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Kurden unter Druck: Die Folgen des US‑Truppenabzugs für den PKK-Ableger in Syrien

SWP-Aktuell 2019/A 04, 30.01.2019, 8 Pages

doi:10.18449/2019A04

Research Areas

Am 19. Dezember 2018 kündigte US-Präsident Donald Trump an, die mehr als 2000 im Norden und Osten Syriens stationierten US-Truppen innerhalb von 30 Tagen abzuziehen. Der Nationale Sicherheitsberater des Präsidenten, John Bolton, und andere ver­suchten daraufhin, den Rückzug aufzuschieben und an Bedingungen zu knüpfen. Noch ist deshalb unklar, wann die Amerikaner ihre Soldaten zurückholen, doch dürfte dies noch 2019 geschehen. Trumps Entscheidung hat Folgen insbesondere für die syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), die gemeinsam mit den US-Truppen die syrischen Regionen östlich des Euphrat vom »Islamischen Staat« (IS) befreit haben. Die Türkei hat mehrfach angekündigt, militärisch zu intervenieren, um die kurdische Organisation zu zerschlagen. Auch die syrische Regierung hat erklärt, dass sie »jeden Zentimeter Syriens« zurückgewinnen will. Es droht ein Wettlauf um die Kontrolle über die Kurdengebiete, deren Autonomie damit schon bald ihr Ende finden dürfte.

Die gegenwärtige Situation der Kurden in Syrien ist das fast zwangsläufige Resultat der amerikanischen Vorgehensweise bei der Bekämpfung des IS in diesem Land. Spä­testens im Jahr 2015 entschied sich die Obama-Administration endgültig, zu die­sem Zweck mit den YPG zusammen­zuarbei­ten. Dieser Entschluss war problematisch, denn die Türkei betrachtet die syrische Kurdenmiliz als Ableger der türkischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und damit als gefährliche Terrororganisation. Seit 2015 führte die Kooperation mit den YPG immer wieder zu Spannungen zwischen Washington und Ankara.

Die Kurden in Syrien

Im Jahr 2011, kurz vor Beginn des syrischen Bürgerkriegs, lebten in Syrien zwischen zwei und drei Millionen Kurden. Damit stellten sie etwa zehn Prozent der Bevölkerung von etwa 24 Millionen. Heute dürfte die abso­lute Zahl der Kurden im Land auf­grund von Flucht und Vertreibung deutlich niedriger sein. Die kurdische Be­völkerung lebt mehrheitlich in drei Gebie­ten nahe der türkischen Grenze: in der Provinz Hasaka mit den Städten Hasaka und Qamishli im äußersten Nordosten des Landes, in der Umgebung der Stadt Ain al‑Arab/Kobanê im zentralen Norden und in der Region um die Stadt Afrin im Nordwesten. Außerdem leben viele Kurden in den Großstädten Aleppo und Damaskus.

Die Lebensumstände waren für die Kur­den in Syrien lange Zeit noch kritischer als in der Türkei und im Iran. Ein Grund dafür war die brutale Repression aller oppositionellen Bestrebungen durch das Regime. Für die Kurden war die Lage besonders schwie­rig, weil sie als stärkste ethnische Minderheit in einem Staat, der sich seit Be­ginn der Herr­schaft der Baath-Partei im März 1963 als Bannerträger des arabischen Nationalismus sah, als außerordentlich gefährliche Bedrohung galten. Das Ergebnis waren sehr weitgehende Diskriminierungen. Im Nach­gang einer Volkszählung im Jahr 1962 wurde rund 120 000 Kurden die syrische Staats­angehörigkeit aberkannt. Sie und ihre Nachfahren galten den syrischen Behörden seither als geduldete Staatenlose. Die Zahl dieser Ausgebürgerten – die wie­derum in registrierte (ajanib) und unregis­trierte (mak­tumin) Staatenlose unterteilt wurden – dürfte 2011 bei über 300 000 ge­legen haben.

