Verglichen mit der letzten Wahl zum Bundestag 2017 hat die Türkei im diesjährigen Wahlkampf kaum eine Rolle gespielt. Doch die zurzeit relativ entspannte Atmosphäre zwischen Berlin und Ankara und die damit zusammenhängende geringe Prominenz der Türkei im deutschen Wahlkampf bedeuten nicht, dass die Gestaltung der zukünftigen Türkeipolitik ein leichtes Unterfangen wäre. Ankara stellt eine ganze Reihe von Forderungen an die Europäische Union (EU). Die Zusammenarbeit in der Flüchtlingsfrage soll fortgesetzt und die Zollunion mit der EU vertieft werden. Die türkische Regierung will außerdem in europäische Konsultationen einbezogen werden. Hier muss sich die neue Bundesregierung positionieren. Doch die Türkei ist kein leichter Partner, und um zu einer regelbasierten Kooperation zu kommen, müssen Berlin und Brüssel ihrerseits klare Bedingungen formulieren, zum Beispiel für die Migrations- und die Rüstungszusammenarbeit. Zudem müssen sie entscheiden, wie das künftige Verhältnis der Türkei zu Europa gestaltet werden soll.
Im Wahlkampf 2017 hatten drei Dinge nicht nur das offizielle Berlin, sondern auch die Wähler stark beschäftigt: die vorangegangene Resolution des Bundestags zum Völkermord an den Armeniern, die dauerhafte Aussetzung von bürgerlichen Rechten in der Türkei nach dem Putschversuch von 2016, schließlich Präsident Recep Tayyip Erdoğans Gleichsetzung bundesdeutscher Politik mit Nazipraktiken. Berlin sprach Reisewarnungen aus, zog in Erwägung, Hermesbürgschaften auszusetzen, und die Kanzlerkandidaten Angela Merkel und Martin Schulz plädierten im TV-Duell dafür, die Verhandlungen über den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union abzubrechen. Während der türkische Präsident 2017 die beiden Regierungsparteien CDU und SPD sowie die Grünen als »Feinde der Türkei« bezeichnete, nennt sein Verteidigungsminister Hulusi Akar vier Jahre später Deutschland »einen unserer wichtigsten Alliierten in der europäischen Sicherheitsarchitektur«.
Die positive Bewertung kommt nicht von ungefähr, hat die Bundesrepublik in diesem und im letzten Jahr doch entscheidend dazu beigetragen, dass die EU nicht mit empfindlichen Sanktionen auf die expansive Strategie der Türkei im östlichen Mittelmeer und die dazugehörigen militärischen Drohgebärden gegen die EU-Mitglieder Griechenland und Republik Zypern reagiert hat. Die – im Vergleich zu Paris – entgegenkommende Haltung der Bundesregierung war von der Überlegung bestimmt, die Kooperation mit Ankara in der Flüchtlingspolitik aufrechtzuerhalten und die enge wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern nicht zu gefährden. Die Spannungen mit der Türkei trotz aller Probleme mit Ankara niedrig zu halten, entsprach freilich auch der Tendenz in den meisten europäischen Hauptstädten.
Ein einfaches »Weiter so!« wird schwierig
Aus drei Gründen wird es schwierig, diese zurückhaltende Politik fortzuführen: Da ist zum einen der große Kontrast zwischen der wohlgesinnten Haltung der Bundesregierung Ankara gegenüber und der negativen Wahrnehmung der Türkei und ihrer Regierung in der deutschen Bevölkerung. Eine Umfrage des European Council on Foreign Relations in zwölf EU-Staaten vom Juni 2021 ergab, dass die Türkei in Österreich, Deutschland und Frankreich sogar stärker als Rivale und/oder Gegner angesehen wird als Russland und China. Die Wahlprogramme der deutschen Parteien für die Bundestagswahl spiegeln diese Stimmung wider.
