten ihrer Erweiterungspolitik gelingt es der EU nicht, zur Verbesserung der Lebensverhältnisse auf dem Westbalkan beizutragen. Im Interview spricht Dušan Reljić über die prekäre Situation in der Region und die Verantwortung der EU in diesem Zusammenhang.
Anfang Februar wird die EU-Kommission eine neue »Methodik« für den EU-Erweiterungsprozess mit den Westbalkan-Staaten veröffentlichen. Wieso braucht es nach der Verkündung einer neuen Erweiterungsstrategie 2018 schon wieder ein Update?
Dušan Reljić: Weil es der französische Präsident Emmanuel Macron so will. Mitte November veröffentlichte Frankreich ein Arbeitsdokument mit einem Rundumschlag gegen die bestehende Methode der EU-Erweiterung und eigenen Gegenvorschlägen. Zugleich verhinderte Paris mit Unterstützung aus Dänemark und den Niederlanden, dass die Beitrittsgespräche mit Nordmazedonien und Albanien beginnen. Macron verlangt die Vertiefung der Integration innerhalb der EU, bevor sie erweitert wird. Die meisten EU-Staaten wollen jedoch zumindest einen Beginn der Beitrittsgespräche mit den Regierungen in Skopje und Tirana. Die Europäische Kommission bemüht sich nun um einem Kompromissvorschlag.
Was möchte die EU-Kommission mit der neuen Methodik konkret verändern?
Die Kommission möchte keine »Revolution«, sondern eine »Evolution« des bestehenden Rahmens der Erweiterungspolitik, wie ihre Strategen angekündigt haben. Es ist insofern mit behutsamen, wenig effektiven Änderungen der Verfahren zu rechnen. Die eigentlichen Ursachen der schlechten sozio-ökonomischen und politischen Entwicklung im Westbalkan werden wohl auch diesmal nicht wirksam angegangen. Dafür bedürfte es einer fundamentalen – revolutionären – Veränderung der Erweiterungspolitik. Im Mittelpunkt müssten Bereiche wie Infrastruktur, Bildung, Gesundheit und Einkommen stehen.
Wie sieht die Situation im Westbalkan aus?
Die Region kann trotz oder sogar wegen ihrer starken Anbindung an Deutschland, Italien und andere EU-Kernstaaten nicht genug erwirtschaften, um sich schneller zu entwickeln und gute Lebensbedingungen für die Bevölkerung herzustellen. Dies hat Folgen für die politische Entwicklung: Bei einem durchschnittlichen Monatseinkommen von 400 € können Rechtsstaat und liberale Demokratie nicht gedeihen. Armut und Hoffnungslosigkeit sind ein guter Nährboden für Populisten und autoritäre Herrscher, die jetzt fast überall im Westbalkan das Sagen haben.
Woher rührt diese ökonomische Schwäche der Region?
Zum einen hatte es diese Region wegen der Folgen des Krieges um das Erbe Jugoslawiens viel schwerer, wirtschaftlich und politisch Anschluss an die europäischen Vereinigungsprozesse zu gewinnen. Zum anderen hat das von der EU und den internationalen Finanzinstituten wie der Weltbank propagierte »Transitionsmodell« mit wenigen Ausnahmen in Mittelost-und Südosteuropa nicht die gewünschte schnelle Angleichung an Westeuropa gebracht. Im Gegenteil: Der Westbalkan hat mit enormen Handels- und Zahlungsbilanzdefiziten zu kämpfen.
Was heißt das in Zahlen?
Zwischen 2008 und 2018 haben die sechs Volkswirtschaften im Westbalkan, die noch nicht zur EU gehören, ein Minus von 100 Milliarden Euro im Handel mit der EU verzeichnet, an erster Stelle mit Deutschland und Italien. Angesichts der bestehenden Struktur der Wirtschaftsbeziehungen mit der EU wird die Region ein Jahreswachstum von sechs bis acht Prozent nicht erreichen können. Das bräuchte sie aber, um in etwa 30 Jahren mit dem EU-Durchschnitt gleichzuziehen.