Nach 1963 ersann die syrische Regierung noch weitergehende Maßnahmen. In den 1960er Jahren entwickelte sie den Plan eines »Arabischen Gürtels«, der die kurdi­schen Bevölkerungszentren in Syrien von denen in der Türkei und im Irak trennen sollte. Aus einem Gebiet von 280 Kilo­metern Länge und 15 Kilometern Breite sollten die Kurden im syrischen Nordosten weiter ins Landesinnere deportiert werden. Zwar wurde dieser Plan nur teilweise und für wenige Jahre verwirklicht, doch die Um­siedelungen schufen in den betroffenen Regionen eine schwierige Gemengelage, die einer der Gründe für die nach 2011 zahl­reichen Konflikte zwischen Arabern und Kurden gewesen ist. Die schweren Diskriminierungen, die alle Kurden im Nordosten trafen, blieben bis 2012 bestehen. So durfte in den Schulen und Universitäten nicht in kurdischer Sprache gelehrt werden und kurdische Publikationen waren verboten. Auch Feiern anlässlich des kurdischen Neu­jahrsfestes Newroz wurden immer wieder aufgelöst. Kurden waren auf allen Hierarchiestufen des öffentlichen Dienstes – dem mit Abstand wichtigsten Arbeitgeber in Syrien – stark unterrepräsentiert. Dies galt in besonderem Maße für die Sicherheitskräfte, in denen Kurden proportional noch schwächer vertreten waren.

Nach der amerikanischen Invasion im Irak 2003 verschärfte die syrische Regierung die Politik gegenüber den Kurden noch. An­lass war das Erstarken der irakischen Kur­den unter der Führung von Masud Barzani und Jalal Talabani, die ihre im Nordirak seit 1991 de facto bestehende Autonomiezone unter dem Schutz der US-Truppen konsolidieren konnten. Diese Entwicklung erhöhte das Misstrauen der Assad-Regierung gegen­über den eigenen Kurden. Häufig wurde der Vor­wurf laut, diese wollten die Einheit des syri­schen Staates sprengen. Als im März 2004 im kurdischen Nordosten Unruhen aus­brachen, deren Wellen bis in kurdischen Viertel von Damaskus reichten, wur­den sie brutal niedergeschlagen.

Syrien und die PKK/PYD bis 2014

Besonders hart traf die erneute Verfolgungs­welle die Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekitîya Demokrat, PYD), die 2003 als syrische Teilorganisation der tür­kischen PKK gegründet wurde. Da die PYD 2004 zu Protesten aufrief und dem Assad-Regime als wachsende Gefahr galt, wurden ihre Anhän­ger besonders kompromisslos verfolgt.

Dass die PYD für Damaskus zu einem Problem wurde, war auch eine Folge der bis 1998 währenden Unterstützung der PKK durch die syrische Führung. Zwischen 1979 und 1998 hielt sich der PKK-Führer Abdul­lah Öcalan in Syrien auf, seine Organisation hatte hier ihr Hauptquartier und unterhielt Trainingslager in der – damals syrisch kon­trollierten – Bekaa-Ebene im Libanon. Dem syrischen Präsidenten Hafiz al-Assad, der das Land von 1970 bis 2000 diktatorisch re­gierte, ging es vor allem darum, ein Druck­mittel gegenüber Ankara in der Hand zu haben. Da die PKK ausschließlich den türki­schen Staat bekämpfte und sich nicht um die schlechten Lebensbedingungen der syri­schen Kurden kümmerte, war sie dem Assad-Regime willkommen. Die syrischen Behörden ließen sogar zu, dass sich viele einheimische Kurden der PKK anschlossen. Diese stellten seit den 1990er Jahren immer bis zu knapp einem Drittel der Kämpfer und Kämpferinnen der Organisation; bis kurz vor Beginn des Bürgerkriegs in Syrien sollen rund 4000 Syrer im Kampf für die PKK getötet worden sein. Ein Grund für die Popularität der türkischen Gruppierung unter syrischen Kurden dürfte die Tatsache gewesen sein, dass es keine starken syrisch-kurdischen Organisationen gab, da der syri­sche Staat alle Ansätze dazu unterdrückte. Hinzu kam, dass zwischen den syrischen und türkischen Kurden enge familiäre, kul­turelle und sprachliche Bindungen bestan­den, die trotz aller Schwierigkeiten die Ent­stehung und Konsolidierung der Nationalstaaten im Nahen Osten überdauert haben.