Zweitens hat die Türkei in den letzten Monaten zwar ihre außenpolitische Rhetorik gemäßigt, doch hält sie prinzipiell an ihren Zielen fest. Das gilt für den Streit mit Griechenland und der Republik Zypern um Exklusive Wirtschaftszonen im östlichen Mittelmeer, wo die türkische Marine im September 2021 erneut ein europäisches Forschungsschiff behindert hat. Solche Aktionen drohen die Grundlage einer »positiven Agenda« der EU mit der Türkei zu untergraben, die der Europäische Rat im März 2021 unter maßgeblichem Einfluss Deutschlands beschlossen hat. Nicht viel anders steht es um die türkische Politik in Zypern, Syrien und Libyen sowie die Fortsetzung der sicherheitspolitischen Kooperation Ankaras mit Russland – so möchte Ankara weitere Einheiten des russischen Raketenabwehrsystems S‑400 erwerben. Auch innenpolitisch ist keine Entspannung in Sicht. Zwar wittert die Opposition Morgenluft, die Zustimmung zur Regierungspartei schmilzt rapide, und bei den für 2023 angesetzten Wahlen könnte Erdoğans AKP erstmals seit ihrem Amtsantritt 2002 den Status als stärkste Partei verlieren. Doch der Druck auf die Opposition und die Zivilgesellschaft steigt. Die sozialen Medien werden kontrolliert, die Justiz im Sinne der Regierung instrumentalisiert und der Gewaltapparat ausgebaut. Angesichts dessen wachsen in der Türkei die Zweifel daran, ob die Regierung für sie verlorene Wahlen noch anerkennen und respektieren würde.
Drittens hat die einsame Entscheidung der USA, aus Afghanistan abzuziehen, klar gemacht, dass auch die Regierung unter Joe Biden ihre Politik ausschließlich an den eigenen nationalen Interessen orientiert. Die Europäer müssen ihre Erwartungen hinsichtlich dessen zurückschrauben, dass Washington seine Türkeipolitik tatsächlich mit ihnen abspräche. Die kürzlich erfolgte Brüskierung Frankreichs durch Washington, London und Canberra (Gründung der neuen Sicherheitsallianz AUKUS) weist in exakt dieselbe Richtung. Dass das westliche Staatenbündnis in Afghanistan nach zwanzig Jahren unverrichteter Dinge das Feld geräumt hat, ist nur ein weiteres Zeichen für die rapide schwindende Dominanz des Westens und seines Einflusses in der Welt. All dies bestärkt die in der Türkei längst etablierte Überzeugung, der Westen befinde sich in einem unaufhaltbaren Niedergang, man müsse dessen Erwartungen nicht (länger) erfüllen und sich stattdessen mittel- und langfristig nach Asien orientieren.
Die künftige deutsche Regierung wird sich deshalb nicht nur der Frage stellen müssen, ob sie auch weiterhin die europäische Politik gegenüber der Türkei koordinieren und wesentlich prägen will und ob sie dazu in der Lage ist. Sie wird ebenfalls Antworten auf die Frage finden müssen, wie weiter mit der Türkei umgegangen werden soll, einem Land, auf dessen Kooperation die EU in bestimmten Bereichen angewiesen ist, dessen Außen- und Innenpolitik jedoch immer weniger europäischen Vorstellungen entspricht.
Ein Blick in die Bundestags-Wahlprogramme der Parteien, deren Beteiligung an einer Koalitionsregierung grundsätzlich für möglich gehalten wird, gibt Hinweise auf deren Problemsicht und den Stand der Diskussion. CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP behandeln in ihren Wahlprogrammen den Status der Türkei als EU-Beitrittskandidatin, erwähnen ihre Mitgliedschaft in der Nato, und fast alle schreiben ihr sicherheitspolitische Bedeutung zu. Die Türkei kommt außerdem – selbst wenn sie nicht immer genannt wird – bei den Themen Rüstungsexport und Rüstungskontrolle sowie Schutz der Menschen- und Bürgerrechte zur Sprache. Stark beschäftigt alle Parteien das Thema Migration, bei dem die Türkei eine wichtige Rolle spielt.
