Schon jetzt ist abzusehen, dass das Vorgehen der Türkei in Nordsyrien gravierende innen- und außenpolitische Folgen haben wird. Die EU sollte nicht weiter tatenlos zusehen, meint Günter Seufert.
Noch kann niemand wissen, wie weit die Türkei ihren Einmarsch in Syrien treiben wird. Donald Trump und Recep Tayyip Erdoğan, die beiden Männer, deren Übereinkunft die türkische Operation ermöglicht hat, streiten fast täglich über die Grenzen dieser Invasion. Unklar ist auch, bis zu welchem Punkt das syrische Regime und seine Schutzmacht Russland den Vorstoß der Türkei als nützlich für ihre eigenen Pläne werten. Doch eine Reihe von Ergebnissen und Folgen dieses Einmarschs sind jetzt schon abzulesen.
Innenpolitisch hat sich der Einmarsch für den türkischen Präsidenten bereits ausgezahlt. Um ihre langfristige Zusammenarbeit mit der rechtsnationalen Guten Partei (IyiP) zur Wiedereinführung des parlamentarischen Systems nicht zu gefährden, hat auch die größte Partei der Opposition, die Republikanische Volkspartei (CHP), dem Einsatz zugestimmt. Er kenne jetzt nur noch eine Partei, die der türkischen Flagge, sagte Oppositionsführer Kemal Kılıcdaroglu. Er unterwarf sich damit der Rhetorik des Präsidenten von der existentiellen Gefahr, die die kurdische Selbstverwaltungszone in Nordsyrien für das wirtschaftlich und militärisch stärkste Land im Nahen Osten darstelle. Das Einknicken der CHP besiegelt die Ausgrenzung der prokurdischen HDP aus diesem militanten nationalen Konsens. Es gießt Wasser auf die Mühlen der Regierung, die die HDP nun schon seit Jahren als den politischen Arm einer Terrororganisation betrachtet und entsprechend behandelt. Ruft man sich in Erinnerung, dass die Erfolge der Opposition bei den Kommunalwahlen im Frühjahr und im Sommer dieses Jahres nur durch die Stimmen der HDP-Wähler für die Kandidaten der CHP möglich waren, wird klar, welchen großen Rückschlag das für die innenpolitische Machtfrage bedeutet. Konnte die Opposition der Regierungspartei bei diesen Wahlen doch Istanbul und Ankara sowie fast alle Industriezentren des Landes abjagen und damit Hoffnungen wecken, dass mittelfristige Veränderung und erneute Demokratisierung möglich sind.
Sicher ist auch, dass der Einmarsch in Nordsyrien die Wirtschaftskrise der Türkei verstärken wird. Schon steigt der Dollar wieder, und die Lira fällt. Um der hochverschuldeten Privatwirtschaft beispringen zu können, hat Ankara im letzten Jahr seine bis dahin strikte finanzielle Disziplin über Bord geworfen und wird sich jetzt zu hohen Zinsen weiter verschulden müssen.
Außenpolitisch hat der Einmarsch die türkisch-amerikanischen Beziehungen wohl dauerhaft beschädigt. Bereits seit Jahren verfolgen Ankara und Washington im Nahen Osten gegensätzliche Interessen, und ihre jeweiligen Bedrohungswahrnehmungen unterscheiden sich fundamental. In Ankaras Augen hat die Politik der USA im Nahen Osten zur Unterminierung der Sicherheit von Staaten, wenn nicht gar zu deren Zerstörung geführt; die gravierendsten Beispiele sind Afghanistan und der Irak. Heute sieht sich Ankara einer informellen Front aus Saudi-Arabien, den VAE, Ägypten und Israel gegenüber, die von den USA geschmiedet wurde. Auch im Hinblick auf Syrien bildeten sich zwischen den beiden Regierungen schnell unterschiedliche Prioritäten heraus. Im Verlauf des Krieges wurden für die Türkei die PYD-geführten Kurden zur Hauptbedrohung; für die USA standen bald die Dschihadisten im Vordergrund. Die »Sicherheitszone«, die die Türkei nun in Syrien etablieren will, sollte noch bis vor kurzem von Türken und Amerikanern gemeinsam geschaffen und kontrolliert und so die bilateralen Beziehungen auf eine neue Grundlage gestellt werden. Jetzt wird gerade dieses Thema zu einem weiteren Zankapfel. Mehr noch, der Ton, den Donald Trump, aber auch seine Washingtoner Kontrahenten in ihren Tweets Ankara gegenüber anschlagen, hat dort zu erheblicher Verbitterung und zu der Auffassung geführt, dass die Türken im gesamten politischen Spektrum der USA keinen einzigen verlässlichen Partner mehr haben.