Die Situation änderte sich 1998, als Syrien unter massivem türkischem Druck – türki­sche Truppen waren an der syrischen Gren­ze aufmarschiert – seine Unterstützung für die PKK aufgab, Öcalan auswies und sich bereiterklärte, bei der Bekämpfung der PKK mit Ankara zusammenzuarbeiten. Die Orga­nisation zog sich mit ihrem Haupt­quartier in die Kandil-Berge im Nordirak zu­rück und wandte sich in ihren Statements seitdem zunehmend gegen die Regierung in Damaskus. Da die Zahl der syri­schen Kämp­fer in der PKK hoch blieb – 2009 soll sie bei etwa 1500 Männern und Frauen gelegen haben – bestand aus Sicht des Assad-Regimes die Gefahr, dass sie in ihr Heimat­land zurückkehren und dort gegen die Machthaber kämpfen könnten. Innerhalb der Organisation wuchs in den 2000er Jah­ren eine Generation junger Kurden heran, die deutlich transnationaler dachte und operierte als die alte PKK. Die älteren Kader, einschließlich der Syrer unter ihnen, waren ganz auf einen herkömm­lichen Guerillakrieg gegen den türkischen Staat im Süd­osten des Landes fokussiert. Viele jüngere Kämpfer glaubten jedoch, dass die PKK für die Befreiung aller kurdischen Gebiete ein­treten sollte – einschließlich derjenigen in Syrien. Dies erklärt die harte Linie des Assad-Re­gimes gegenüber der neu gegründeten PYD. Doch trotz aller Gegenmaßnah­men des syrischen Staates konnte sich die PYD im Untergrund halten. Dort festigte sie in den Folgejahren ihre Strukturen und gründete die YPG als ihren militärischen Arm. Ab 2008 begann die PYD auch, einen eigenen Sicherheitsapparat aufzubauen, aus dem später ihre Geheimpolizei (Asayiş) hervorging.

Die Stunde der PYD schlug, als Syrien nach einer Reihe von Protesten, die 2011 begannen, im Folgejahr in den Bürgerkrieg abrutschte. Um die Kurden davon abzuhalten, sich den sunnitisch-arabischen Aufstän­dischen anzuschließen, sah sich Bashar al‑Assad gezwungen, Zugeständnisse zu machen: Viele kurdische »Staatenlose« er­hielten damals auf Anweisung des Präsi­den­ten syrische Papiere, inhaftierte PYD-Mit­glie­der wurden freigelassen. Parallel ent­sandte die PKK mehrere Hundert Funktio­näre und Kämpfer aus den Kandil-Bergen nach Hasaka, damit diese dort Führungs­positionen in der PYD und in den YPG über­nehmen konnten. Da das Regime aufgrund von massenhaften Desertionen, Niederlagen und Krisenherden in anderen Landesteilen nicht mehr in der Lage war, auch im Norden und Nordosten präsent zu bleiben, zogen sich die Verwaltung, die Sicherheitskräfte und das Militär im Juli/August 2012 aus den kurdischen Gebieten zurück. Die PYD mit ihren Milizkräften stellte die vor Ort mit Ab­stand stärkste kurdische Organisation dar und übernahm die Kontrolle in den von Damas­kus geräumten Regionen. Die Macht­übernahme verlief gewaltlos und nach Ab­sprache zwischen der syrischen Regierung und der PYD; die Regime­einheiten sollen den Kurden auch Material und Waffen über­lassen haben. Einige syrische Truppen und Sicherheitskräfte blieben weiterhin in den Städten Qamishli und Hasaka. In Qamishli kontrollierten sie den geschlossenen Grenz­übergang zur Türkei, einen Teil der Innen­stadt und den Flug­hafen. In Hasaka blieben Militär- und Polizeikräfte in einem Stütz­punkt am Stadtrand und in Behörden in der Stadt präsent. Regierungstreue Milizen operieren bis heute in beiden Städten.