Die Zusammenarbeit von EU und Türkei beim Thema Migration
Am 18. März 2016 hatten sich die Europäische Union und die Türkei auf eine im Prinzip zeitlich unbeschränkte Zusammenarbeit zur Bewältigung irregulärer Migration geeinigt. Die Türkei verpflichtete sich, ihre Grenzen zu Griechenland zu kontrollieren und nicht asylberechtigte syrische Migranten zurückzunehmen. Die EU ihrerseits sagte für die Jahre 2016 bis 2019 finanzielle Hilfen von insgesamt sechs Milliarden Euro zu ebenso wie die geregelte direkte Aufnahme von Flüchtlingen aus der Türkei. Die Vereinbarung wurde in der Türkei und in Deutschland, aber auch international heftig kritisiert, da sie ein Schritt sei, um Flüchtlingsrechte auszuhebeln. Sie hat jedoch die Zahl der Grenzübertritte irregulärer Migranten aus der Türkei nach Griechenland deutlich reduziert, nämlich von circa einer Million in den Monaten vor Beginn der Kooperation auf rund 26.000 in den zwölf Monaten danach. Im selben Zeitraum sank die Anzahl derer, die auf der Seepassage ums Leben kamen, von rund 1.100 auf 81 Personen.
Die Zusammenarbeit mit der Türkei hat die Migration insbesondere für Deutschland handhabbar gemacht, dessen Parteiensystem sich auch als Folge des großen Zuzugs von 2015 markant verändert hat. Ungeachtet vieler Meinungsverschiedenheiten zwischen Ankara und Brüssel und trotz ernsthafter Mängel in der Umsetzung der Vereinbarung hat der Europäische Rat im Dezember 2020 angekündigt, Gelder für die Fortsetzung der Kooperation bereitzustellen.
In der Türkei haben die zielgebundenen Gelder der EU dazu beigetragen, dass sich das Leben syrischer Flüchtlinge in einer Reihe von Feldern verbessert hat. Für Ankara, dessen Verhältnis mit der EU sich seit Beginn der Kooperation stetig verschlechterte, wurde die Migrationszusammenarbeit zu einem wichtigen Hebel, um auf Brüssel und Berlin Einfluss zu nehmen. Der weitere Verlauf dieser Kooperation wird die künftige Bindung der Türkei an die EU maßgeblich bestimmen.
Die Migrationskooperation der EU mit der Türkei in den Wahlprogrammen der Parteien
Trotz dieser zentralen Bedeutung des »Flüchtlingsdeals« gehen weder CDU/CSU noch SPD oder FDP in ihren Wahlprogrammen darauf ein.
Dabei werden – was die Migration über die Türkei betrifft – viele der Ziele, die die CDU/CSU in ihrem Wahlprogramm explizit formuliert, bereits heute durch die Flüchtlingskooperation mit Ankara weitgehend erreicht: so der Wunsch, »illegale Migration« zu verhindern, »die Zahl der nach Deutschland und Europa flüchtenden Menschen [...] dauerhaft niedrig« zu halten und geflüchteten »Menschen in ihrer Heimat oder in deren Nähe Lebensperspektiven zu eröffnen«.
Im Wahlprogramm der SPD heißt es: »Wir werden die Genfer Flüchtlingskonvention verteidigen«, und weiter: »Pushbacks sind eine eklatante Verletzung des Völkerrechts.« Zudem sollen »legale Migrationswege« geschaffen werden. Letzteres ist Teil der mit der Türkei bestehenden Vereinbarung. Zu Pushbacks im großen Stil, also zur Zurückweisung von Flüchtlingen, war es Ende Februar/Anfang März 2020 an der türkisch-griechischen Grenze gekommen. Damals ließ der türkische Präsident in einer konzertierten Aktion in hoher Zahl Flüchtlinge an die Grenze befördern, und die türkische Polizei unterstützte Flüchtlinge darin, sich ihren Weg auf griechisches Territorium zu bahnen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat damals die Zurückweisung der Flüchtlinge durch die griechischen Behörden als Schutz der Außengrenze der EU gerechtfertigt. Dass die Türkei in jenen Tagen damit gescheitert ist, Flüchtlinge in großer Zahl nach Griechenland zu schleusen, hat paradoxerweise dafür gesorgt, dass die Kooperation zwischen ihr und der EU in Sachen Migration noch heute anhält.