In Syrien selbst wird mit der Invasion ein neuer und dauerhafter Krisenherd entstehen. Die ausgereiften Pläne der türkischen Regierung zum Aufbau von 140 neuen Dörfern und zehn neuen Kleinstädten, die zusammen zwei Millionen Flüchtlinge aufnehmen sollen, sind nur ein Indiz dafür, dass die Türkei sich dort langfristig engagieren will. Seit langem schon klagt Ankara, die Kurden hätten in der Region die arabische Bevölkerung vertrieben, ein Hinweis darauf, dass die Türkei dort die Ansiedlung sunnitischer Araber plant. In der von Ankara aus den Resten der »Freien Syrischen Armee« neu geformten syrischen Miliz »Nationale Armee« haben – wie verschiedene Quellen übereinstimmend berichten – auch frühere Kämpfer der dschihadistischen Al Qaida bzw. Al Nusra und der ebenfalls als Terrororganisation gelisteten Haiat Tahrir al-Sham Platz. Diese Armee bildet die Vorhut des Einmarsches und wird bei der später zur etablierenden »Selbstverwaltung« der Region eine zentrale Rolle spielen. Die Einbeziehung solcher Kräfte und die Bombardierung ziviler Siedlungen legen nahe, dass die türkische Regierung die demographische Struktur in der Region gründlich umbauen will. Es darf auch nicht vergessen werden, dass früher oder später die letzte Hochburg der Dschihadisten im syrischen Idlib fallen wird, wo circa 2,5 Millionen Menschen leben, die Ankara nicht zusätzlich zu den 3,5 Millionen Flüchtlingen haben will, die bereits jetzt im Lande sind. Die türkische Regierung möchte am liebsten auch diese zukünftigen Flüchtlinge – viele von ihnen militante Islamisten und ihre Familien – im Nordosten Syriens ansiedeln. Es ist deshalb nicht auszuschließen, dass die von der Türkei angestrebte »Sicherheitszone« nicht nur zu einem arabischen Gürtel wird, der türkische und syrischen Kurden trennt, sondern sich zu einem neuen Brennpunkt dschihadistischer Aktivität entwickelt.
Russland und der Iran werden schon mittelfristig die eigentlichen Nutznießer des türkischen Vorgehens sein. Mit den Kurden verlieren die USA ihre einzigen Verbündeten in Syrien und ihre »Bodentruppen«, weshalb das Engagement der USA in Syrien zu seinem Ende kommen wird. Vom Westen ausgegrenzt, steht Ankara in Syrien dann Russland, dem Iran und Damaskus alleine gegenüber. Als Schutzherr radikal-islamischer Gruppen in Afrin, der Region Al-Bab und im Nordosten Syriens droht der Türkei dann auch in der Region Isolation. Man kann dem Land nur wünschen, dass seine Pläne nicht aufgehen.
Was kann Europa tun, um diese Entwicklung zu verhindern? Die schlechteste Option ist wohl, sich wie bisher tot zu stellen und untätig zu bleiben. Entweder kommt man Ankara wirtschaftlich und politisch entgegen und setzt dafür klare Bedingungen, z.B. den Verzicht auf die Bombardierung ziviler Siedlungen und auf die Manipulation der demographischen Struktur. Oder man einigt sich auf eine konfrontative Strategie, die allerdings – so wie ihr Gegenteil: die Unterstützung – nur Wirkung haben wird, wenn die EU mit einer Stimme spricht.
Dieser Text ist auch bei Handelsblatt.com, Tagesspiegel.de und auf Zeit Online erschienen.
Offensive gegen Kurdenmiliz
Interview in: Tagesschau, 7.10.2019, online verfügbar.
doi:10.18449/2019A04
Die Grenzen kurdischer Politik
Grenzüberschreitender »Kampf gegen die PKK« zur militärischen Lösung der eigenen Kurdenfrage
Die USA und Russland setzen auf die PYD – Washington militärisch, Moskau auch politisch