Die PYD

Teilorganisation der PKK

Bis 2012 bestätigten die PYD und ihre Ver­treter gerne und häufig ihre Bindung an die PKK. Die PYD ist ein Teil der im Jahr 2007 gegründeten »Union der Gemeinschaften Kurdistans« (KCK), einer PKK-Frontorganisa­tion, die als Dachverband für die PKK-Teil­gruppierungen in der Türkei, im Irak (PÇDK), im Iran (PJAK) und in Syrien (PYD) dient. An der Spitze der KCK steht der seit 1999 in der Türkei inhaftierte Abdullah Öcalan, der in der Regel als »Führer« (önder, rêber) oder »Onkel« (apo) bezeichnet wird und über seine Anwälte aus dem Gefängnis Anweisungen nach außen kommuniziert. Diese betreffen vor allem Grundlinien der Ideologie und Strategie, die von der PKK-Führung in den Kandil-Bergen befolgt werden.

Das wichtigste Entscheidungsgremium der PKK ist der KCK-Exekutivrat, der von einer männlich-weiblichen Doppelspitze angeführt wird. Faktisch ist es aber Cemil Bayık (alias Cuma), ein Mitbegründer der Organisation, der seit Juli 2013 als Vor­sit­zender des Exekutivrats der KCK und damit als PKK-Anführer fungiert. Fast ebenso mächtig ist Murat Karayılan (alias Cemal), der bis Juli 2013 die Nummer zwei nach Öcalan war und die KCK anführte, bevor er Bayık Platz machen musste und zum Ober­befehlshaber der PKK-»Volksverteidigungs­kräfte« (HPG) ernannt wurde. Der für die PYD wichtigste Funktionär in der PKK-Spitze ist aber der syrische Kurde Fahman Husain (alias Dr. Bahoz Erdal), der als einer der mächtigsten PKK-Kommandeure über­haupt gilt. Presseberichten zufolge wurde er 2002 von Öcalan beauftragt, die PYD als syrische Zweigstelle aufzubauen und an­schließend aus dem Hintergrund zu führen. Husain soll über Kontakte zu den Geheim- und Sicherheitsdiensten des Assad-Regimes verfügen. Über diese Kanäle sollen 2012 bei­spielsweise die Absprachen über den Rückzug des Regimes aus den Kurdengebieten getroffen worden sein. Husain soll sich ab 2011 häufig in Syrien aufgehalten haben. Einiges spricht dafür, dass er der eigentliche starke Mann in der PYD und Befehlshaber der YPG ist.

Führung

Die PYD und die PKK geben sich seit 2012 große Mühe, ihre enge Verbindung zu ver­bergen. Wahr­scheinlich fürchten beide Organisationen, dass sie in Syrien und in­ternational auf Ablehnung stoßen könnten, wenn sie wie vor dem Bürgerkrieg in Syrien offener mit ihrer Verflechtung umgingen. Ungeachtet dessen ist diese vielfach belegt und unübersehbar.

Die Leitungsebene der PYD setzt sich über­wiegend aus syrischen Kadern zusam­men, die über langjährige Erfahrung in der PKK verfügen. Dies gilt auch für die Füh­rungspositionen der YPG und der Asayiş, der Geheimpolizei der Partei. Nur die Zivil­verwaltung besteht vorwiegend aus lokal rekrutierten Kurden. Die PYD bemüht sich außerdem, das Ausmaß ihres Einflusses auf die Politik in den Kurdengebieten zu ver­schleiern. Offiziell agiert sie als Teil eines Parteienbündnisses namens Bewegung der Demokratischen Gesellschaft (Tevgera Civaka Demokratîk oder kurz TEV-DEM), in der sie aber als mit Abstand stärkste Kraft vertreten ist. Außerdem präsentiert die Par­tei Politiker als Führungspersönlich­keiten, die aber nicht die wichtigsten Entscheider sind. Nominell geführt wird die PYD seit September 2017 von der Doppelspitze Shahoz Hasan aus Hasaka und Aisha Heso aus Afrin. Hasan übernahm das Amt von Salih Muslim, der weitaus bekannter ist und als Gesicht der PYD im Aus­land fun­giert. Hasan und Heso lebten im Unterschied zu Muslim mehrere Jahre im Haupt­quartier der PKK in den Kandil-Bergen, bevor sie zu Beginn des Aufstands nach Syrien geschickt wurden. Damit legte die PKK die enge Bindung der PYD ein Stück weit offe­ner, als dies zur Zeit von Muslim der Fall war.