Die FDP schreibt in ihrem Wahlprogramm: »[…] das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte [ist] unantastbar.« Weiterhin ist dort zu lesen: »Es muss möglich sein, auf sicherem Weg nach Europa zu kommen – ohne lebensgefährliche Reise und die Gefahr, in die Hände von Menschenhändlern zu geraten.« Gleichzeitig wird ein wirkungsvoller Schutz der EU-Außengrenzen angemahnt. Auch für die FDP gilt deshalb, dass die Kooperation mit der Türkei einerseits ermöglicht, etliche der im Wahlprogramm genannten Ziele zu erreichen, andererseits aber kein Bezug auf die Zusammenarbeit genommen wird. Das Schweigen der Parteien über die Flüchtlingskooperation mit der Türkei ist umso erstaunlicher, als die Vereinbarung mit der Türkei ganz offensichtlich als Blaupause für eine Reihe von Kooperationen der EU bzw. ihrer Mitglieder mit nordafrikanischen Staaten fungierte.
Das Wahlprogramm der Grünen geht dagegen ausführlich auf die Vereinbarung der EU mit der Türkei ein. »Der bestehende ›EU-Türkei-Deal‹ untergräbt […] internationales Asylrecht, ist gescheitert und muss beendet werden«, lautet es dort. Die Partei will zwar »die finanzielle und logistische Unterstützung von Erstaufnahme- und Transitländern wie der Türkei […] ausbauen«, doch dürfe die europäische Zusammenarbeit mit Drittstaaten »nicht auf die Verhinderung von Flucht abzielen«. Die Grünen fordern ein neues Abkommen, in dem finanzielle europäische Unterstützung für die Türkei nur daran gebunden sein soll, dass sie Flüchtlinge gut versorgt und integriert. Die EU müsse der Türkei darüber hinaus »verbindliche Kontingentzusagen zur Umsiedlung schutzbedürftiger Geflüchteter in die EU machen«.
Zwei Tendenzen lassen sich feststellen: auf der einen Seite CDU/CSU, FDP und SPD. CDU/CSU und FDP fordern in ihren Programmen explizit die Begrenzung irregulärer Migration, und die SPD hat 2016 die Flüchtlingskooperation mit der Türkei mit eingeleitet und mit verantwortet. Alle diese Parteien äußern sich jedoch nicht zu dieser Kooperation – wahrscheinlich aufgrund des negativen Images der Türkei in der Gesellschaft. Auf der anderen Seite stehen die Grünen, die die gegebene Zusammenarbeit mit Ankara aus rechtlichen und humanitären Gründen ablehnen, die kein Abkommen wollen, dessen Ziel die Begrenzung irregulärer Migration ist, und die für eine verstärkte Aufnahme von Flüchtlingen plädieren. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass der zukünftigen Regierungskoalition Parteien beider Richtungen angehören werden, und entsprechend groß ist damit der Klärungsbedarf in dieser Frage.
Die aktuelle Dynamik in der Flüchtlingsfrage
Der Abzug der Nato aus Afghanistan und die Angst vor einem erneuten massiven Anstieg der Flüchtlingszahlen hat in Ankara, Athen, Brüssel und Berlin Besorgnis ausgelöst. In der Türkei, wo vor dem Hintergrund der nun schon lang anhaltenden Wirtschaftskrise die Akzeptanz der Bevölkerung rasant schwindet, setzt die Opposition die Regierung mit der Flüchtlingsfrage unter Druck. In Umfragen sprechen sich sieben von zehn Wahlberechtigten für eine Schließung der Grenzen für Flüchtlinge aus, und weit über die Hälfte der Befragten und selbst mehr als ein Drittel der Wähler der regierenden AKP sagen, die Aufnahme weiterer Flüchtlinge vergrößere ihre Distanz zu Erdoğans Partei.
