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Die starken Töne der Türkei sind Ausdruck ihres Scheiterns

Kritik an der türkischen Politik gegenüber dem »Islamischen Staat« ist berechtigt, wenn auch aus anderen Gründen als vielfach angeführt. Günter Seufert über die gefährliche Politik der Türkei, mit der sie sich außenpolitisch isoliert und im Innern die Spannung anheizt.

Kurz gesagt, 14.10.2014 Research Areas

Kritik an der türkischen Politik gegenüber dem »Islamischen Staat« ist berechtigt, wenn auch aus anderen Gründen als vielfach angeführt. Günter Seufert über die gefährliche Politik der Türkei, mit der sie sich außenpolitisch isoliert und im Innern die Spannung anheizt.

In der europäischen Öffentlichkeit hat die Türkei zurzeit den Schwarzen Peter. In der Libération und dem New Republican schreibt der französische Philosoph Bernard-Henry Levy, dass über die künftige Mitgliedschaft der Türkei in der NATO nachgedacht werden müsse, wenn sie nicht in der vom »Islamischen Staat« (IS) belagerten syrisch-kurdischen Stadt Kobane eingreife. Levy vergisst dabei, dass es keine Politik der NATO, keine Entscheidung und keine Strategie des Bündnisses zum Kampf gegen den IS gibt. Doch was den Unmut über Ankara angeht, ist Levys Haltung nur die Spitze des Eisbergs. In Europa und den USA können viele nicht verstehen, dass 10.000 türkische Soldaten und Hunderte Panzer an der syrischen Grenze stehen, doch den bedrängten Kurden nicht zur Hilfe eilen. Staffan de Mistura, UN-Sonderbeauftragter für Syrien, bringt das Nichteingreifen der Türkei in Kobane gar mit der passiven Haltung jener holländischen UN-Soldaten in Verbindung, die 1995 die Enklave von Srebrenica den bosnischen Serben überließen und so mitschuldig am Tod von 8.000 muslimischen Männern wurden. Doch anders als damals die holländische Truppe hat die Türkei kein Mandat zum Schutz der belagerten Stadt. Nicht nur die Türkei, auch kein anderer Staat hat sich bereiterklärt, in Syrien Bodentruppen einzusetzen, und – wichtiger noch – die Kurden selbst wollen keine türkischen Truppen in ihrer Stadt. Sie fürchten das Ende der politischen Autonomie in den drei kurdischen Kantonen, die sie unter Führung der Partei der Demokratischen Union (PYD) erst vor zehn Monaten errichtet haben.

Wieso also wird die Türkei in aller Regel so negativ beurteilt? Gibt es sie tatsächlich, die internationale Verschwörung gegen die Türkei, wie der frühere Minister- und jetzige Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan heute genauso unermüdlich behauptet wie im Sommer 2013, als brutale Polizeieinsätze gegen Demonstranten das Image der Türkei als Land auf dem Weg nach Europa schwer beschädigt haben? Nein, Erdoğan muss vor der eigenen Schwelle kehren und einsehen, dass seine jetzige Politik sowohl im Inneren der Türkei als auch im Ausland nur auf Unverständnis und Ablehnung stoßen kann.

Starke Töne: Ankara gegen den Rest der Welt

Als Bedingung für eine Beteiligung am Kampf gegen den Terrorstaat pocht die Türkei darauf, dass eine Flugverbots- und eine Pufferzone etabliert werden. Da der IS keine Flugzeuge hat, würde sich ein Flugverbot jedoch nicht gegen den »Islamischen Staat«, sondern gegen das Regime von Baschar al-Assad richten. Und auch eine Pufferzone an der türkischen Grenze wäre kein Schlag gegen den IS. Sie würde es vielmehr ermöglichen, syrische Flüchtlinge in der Türkei zur Rückkehr zu drängen und der Autonomie der kurdischen Kantone ein Ende zu setzen. Damit zeigt Ankara, dass ihm nicht die Verhinderung eines Genozids durch den »Islamischen Staat« am Herzen liegt, sondern seine eigene Agenda. Eine solche Politik ist schlicht zynisch.

Sie ist außerdem gefährlich. Sobald das Ziel der Verbündeten unter Führung der USA nicht nur die islamische Terrormiliz, sondern auch Baschar al-Assad sei, wäre die Türkei bereit, über den Einsatz ihrer Soldaten nachzudenken, sagte Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu am 10. Oktober. Würde dieser Vorschlag wirklich umgesetzt, zerfiele der fragile Konsens gegen den IS, der den Iran und Russland bisher dazu bewog, die Bombardierung des IS in Syrien, dem Staatsgebiet eines Verbündeten, hinzunehmen – wenn auch mit großem Unmut. Würde Ankara sich durchsetzen, stünde der ganze Nahe Osten am Abgrund eines Krieges. Doch nicht nur deshalb bleibt die Türkei mit ihrem Vorstoß isoliert. Es ist ein Treppenwitz der internationalen Politik, wenn ausgerechnet der Iran ganz richtig darauf hinweist, dass Israel, solange der IS bestimmend bleibt, wenig Interesse an der Beseitigung des Assad-Regimes haben kann.

Pfeifen in der Dunkelheit

Schaut man genauer hin, entpuppen sich die starken Töne Davutoğlus und Erdoğans als Pfeifen in der Dunkelheit, mit dem sie sich Mut machen müssen. Denn nicht nur in Syrien, auch im Irak und in Ägypten ist ihre Politik gescheitert. Überall haben sie betont fromme sunnitische Muslime unterstützt, die heute in keinem dieser Länder entscheidende oder verlässliche politische Akteure sind. In Syrien war Ankaras Politik des Weiteren davon bestimmt, eine Autonomie der syrischen Kurden zu verhindern. Hierzu machte sich Ankara die Konkurrenz zwischen PKK-Führer Abdullah Öcalan und dem Präsidenten des föderalen Kurdenstaats im Irak, Mesut Barzani zunutze. Um Öcalan und die PKK zu schwächen haben Barzani und Erdogan, jeder auf seinem Territorium, monatelang den Zugang zu den kurdischen Kantonen in Syrien blockieren lassen, wo die PKK-nahe PYD den Ton angibt. Auch hier steht Ankara vor einem Scherbenhaufen. Barzanis Politik wird weithin als Verrat an der kurdischen Sache aufgefasst, die PYD und auch die PKK dagegen haben international an Zulauf und an Ansehen gewonnen.

Auch im Innern zahlt Ankara für seine falsche Politik einen hohen Preis. Türkeiweit haben Kurden dagegen protestiert, dass Ankara die Grenzen für kurdischen Nachschub nach Kobane geschlossen hält. Zusammenstöße zwischen Kurden, Islamisten und türkischen Nationalisten kosteten bislang 37 Personen das Leben. Die Hoffnungen auf einen Frieden mit der PKK sind weitgehend verflogen. Der eineinhalb Jahre währende Waffenstillstand mit der PKK ist zu Ende. In der Türkei ist der Bürgerkrieg zurück.

Im Grunde wissen Erdoğan und Davutoğlu nicht, wie es jetzt weiter gehen soll. Noch sind sie nicht bereit, ihren Traum davon zu begraben, dass die Türkei über den Einfluss auf sunnitisch-muslimische Akteure im Nahen Osten zur Regionalmacht wird. Und noch immer schrecken sie davor zurück, die gemeinsamen Interessen der säkularen türkischen Republik und der säkularen kurdischen Bewegung anzuerkennen.

Dieses »Kurz gesagt« ist auch bei Handelsblatt.com und Euractiv.de erschienen.