In der tatsächlichen Hierarchie der PYD sind die militärischen Anführer der YPG je­doch die weitaus wichtigeren Persönlichkeiten. Zu ihnen gehört neben Fahman Husain vor allem Nurettin Halef al‑Muhammed (alias Nurettin Sofi), ebenfalls ein syrischer Kurde, der einigen Berichten zufolge die YPG bis Mai 2017 anführte, nach­dem er vorher als wichtiger Kommandeur der HPG fungiert hatte. Ihm dürfte der türkische Kurde Sabri Ok nachgefolgt sein. Die YPG wuchsen vor allem ab 2011, als die PKK Hunderte Kämpfer aus dem Nordirak nach Nordsyrien schickte, um die YPG zu ver­stär­ken und Rekruten auszubilden. Seit 2012 haben die YPG viel Kampferfahrung gesam­melt und sich zu einer quasiregulären Truppe entwickelt, die ab 2014/15 zudem stark von ihrem Bündnis mit den USA pro­fitierte. Zu den YPG gehören auch die Frauenverteidigungseinheiten (YPJ), der weib­liche bewaffnete Arm der PYD. Deren militärische Bedeutung ist jedoch geringer als das öffentliche Interesse an ihnen.

Nach eigenen An­gaben haben die YPG heute 40 000 bis 50 000 Männer und Frauen ständig unter Waffen; unabhängige Schät­zungen gehen eher von rund 30 000 aus. Davon dürften etwa 5000 Frauen sein. Viel­leicht wichtiger als die Zahl ist aber die Fähigkeit der YPG, Verluste auszugleichen. Zwar liegen verlässliche Zahlen zu Toten und Verletzten nicht vor. Doch scheinen diese phasenweise sehr hoch gewesen zu sein, und die Zahl der getöteten Kämpfer und Kämpferinnen dürfte bei über 10 000 liegen. Die YPG konnten diese Ver­luste in­des immer wieder kompensieren, ohne dass ihre militärische Stärke jemals sichtbar nachließ.

Ideologie und Ziele

Die PYD vertritt als syrischer Ableger der PKK auch deren Ideologie, wie die Spitze der Partei offen einräumt. Kernbestandteil ist ein Personenkult um Abdullah Öcalan, der stark sektenartige Züge hat. Wo die PYD das Sagen hat, finden sich in großer Zahl Bilder des PKK-Chefs in den Straßen, in Militärlagern, Schulen und Verwaltungs­gebäuden. Öcalans Bücher sind unerläss­li­cher Bestandteil der ideologischen Schulung für die Rekruten in Syrisch-Kurdistan. Dass er auch nach 20 Jahren im Gefängnis An­hänger mobilisieren und ihr Weltbild maß­geblich be­einflussen kann, spricht für das enorme Charisma des Kurdenführers.