Der bislang in der Türkei stets als »Externalisierung der Flüchtlingsfrage« kritisierte Ansatz der EU, Flüchtlinge primär in den Nachbarstaaten von Konfliktgebieten zu belassen und diesen Ländern unter die Arme zu greifen, wird nun auch in der Türkei als einzig mögliche Lösung angesehen. Der türkische Präsident und sein Außenminister rufen die EU und die internationale Gemeinschaft auf zur Unterstützung des Iran, Pakistans und Usbekistans, der primären Aufnahmestaaten afghanischer Flüchtlinge, und bekunden ihre Bereitschaft, diesen Ländern ebenfalls finanziell beizustehen. Der griechische Ministerpräsident und die von ihm einberufene Konferenz der EU-Anrainerstaaten des Mittelmeers (EuroMed9) äußerten sich ähnlich. Selbst EU-Mitgliedstaaten, die bisher Migranten Zuflucht gewährt haben, sperren sich kategorisch, dies weiterhin in größerem Maße zu tun, und verweisen darauf, dass sie bereits viele Flüchtlinge aufgenommen hätten.
Die türkische Regierung drängt unterdessen verstärkt darauf, dass die EU ihre Hilfen fortsetzt und die Summe anhebt. Die EU steht kurz davor, die nächsten Tranchen offiziell zu verkünden. Die neue Bundesregierung wird sich diesem Trend schlecht entziehen können. Auf europäischer Ebene wird sie die Kooperation mit der Türkei in der Flüchtlingsfrage weiterführen müssen und vor der Aufgabe stehen, die Bevölkerung dafür zu gewinnen.
Die Türkei als labiler Partner in der Sicherheitspolitik
Nicht nur wegen ihrer Lage im Süden Russlands und als Brücke zum Nahen Osten ist die Türkei für die Nato von entscheidender Bedeutung. Das Land wurde schon 1952, noch vor der Bundesrepublik, Mitglied des Bündnisses. Mit einer Stärke von 445.400 Mann (2021) stellt die Türkei nach den USA die größte Truppe in der Allianz. Ankara gibt 2,8 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung aus (2020).
In Zentralanatolien (Kürecik) betreibt die Nato einen für ihr Ballistic Missile Defense System unverzichtbaren Radar. Im Rahmen des Kampfes gegen den »Islamischen Staat« (IS) starteten AWACS-Flugzeuge der Nato vom Flughafen Konya und Kampfjets von der Airbase İncirlik. Im ägäischen İzmir befindet sich das Nato-Landcom, das bei gemeinsamen Einsätzen die Heereseinheiten der Verbündeten koordiniert. Außerdem hat die Türkei im Januar 2021 das jährlich rotierende Kommando der schnellen Eingreiftruppe (VJTF) der Nato übernommen.
In den vergangenen Jahren hat sich das Verhältnis der Türkei zu einer ganzen Reihe von Nato-Partnern indes empfindlich abgekühlt. Als Teile des türkischen Militärs am 15. Juli 2016 einen Putschversuch unternahmen, beschuldigte die türkische Regierung die USA der Mitwisserschaft, ja der Mitwirkung. Die Regierung entmachtete die Militärführung, und den anschließenden Säuberungen im Militär fielen neben den Putschisten besonders prowestliche und säkulare Kader zum Opfer. Dies schwächte den bis dahin verlässlichsten Link zwischen Washington und Ankara. Um sich gegen westliches Fluggerät zu schützen, erwarb die Türkei 2017 das russische Raketenabwehrsystem S‑400, weshalb die USA Ende 2020 Ankara mit Sanktionen belegten.
Ebenfalls 2016 führte die Türkei die erste von bislang vier groß angelegten Militäroperationen in Syrien durch, von denen sich drei primär auf Territorien richteten, die von syrischen Kurden gehalten wurden. Ankara sieht seine Angriffe auf die syrischen Kurden als Teil seines »Krieges niedriger Intensität« gegen Kämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im eigenen Land, der bereits 1984 begann. Nach Angaben staatlicher Stellen hat der Konflikt zwischen 35.500 und 44.000 Tote gefordert. Er ging und geht mit schweren Menschenrechtsverletzungen einher, die das Ansehen der Türkei in Westeuropa nachhaltig beschädigt haben. Im Kampf gegen den IS in Syrien fungierten die syrischen Kurden quasi als Bodentruppen Washingtons, weshalb die Kurdenfrage nun gleichfalls die türkisch-amerikanischen Beziehungen belastet.