Was müsste die EU aus Ihrer Sicht heute tun, um für Besserung zu sorgen?
Der Westbalkan wickelt fast 75 Prozent seines Außenhandels mit der EU ab, mehr als etliche EU-Mitglieder selbst. Auslandinvestitionen, Bankenkapital, Überweisungen der Arbeitsmigranten – alles kommt aus der EU. Nur keine substantielle unentgeltliche Finanzhilfe, um wirtschaftlich aufzuholen und die strukturellen Defizite mit der EU zu beheben. Für »neue« EU-Mitglieder wie Polen oder Tschechien ist Geld aus den Struktur-und Kohäsionsfonds der EU auschlaggebend, um ihre schwächere Position im wirtschaftlichen Austausch mit West-und Nordeuropa zumindest zum Teil auszugleichen. Diese Solidarität muss auch für den Westbalkan gelten.
Mit welcher Begründung?
Die EU hat zum Ziel, für Frieden und Wohlstand auf dem ganzen Kontinent zu sorgen, um die eigene Sicherheit und wirtschaftliche Entwicklung dauerhaft zu festigen. Dabei geht es um die geopolitische und geoökonomische Formung dieses Raumes, eigentlich um die Angleichung der Verhältnisse. Der Westbalkan ist von EU-Staaten umgeben. Er ist der Innenhof der EU, nicht die Nachbarschaft. Und seine politische Entwicklung wurde nach den Kriegen in den neunziger Jahren von der EU und ihren führenden Staaten, vor allem Deutschland, maßgeblich mitbestimmt. Es ist im ureigenen Interesse der EU, in einer Region, mit der sie maßgeblich vernetzt ist, für eine Angleichung der Verhältnisse zu sorgen.
In der EU ist es hoch umstritten, ob die Union weitere Staaten aufnehmen sollte. Was sagen Sie den Skeptikern: Welche Vorteile hätte die EU von einer weiteren Integration der Westbalkanstaaten?
Da der Wohlstand nicht zu ihnen kommt, gehen die Menschen dorthin, wo der Wohlstand ist. Im Jahr 2018 haben etwa 230 000 Bürger der Westbalkanstaaten zum ersten Mal eine Aufenthaltserlaubnis in einem EU-Staat erhalten: alle zwei Minuten einer. Davon profitiert die EU; Südosteuropa leert sich jedoch. Die Menschen dort werden im Durchschnitt immer älter, auch sind sie von den Folgen des Klimawandels und der Umweltzerstörung stärker betroffen als der Norden Europas. Sie werden zusehends in prekären Verhältnissen versinken.
Welchen Ausweg sieht die Bevölkerung des Westbalkans?
Untergehende greifen bekanntlich nach jeder ausgestreckten Hand: Derzeit sehen viele Menschen in der chinesischen 17+1 Initiative – der Teil der Seidenstraßeninitiative, der sich auf Mittel- und Südosteuropa konzentriert – für die Stärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Mittel-und Südosteuropas die Chance, doch voranzukommen. Sie hoffen auf anständig bezahlte Jobs, bessere Straßen, schnellere Eisenbahnen, effizientere Energieanlagen und mehr. Dies sollte ein Signal für die EU sein, dass sie ihrem Anspruch, die Verhältnisse und die Zukunft auf dem europäischen Kontinent umfassend zu gestalten, mit den jetzigen Instrumenten immer weniger gerecht wird. Diesen Trend sollte sie durch eine beherzte Neuorientierung ihrer Erweiterungspolitik umkehren.
Das Interview führte Candida Splett von der Online-Redaktion der SWP.
Dieses »Kurz gesagt« wurde auch unter euractiv.de veröffentlicht.
doi:978-88-9368-124-7