Die PKK war lange Zeit eine marxistisch-leninistische Partei, die einen maoistisch inspirierten Guerillakrieg führte. Doch seit den 1990er Jahren lässt sich bei Öcalan eine Hinwendung hin zu zeitgemäßeren Konzep­ten des bewaffneten Kampfes und der oppo­sitionellen Organisation beobachten. Beson­deren Anklang fanden bei ihm die Werke des US-amerikanischen Öko-Anarchisten Murray Bookchin (1921–2006), der die An­sicht vertrat, dass Staaten ersetzt werden könnten durch »Konföderationen« unabhän­giger kommunaler Versammlungen. Ab 2005 ergänzte Öcalan den Marxismus-Leni­nismus der PKK um eine auf den Ideen Bookchins beruhende Weltanschauung. Er proklamierte nunmehr einen sogenannten »demokratischen Konföderalismus« und forderte seine Anhänger auf, ihre Bestrebungen nicht mehr auf die Gründung eines unabhängigen kurdischen Staates zu rich­ten, sondern ihre sozialistischen Ideale basisdemokratisch von unten umzusetzen. Überall dort, wo Kurden lebten, sollten sie kommunale und regionale Räte bilden, die länderübergreifend zusammenarbeiten; ele­mentare Stützen dieses Rätesystems müssten die Gleichberechtigung der Geschlechter, Religionsfreiheit und die Wahrung der Rechte von Minderheiten sein.

Gleichzeitig blieben die leninistische Prä­gung und der daraus abgeleitete Führungsanspruch als Kaderpartei de facto die Leit­linie des Handelns der PKK. Die Partei domi­nierte und kontrollierte alle neu geschaf­fenen politischen Strukturen in Syrisch-Kurdistan, so dass das dort etablierte gesell­schaftliche und politische System alles ande­re als »demokratisch« war, sondern eher einer Einparteienherrschaft nach real­sozialistischem Vorbild ähnelte.

Ziel der PKK ist es nach wie vor, die mehr­heitlich kurdisch besiedelten Gebiete autonom zu kontrollieren. Verändert hat sich seit 2005 vor allem, dass sich die PKK nicht mehr ausschließlich auf den bewaff­neten Kampf gegen die Türkei konzentriert, sondern kurdische Selbstbestimmung in allen vier Staaten fordert, in denen Kurden stark vertreten sind, also in der Türkei, in Syrien, im Irak und im Iran. Es ist ein wich­tiger Grundgedanke des »demokratischen Konföderalismus«, dass eine autonome kur­di­sche Entität von unten her in allen Län­dern entsteht, in denen Kurden nen­nens­werte Teile der Bevölkerung stellen. Die PKK verlangt von diesen Staaten, dass sie, die PKK, das Modell des demokratischen Konföderalismus in den dann autonomen Kurden­gebieten einrichten und dort herr­schen darf. Auch wenn sie Staatlichkeit offi­ziell ablehnt, will sie doch die alleinige Kon­trolle über ein quasistaatliches Territorium ausüben, das sich über Teile der Türkei, des Irak, des Iran und Syriens erstreckt.

Strukturen in Syrien

Die Schwäche des syrischen Staates erlaubte es der PYD (und damit der PKK) ab Juli/ August 2012, dieses Konzept im Norden Syriens zu erproben. Die PYD kontrollierte dort inzwischen große Gebiete in Afrin, Kobanê und Hasaka/Jazira. Sie bezeichnete diese drei Regionen als »Kantone« und rief im November 2013 die autonome »Demo­kratische Selbstverwaltung« in Rojava (West­kurdistan oder Syrisch-Kurdistan), wie sie die kurdischen Gebiete in Syrien nennt, aus.

Ab 2014 baute die PYD ihre Macht in Rojava weiter aus, indem sie konkurrierende kurdische Organisationen verdrängte. Da­bei handelte es sich vor allem um syrisch-kurdische Gruppierungen mit engen Be­zie­hungen zur Demokratischen Partei Kurdis­tans (KDP) Masud Barzanis, des Präsidenten Irakisch-Kurdistans. Willkürliche Verhaftungen, Folterungen und Morde von bzw. an Oppositionellen waren in dieser Phase ver­breitet. Ab Januar 2014 richtete die PYD gemeinsam mit verbündeten Organisatio­nen offiziell eine Übergangsverwaltung und lokale Regierungen in den einzelnen Kanto­nen ein und veröffentlichte den sogenann­ten »Gesellschaftsvertrag von Rojava.« Ob­wohl sich die PYD ab Mitte 2014 vor allem den Angriffen des IS erwehren musste, ver­kündete sie im März 2016 die Autonomie der »Demokratischen Föderation Rojava/ Nordsyrien«. Getreu den Vorgaben Öcalans blieben die Kurdengebiete aber weiter Teil des Staatsverbands und bekannten sich zur territorialen Integrität Syriens.