Doch die Liste der Probleme ist noch nicht zu Ende. In den letzten Jahren haben die türkischen Drohgebärden gegen Griechenland und die Republik Zypern, der Einsatz islamistischer Kämpfer in Libyen sowie die militärische Unterstützung Aserbaidschans in seinem Feldzug gegen Armenien die Entfremdung der Türkei vom Westen verstärkt, insbesondere von Frankreich. Der Nato-Partner Griechenland und die Republik Zypern betrachten die Türkei heute erneut als die wichtigste Herausforderung für ihre nationale Sicherheit.
Schon vor den Spannungen im östlichen Mittelmeer wurden Szenarien über einen möglichen Austritt der Türkei aus der Nato entworfen. Auch um sie im Bündnis zu halten, hat die Bundesregierung im Juli 2020 trotz heftiger Proteste Griechenlands zugestimmt, der Türkei entscheidende Komponenten für den Bau von sechs U‑Booten deutscher Provenienz zu liefern. Nach der Einschätzung von Experten verschieben diese U‑Boote aufgrund ihrer weiterentwickelten Antriebstechnik die Machtbalance im östlichen Mittelmeer weiter zugunsten der Türkei.
Der Nato-Partner Türkei in den Wahlprogrammen der Parteien
»Die Türkei ist und bleibt als Nato-Mitglied […] ein unverzichtbarer Partner, weswegen wir uns dafür stark machen, die sicherheitspolitischen Spannungen im Bündnis abzubauen«, heißt es im Programm der FDP. Der Nachsatz »Es wird eine Türkei nach Präsident Erdoğan geben« macht deutlich, wo die Partei die Probleme für die aktuellen sicherheitspolitischen Spannungen verortet. Die CDU/CSU stellt die normativen Erwartungen an die Türkei in den Vordergrund: »Die Nato ist eine Wertegemeinschaft. Ihre Mitglieder müssen sich zur Einhaltung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit verpflichten.« Zwischen den Zeilen werden Zweifel an der Verlässlichkeit Ankaras geäußert: »Die Türkei muss als Nato-Partner ihren Beitrag zur kollektiven Sicherheit leisten und die Verpflichtung zu sicherheitspolitischen Konsultationen erfüllen.«
Das Programm der SPD erwähnt im Zusammenhang mit der Nato die Türkei nicht explizit, fordert jedoch die »Ächtung autonomer tödlicher Waffensysteme«, um der »zeitlichen und räumlichen Entgrenzung militärischer Gewalt […] entgegenzuwirken«. Als Beispiel für eine solche Entgrenzung militärischer Gewalt wird der Einsatz von Drohnen in Aserbaidschan und in Libyen genannt; in beiden Ländern kamen bewaffnete türkische Drohnen zum Einsatz, die in Libyen autonome Tötungen durchgeführt haben. Die SPD kündigt ferner eine »restriktive Rüstungsexportpolitik« an und will »mit unseren europäischen Partnern […] eine Verschärfung der EU-Rüstungsexportvereinbarungen abstimmen«.
Die Grünen fordern »Keine deutschen Waffen in Kriegsgebiete und Diktaturen«. Weiter steht in ihrem Wahlprogramm: »Für Deutschland werden wir ein Rüstungsexportkontrollgesetz vorlegen [und] ein Verbandsklagerecht bei Verstößen gegen das neue Gesetz einführen [...].« Wie bei der SPD betrifft dies direkt die Türkei, denn neben Waffenlieferungen an Saudi-Arabien und Ägypten sind es vor allem Verträge mit der Türkei, die in Deutschland das Thema Rüstungsexporte immer wieder auf die Tagesordnung bringen. Wie die SPD verlangen auch die Grünen eine internationale Ächtung autonomer Waffensysteme. Die Grünen gehen sogar noch einen Schritt weiter, indem sie ankündigen, »die völkerrechtswidrige Militäroffensive der Türkei in Nordsyrien« »in der Nato zu thematisieren«.
