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Nach der »noblen Einsamkeit«: Die Türkei rudert in der Außenpolitik zurück

Die Türkei wähnte sich bereits als Regionalmacht. Nun beginnt die türkische Führung, dies als Irrtum zu erkennen. Die außenpolitische Kooperation mit dem Land könnte schon bald wieder leichter sein, meint Günter Seufert.

Kurz gesagt, 14.10.2013 Research Areas

Die Türkei wähnte sich bereits als Regionalmacht. Nun beginnt die türkische Führung, dies als Irrtum zu erkennen. Die außenpolitische Kooperation mit dem Land könnte schon bald wieder leichter sein, meint Günter Seufert.

Selbst die Anhänger der türkischen Regierungspartei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) sind vom Ergebnis der neuen Außenpolitik von Ahmet Davutoğlu enttäuscht. Nur 53 Prozent der AKP-Wähler halten etwa die Syrienpolitik für richtig, in der Gesamtgesellschaft sind 56 Prozent dagegen. Doch die türkische Außenpolitik ist nicht nur in Syrien an ihre Grenzen gestoßen. Auch in anderen Feldern hat es nur wenige Fortschritte gegeben: Ob Zypern, Griechenland oder Armenien - keines der „alten“ Probleme der Türkei mit ihren nichtmuslimischen Nachbarn ist gelöst. Überdies sind die Beziehungen mit ihren muslimischen Nachbarn Iran und Irak - mit Ausnahmen des kurdischen Nordirak - sowie mit Ägypten gespannt. Im Palästinakonflikt hat die AKP ihren früheren Einfluss auf die Beteiligten verloren. Weder schaut man in Israel nach Ankara, noch bei der PLO oder der Hamas. Von der Regionalmacht Türkei ist wenig geblieben. Selbst in den USA, für die Erdoğan und Davutoğlu noch bis vor kurzem fast Partner auf Augenhöhe waren, ist Ankara heute ein Faktor unter ferner liefen. Von dem Verhältnis der Regierung zur EU will man am liebsten gar nicht erst reden.

Trotzdem, von Selbstkritik gibt es im offiziellen Ankara so gut wie keine Spur. Für Ministerpräsident Recep Erdoğan und seinen außenpolitischen Chefberater Ibrahim Kalın ist die Türkei heute der einsame Rufer, der in der Außenpolitik die Demokratie hochhält. Erdoğan beschuldigt den Westen der Doppelzüngigkeit, und Kalın sagt: „Es gibt Momente, da bleibt die Welt angesichts von Militärputschen und Massakern stumm, und man steht bei der Verteidigung der Wahrheit ganz alleine da.“ Beide behaupten, die bedingungslose Solidarität der türkischen Regierung mit der ägyptischen Muslimbruderschaft und das Drängen Ankaras auf einen Militärschlag zum Sturz Baschar al-Assads seien direkt dem Einsatz für demokratische Werte geschuldet. Weil die Türkei in diesen beiden Fragen relativ isoliert ist, spricht Kalın jetzt von einer "noblen Einsamkeit", die ihren Wert auch daraus bezieht, dass sie letztendlich die richtige Orientierung vorgibt. Ist das nur Irrtum oder schon Verblendung?

Ideologische Träumereien verstellen den Blick auf politische Realitäten

Diese trügerische Sicherheit rührt zu einem großen Teil daher, dass die Führungsriege der Partei globale politische Veränderungen bislang durch eine ideologisch stark gefärbte Brille und damit nur einseitig wahrnahm. Zum Beispiel die neue globale Konstellation: Die wirtschaftliche und politische Schwächung Europas und der Rückgang des Einflusses der USA im Nahen Osten galten der AKP ausschließlich als eine Chance für die erneute Etablierung einer einflussreichen Türkei in der Region. Eine neu im Nahen Osten verankerte Türkei, war man sich sicher, könne dort mühelos an die Traditionen des Osmanischen Reiches anknüpfen. Lange hat die Parteiführung geglaubt, sie sei ausersehen, der Geschichte der Türkei eine neue, ideale Wendung zu geben. Dass die Auflösung der alten  Ordnungen gerade im Nahen Osten auch neue Gefahren und Herausforderungen mit sich bringt, die eine umso engere Kooperation Ankaras mit Europa und den USA notwendig machen könnten, trat dabei in den Hintergrund.

Ein anderes Beispiel ist die weltweit zu beobachtende Schwächung des Nationalstaates. Noch vor sechs Monaten hat Ahmet Davutoğlu dessen Überwindung im Nahen Osten begrüßt. Jetzt sei es endlich möglich, meinte er, die Ordnung des Vertrags von Sykes-Picot von 1916 zu revidieren, der die Grenzen von nahöstlichen Staaten wie dem Irak und Syrien im Sinne der Interessen europäischer Imperialisten gezogen habe. Erneut fühlte sich Ankara im Einklang mit dem aktuellen Puls der Weltgeschichte, und erneut ging es um die Projektion eigener Stärke in die Region, die aus einem romantischen Geschichtsbild abgleitet wurde. Vollkommen übersehen wurden bei diesen Träumereien die enormen Konflikte, die beim Zerfall eines Staates und seiner Institutionen entstehen. Die Katastrophen im ehemaligen Jugoslawien und die schreckliche Lage im Irak hätten indes reichlich Anschauungsmaterial für eine nüchterne Einschätzung der Situation und der damit einhergehenden Gefahren geboten.

Ein letztes Beispiel betrifft die Begeisterung der AKP für die Wiederbelebung und Stärkung traditioneller Identitäten. Auch hier sah sich die Regierungspartei im Einklang mit dem Trend der Zeit, der überall, von China bis nach Afrika, einheimische und religiöse Identitäten auf Kosten westlicher und säkularer Orientierungen stärke. Im eigenen Land hat die AKP viel dafür getan, dass fromme Muslime in der Türkei nicht länger kulturell, wirtschaftlich und politisch marginalisiert werden. Doch längst ist aus dem Kampf gegen die Marginalisierung der Frommen die offene Bevorzugung und Privilegierung religiöser Identität und Moral durch die Regierung geworden. Dass eine solche Politik auch andere Gruppen, besonders Kurden und Alewiten, aber auch säkulare Kräfte dazu bringt, sich stärker auf das Eigene und damit automatisch auf das gesellschaftlich Trennende zu konzentrieren, sieht die Regierung noch heute nicht, oder sie will es nicht sehen. Sie hat jedenfalls keine Antwort auf die Frage, wie die Bevorzugung bestimmter religiöser und ethnischer Identitäten mit politischer Gleichheit zusammengehen soll.

Die Schwächung Europas, die Krise des modernen Nationalstaats und die Wiederbelebung einheimischer Identitäten: die AKP sah überall nur die für sie positiven Seiten der Medaille und glaubt sich deshalb im Einklang mit der globalen Entwicklung. Das erklärt, warum Ankara sich lange als Regionalmacht sah und auf gegensätzliche Signale fast gar nicht reagierte - und warum sie heute ungeachtet der Realitäten die These von der "noblen Einsamkeit" vertritt.

Auf der „noblen Einsamkeit“ aber wird sie nicht lange beharren. Tatsächlich rudert die Türkei schon vorsichtig zurück. Mit Teheran will man sich erneut ins Benehmen setzten. Und der Wunsch Washingtons, die Unterstützung für radikale Gruppen in Syrien einzustellen, stößt in Ankara nicht länger auf taube Ohren. Die außenpolitische Kooperation mit der Türkei könnte wieder leichter werden.

Der Text ist auch bei EurActiv.de und Handelsblatt.com erschienen.