Bündnis mit den USA

Das US-Militär, das ab Sommer/Herbst 2014 den Kampf gegen den IS in Syrien aufgenom­men hatte, arbeitete in der Folge immer in­tensiver mit den YPG zusammen. Auslöser war der Kampf um die Stadt Kobanê.

Schon 2012 hatte es erste Auseinandersetzungen zwischen syrischen Aufständischen und den YPG gegeben. Der Grund war vor allem der Aufstieg islamistischer Gruppierungen wie der Nusra-Front, die die PYD wegen ihrer Kooperation mit dem Assad-Regime und ihrer kommunistischen Weltanschauung ablehnten. Mit dem Auf­treten des IS ab April 2013 nahm dieser Konflikt an Schärfe zu. Kämpfe unter den Rebellen führten in der ersten Jahreshälfte 2014 zum Rückzug des IS in den syrischen Osten. Ab Mitte 2014 richtete sich die Ex­pan­sion des IS vor allem gegen Gebiete in den Provinzen Hasaka, Raqqa und Aleppo, die von den YPG gehalten wurden. Wich­tigstes Ziel des IS war die Stadt Kobanê an der türki­schen Grenze. Als sich abzeichnete, dass die kurdischen Verteidiger sich des Angriffs nicht würden erfolgreich erwehren können, intervenierten ab September 2014 die USA auf Seiten der Kurden. Das US-Militär flog gemeinsam mit Verbündeten Angriffe auf den IS und lieferte Waffen und Munition an die Kurden. Die Schlacht um Kobanê endete im Januar 2015 mit einem Sieg der YPG.

Der Erfolg überzeugte die US-Regierung, beim Kampf gegen den IS fortan auf die YPG zu setzen und die Unterstützung für die Kurden auszuweiten. Ab 2015 entsandten die USA auch Spezialkräfte und her­kömmliches Militär, die die kurdischen Einheiten ausbildeten und sich selbst am Kampf beteiligten. Die Zahl der US-Truppen nahm schnell zu und lag im Januar 2019 bei mehr als 2000 Mann. Dabei sah die US-Regierung mangels Alternativen zu den Kurden dar­über hinweg, dass die PKK auch auf der US-Terrorismusliste steht. Stattdessen bemühten sich das US-Militär und die PYD um arabische Verbündete in den Ge­bieten, die sie während der folgenden Offen­siven eroberten. Sie wollten den Ein­druck vermeiden, die »PKK« – wie PYD und YPG von Arabern in Syrien in der Regel ge­nannt werden – besetze arabisches Terri­torium. Zu diesem Zweck gründeten sie im Oktober 2015 auch die Allianz »Demokra­tische Kräfte Syriens« (SDF). In diesem Bündnis waren zwar auch arabische und christ­liche Einheiten vertreten, doch die YPG dominierten. Die SDF erzielten große Er­folge im Kampf gegen den IS, der sich mit allen Mitteln wehrte, sich gegen die US‑Amerikaner und Kurden jedoch nicht behaupten konnte. Im Oktober 2017 verlor der IS seine Hauptstadt Raqqa und zog sich anschließend in das Euphrattal nahe der irakischen Grenze zurück, wo er Anfang 2019 nur noch in kleineren Orten präsent war.

Die Kurden verfolgten neben der Niederschlagung des IS weitergehende Ziele. So planten sie vor allem, die mehrheitlich von Arabern besiedelten und ab 2012 von sun­nitischen Rebellen gehaltenen Gebiete zwi­schen den kurdischen Kantonen Hasa­ka/ Jazira und Kobanê sowie zwischen Kobanê und Afrin einzunehmen. Im Juni 2015 ge­lang es den YPG, dem IS die wichtige Grenz­stadt Tall Abyad zu entreißen und so eine Landverbindung zwischen Hasaka und Kobanê herzustellen. Im Fe­bruar 2016 rückten die Kurden von Kobanê über den Euphrat in den Osten der Provinz Aleppo vor, um auch eine Landverbindung nach Afrin zu eröffnen. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch an der Inter­vention des türkischen Militärs, das gemeinsam mit syrischen Rebellen im Februar 2017 die Stadt al-Bab einnahm.