Die Liste der Gründe, aus denen die deutschen Parteien mit der Türkei im Bündnis unzufrieden sind, ist also lang. Sie reicht vom Rückbau der Demokratie und vom Autoritarismus über militärische Interventionen in Nachbarstaaten bis zu rüstungspolitischer Kooperation mit Russland, der größten Herausforderung der Nato in Europa.
Das Kalkül der Türkei
Die türkische Regierung weiß, wie umstritten ihre Politik in der Allianz und generell im Westen ist. Auch um sich erneut als unverzichtbarer Partner zu präsentieren, hat Ankara in den letzten Monaten seine diplomatische Unterstützung Kiews unterstrichen. Zum Ärger Russlands verkauft die Türkei Polen und der Ukraine bewaffnete Drohnen. Zudem ist Ankara auf Vorschläge Washingtons eingegangen, den Flughafen Kabul zu schützen und zu betreiben – was freilich wegen des Widerstandes der Taliban nicht umgesetzt werden konnte.
Um ihre militärtechnische Abhängigkeit insbesondere von US-amerikanischen, deutschen und französischen Lieferanten zu verringern, hat die Türkei ihre Rüstungsimporte stark diversifiziert. Ankara bezieht heute ebenso aus Russland, China, Südkorea und der Ukraine Waffen. Unter anderem aufgrund ihrer Sanktionen sind die USA gegenwärtig nur noch knapp der größte Waffenlieferant der Türkei; die Anteile Italiens und Spaniens an den türkischen Rüstungsimporten sind fast genauso hoch.
Es war das Waffenembargo, das die USA als Antwort auf die türkische Invasion in Zypern 1974 verhängten, das die Türkei dazu bewogen hat, eine eigene Rüstungsindustrie aufzubauen. Heute stammen etwa 60 Prozent des Inventars der Zivilluftfahrt und des Militärs aus einheimischer Produktion. Die Türkei reüssiert international als Produzent bewaffneter Drohnen, die besonders in Libyen und in Aserbaidschan gefechtsentscheidend gewesen sind. Seit 2015 trägt die türkische Rüstungsindustrie signifikant zum Export des Landes bei, verzeichnete 2020 allerdings wegen der US-Sanktionen einen empfindlichen Rückschlag. Vor diesem Hintergrund wird die Begrenzung deutscher Rüstungsexporte in die Türkei in Ankara nur dann Wirkung entfalten, wenn sie europäisch und transatlantisch abgestimmt ist.
Deutschland als zentraler Gestalter der Türkeipolitik der EU
Zu Beginn der auslaufenden Legislaturperiode erinnerte das Verhältnis Ankaras zu Brüssel an einen eingefrorenen Konflikt. Der zwischen CDU/CSU und SPD vereinbarte Koalitionsvertrag vom 7. Februar 2018 schloss sowohl Fortschritte im Beitrittsprozess als auch in den Fragen Zollunion und Erleichterung der Visagewährung aus – solange die Türkei nicht Schritte in Richtung Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unternehme. In seinem Entschluss vom 26. August 2018 machte sich der Rat für Allgemeine Angelegenheiten der EU diese Position zu eigen.
Es war die expansive Politik der Türkei und ihre Demonstration militärischer Macht im östlichen Mittelmeer, die den Europäischen Rat am 25. März 2021 dazu veranlasste, der Türkei in Aussicht zu stellen, in Verhandlungen zur Modernisierung der Zollunion einzutreten, sich auf hoher Ebene über Themen wie Gesundheit, Klima und Terrorbekämpfung auszutauschen sowie die finanziellen Hilfen im Rahmen der Flüchtlingskooperation zu verlängern. Primäre Bedingung für die Umsetzung einer solchen positiven Agenda sollten nun weitere Schritte der Türkei zur Deeskalation im Konflikt mit der Republik Zypern und Griechenland sein; andernfalls würde die EU zu Sanktionen Zuflucht nehmen.
