Am 3. November schließen die Westbalkanstaaten im Rahmen des Berliner Prozesses Abkommen, mit denen sie näher zusammenrücken. Befördert wird eine engere regionale Kooperation aber auch von der aus der Region selbst stammenden »Open Balkan«-Initiative, meint Margit Wunsch Gaarmann.
Wenn Anfang November der Westbalkangipfel mit Spitzenpolitikern der EU in Berlin stattfindet, unterzeichnen die Staats- und Regierungschefs der sechs Westbalkanstaaten drei Abkommen für eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit. Das Treffen findet im Rahmen des Berliner Prozesses statt, der seit 2014 das Ziel verfolgt, die regionale Integration zu fördern. Mit ähnlicher Zielsetzung, nämlich einer engeren regionalen Kooperation, wurde auch die »Open Balkan«-Initiative ins Leben gerufen.
Mit dem Ziel, den freien Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital unter den Mitgliedern zu ermöglichen, unterzeichneten Albanien, Serbien und Nordmazedonien 2019 Vereinbarungen, die zunächst unter dem Namen »Mini-Schengen« und seit 2021 unter »Open Balkan«-Initiative (OBI) gefasst werden. Der Fokus liegt dabei auf wirtschaftlichen Themen, die das alltägliche Leben der Bürgerinnen und Bürger spürbar verbessern sollen. So sind erklärte Ziele die gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen und Arbeitserlaubnissen sowie Kooperationen beim Katastrophenschutz und der Ernährungssicherheit.
Bisher beschränkt sich die Initiative, die besonders von den USA unterstützt wird, auf intergouvernementale Formate und umfasst keine institutionelle Ausgestaltung, wie es zum Beispiel beim Regional Cooperation Council der Westbalkanstaaten in Sarajevo der Fall ist. Auch ein Vertrag liegt nicht vor, weshalb es schwer ist, ein klares Ziel und somit einen Erwartungshorizont zu definieren. Stattdessen gibt es eine offene Einladung an alle Länder des Westbalkans, sich bei allen oder ausgewählten Projekten zu beteiligen. Beispielsweise fallen ab Januar 2023 für die drei Mitgliedstaaten der OBI viele Beschränkungen beim Zoll und Kapitaltransfer weg. Nach Schätzungen der Weltbank werden diese Maßnahmen 30 Millionen Stunden Wartezeit und 3,2 Milliarden Euro einsparen.
Trotz dieser positiven Impulse sind bisher nur drei der sechs Westbalkanstaaten Mitglied der OBI. Kosovo möchte jeden Eindruck vermeiden, sich mit einem »Warteraum« statt einer vollwertigen EU-Mitgliedschaft zufrieden zu geben. Durch seine kompromisslose Ablehnung gegenüber der von Serbien mitgegründeten Initiative kann der kosovarische Premierminister Albin Kurti innenpolitische Stärke beweisen. Zudem richteten sich Aufrufe zur Kooperation bisher an »die provisorischen Pristina Institutionen«, um Serbiens Nicht-Anerkennung von Kosovo zu unterstreichen, sodass schon alleine diese wichtige Formalität Grund zu einer Absage ist.
Die Regierungen von Montenegro und Bosnien-Herzegowina sind dagegen gespalten. In Sarajevo unterstützt der serbische Teil der Regierung die OBI, die vom bosnischen und kroatischen Teil abgelehnt wird. Somit wird die Initiative zum politischen Spielball einer Blockadepolitik und nicht unbedingt inhaltlich bewertet. Auch in Podgorica sind sich Regierungsmitglieder uneinig. Mit dem Argument, das Land sei am Weitesten auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft, soll keine neue Initiative diesen Weg gefährden. Jedoch signalisierte Montenegro zuletzt auch Interesse und nahm am »Open Balkan«-Treffen in Ohrid als Beobachter teil.
Von der EU erfährt die OBI anscheinend nur wenig aktive Unterstützung. Mit Verweis auf den Berliner Prozess, der das Ziel verfolgt, die Region in Richtung EU-Mitgliedschaft zu begleiten, werden Dopplungen befürchtet, die in der Tat nicht auszuschließen sind. Beispielsweiße wurden im Oktober 2022 im Rahmen einer Westbalkan-Konferenz Abkommen zwischen allen sechs Westbalkanstaaten abschließend verhandelt, deren Inhalt auch im Juni 2022 von den drei Ländern der OBI beschlossen worden war. In beiden Fällen ging es um die Anerkennung von Personaldokumenten und der gegenseitigen Anerkennung von Abschlüssen und Berufsqualifikationen.
Diese Dopplung kann aber auch als beabsichtigt gedeutet werden. Denn bereits 2021 begannen die Verhandlungen dieser Abkommen im Rahmen des Berliner Prozesses. Aufgrund von Unstimmigkeiten zwischen Serbien und Kosovo konnte jedoch lange kein Kompromiss gefunden werden. Im Juni 2022 beschlossen dann die drei OBI-Länder, mit dem Vorhaben voranzuschreiten, was jedoch hinfällig wurde, als im August 2022 doch ein Kompromiss zwischen Serbien und Kosovo erreicht wurde und die Abkommen zwischen allen sechs Balkanstaaten am 3. November in Berlin unterschrieben werden konnten. Solche Begebenheiten veranlassen den albanischen Premierminister Edi Rama vermutlich zur etwas aufbauschenden Beurteilung, die OBI sei ein »Implementierungswerkzeug« des Berliner Prozesses.
Insgesamt sollte man die OBI ergänzend zum Berliner Prozess sehen. Denn neben der engeren regionalen Zusammenarbeit, die von den Westbalkanstaaten selbst gestaltet wird, bleibt es wichtig, dass die Länder des Westbalkans eng in den Entscheidungsfindungsprozess der EU eingebunden sind, sei es beim gemeinsamen Kauf von Gas, bei der Migration über die sogenannte Balkan-Route, der Umsetzung der grünen Agenda oder der Bekämpfung von Cyber-Kriminalität.
Zudem ist es von hoher symbolischer Bedeutung, dass nach über 40 regionalen Initiativen in den vergangenen 25 Jahren, diese aus der Region selbst kommt und somit mit der oft beschworenen »local ownership« behaftet ist. Alleine dass Albanien und Serbien, die politisch keineswegs natürliche Verbündete sind, diese Initiative gemeinsam ins Leben gerufen haben, ist bemerkenswert. Über den Symbolwert hinaus birgt die OBI weitere Möglichkeiten. Eine erhöhte regionale wirtschaftliche Integration kann ausländische Investitionen ankurbeln und die Länder wirtschaftlich stärken. Dies wiederrum kann die Länder des westlichen Balkans besser für die Integration in den EU-Binnenmarkt vorbereiten und unter anderem auch dem »Brain Drain« aus der Region entgegenwirken.
Beitrittsverhandlungen, Assoziierung und neue Formate aufeinander abstimmen
doi:10.18449/2022A48
Weil die Perspektive einer EU-Mitgliedschaft für den Westbalkan in weite Ferne rückt, haben sich sechs Länder der Region zum »Investitionsforum Westbalkan 6« zusammengeschlossen. Ihr Ziel: Grundfreiheiten der EU verwirklichen.
Das Wohlstandgefälle zwischen den Staaten des Westbalkans und Westeuropa zeigt: Der Beitrittsprozess trägt nicht zur Verbesserung der Bedingungen in der Region bei. Barbara Lippert und Dušan Reljić diskutieren die Frage, ob die EU nun ernst mit der Erweiterung machen oder sich zum Scheitern des Prozesses bekennen sollte. Moderation: Alexander Moritz.