In ihren Programmen zur Bundestagswahl sprechen alle behandelten Parteien von den engen Bindungen zwischen Deutschland und der Türkei und betonen die Notwendigkeit intensiver Zusammenarbeit und Partnerschaft. Konkret wird man bei der Frage der Beitrittsverhandlungen zur EU. Wie bereits in ihren Programmen zur Bundestagswahl 2017 schließen CDU/CSU und FDP einen EU-Beitritt der Türkei kategorisch aus. Die FDP fordert ein Ende der Gespräche. Die SPD, die sich 2017 in ihrem Wahlprogramm noch dafür einsetzte, die Beitrittsverhandlungen nicht abzubrechen, nennt in ihrem aktuellen Programm die Option der Mitgliedschaft nicht mehr. Nur die Grünen sprechen sich gegen einen Abbruch der Verhandlungen aus. Keine der Parteien äußert sich zu den türkischen Forderungen, die Zollunion zu vertiefen und zu modernisieren sowie die Visagewährung zu erleichtern, noch zu dem Wunsch Ankaras, in Sondierungen über die europäische Außen-, Sicherheits- und Energiepolitik einbezogen zu werden.
Wie weiter mit der Türkei?
Damit stellen sich der neuen Bundesregierung zwei große Fragen: Wie kann Ankara dazu bewogen werden, mit Brüssel und Berlin zu kooperieren und Rücksicht auf Interessen der EU und ihrer Mitgliedstaaten zu nehmen, wenn keine Aussicht besteht auf Vertiefung der Wirtschaftsbeziehungen, auf Visafreiheit und diplomatische Konsultationen? Und: Wie sollen Deutschland und Europa zu einer Balance finden zwischen der angestrebten Partnerschaft mit Ankara auf der einen Seite und europäischen normativen Erwartungen sowie der notwendigen Begrenzung türkischer außenpolitischer Aktivitäten auf der anderen Seite?
Die Partner einer neuen Regierungskoalition sind deshalb, erstens, aufgerufen, ihre Positionen zu den Erwartungen Ankaras zu klären. Sie sollten, zweitens, erkennen, dass die augenblickliche Strategie der EU wohl nicht funktionieren wird und darum nachgebessert werden muss. Denn es ist äußerst unwahrscheinlich, dass die EU ihr Handeln in so verschiedenen Bereichen wie Kooperation in der Migration, Wirtschaftspolitik, Visagewährung, Rüstungsexportpolitik und diplomatische Konsultationen tatsächlich ausschließlich davon abhängig machen wird, dass Ankara im östlichen Mittelmeer nicht weiter eskaliert. Zu unterschiedlich sind die Interessen der Mitgliedstaaten in diesen Bereichen, als dass sie in diesem Rahmen zu einer gemeinsamen Linie der Türkei gegenüber finden könnten. Ankara wird deshalb darin fortfahren, die Schmerzgrenzen der EU auszutesten.
Gleichzeitig kann sich die Türkei mit der jetzigen Regelung nicht darauf verlassen, dass Wohlverhalten auch wirklich honoriert wird. Daher ist es erforderlich, für jedes einzelne Politikfeld Kriterien festzulegen. Brüssel muss Ankara rote Linien aufzeigen, sich aber auch selbst verpflichten, türkische Forderungen zu erfüllen, wenn die Türkei geliefert hat. So sollte etwa der Einstieg in Verhandlungen zur Vertiefung der Zollunion nur davon abhängig gemacht werden, dass Handelshemmnisse beseitigt werden, mit denen die Türkei in den letzten Jahren die bestehende Zollunion belastet hat. Rüstungspolitische Zusammenarbeit dagegen sollte an die Voraussetzungen Deeskalation und mehr Distanz Ankaras zu Moskau gebunden werden. Und für weitere Kooperation beim Thema Migration braucht es die Einhaltung von Mindeststandards im Umgang mit Migranten. Nur wenn die EU für Ankara klare Kriterien formuliert und nur wenn sie bei deren Erfüllung ihrerseits glaubwürdige Zusagen macht, kommen Berlin und Brüssel mit Ankara zu einer Partnerschaft, die auf Regeln fußt und beiden Seiten Verlässlichkeit verschafft.
Dr. Günter Seufert ist Leiter des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS).
Das Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) wird gefördert durch die Stiftung Mercator und das Auswärtige Amt.
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doi: 10.18449/2021A65