Ankara wollte mit diesem Eingreifen ver­hindern, dass die PKK einen Gebietsstreifen entlang der türkischen Grenze kontrolliert, der sich vom Irak bis nach Afrin erstreckt. Im Nordirak hatte die PKK nämlich den Kampf gegen den IS genutzt, um mit Hilfe jesidischer Verbündeter Teile der Region um Sinjar einzunehmen, die an das syri­sche Hasaka grenzt. Ankara sah in der Ex­pansion der PKK im Irak und Syrien den Versuch, den Nukleus eines eigenen Staates und ein sicheres Rückzugsgebiet für den be­waffneten Kampf in der Türkei zu schaffen. Im Januar 2018 reagierte das türkische Militär deshalb mit einer Offensive gegen Afrin, die im März mit einer vollständigen Niederlage der YPG und ihrem Rückzug nach Osten endete. 2017 und 2018 erklärte der türkische Präsident Erdoğan außerdem mehrfach, die PYD/YPG auch in den kurdi­schen Gebieten östlich des Euphrat angrei­fen und zerschlagen zu wollen. Als US-Präsi­dent Trump Ende März 2018 erstmals an­kündigte, die amerikanischen Truppen aus Syrien abziehen zu wollen, zog die PYD die Konsequenz, indem sie bereits im Sommer 2018 Gespräche mit Vertretern des Assad-Regimes führte.

Das Ende der kurdischen Autonomie

Der angekündigte Abzug der US-Truppen stellt die PKK in Syrien vor existenzbedrohende Probleme. Die türkische Regierung droht seit Monaten mit einer Invasion und hat in al-Bab und Afrin gezeigt, dass sie bereit ist, militärische Risi­ken einzugehen, um die Konsolidierung einer PKK-kontrol­lierten Autonomiezone zu verhindern. Zudem hat Ankara nach dem Abbruch der Friedensgespräche mit der PKK im Jahr 2015 keine Bereitschaft zu einer politischen Lösung mehr erkennen lassen. Sobald die Amerikaner tatsächlich abzie­hen, müssen die Kurden mit Angriffen rechnen, und die Ereignisse von Afrin haben gezeigt, dass die YPG dem türkischen Militär nicht gewachsen sind.

Außer den USA kann letztlich nur Russ­land die Türkei an einer Invasion hindern. Diese Einsicht hat die PYD dazu bewogen, das Gespräch mit dem Assad-Regime zu suchen. Das ist einerseits gefährlich, denn der syrische Präsident hat mehrfach erklärt, er wolle »jeden Zentimeter Syriens«, also auch Syrisch-Kurdistan, zurückgewinnen. Andererseits kann Damaskus zurzeit nicht alleine gegen die Kurden vorgehen, da sein Militär unter einem Mangel an Soldaten leidet. Assad ist also auf russische und iranische Hilfe angewiesen, will er sein Ziel erreichen, ganz Syrien wieder seiner Kon­trolle zu unterwerfen. Diese Ausgangslage macht die Annäherung an das Assad-Regime zu der weniger gefährlichen Alter­native. Denn vor allem Russland könnte daran interessiert sein, dass das Regime und die PYD zu einer Einigung kommen, weil dies eine weitere Stabilisierung des Landes ohne eine große Militäraktion jenseits des Euphrat ermöglichen würde.

Dennoch ist davon auszugehen, dass die syrische Regierung die kurdische Autonomie nur so lange dulden wird, bis sie stark genug ist, auch im Norden und Osten des Landes wieder die Kontrolle zu übernehmen. Wenn Moskau und Teheran sich ent­scheiden sollten, bei einem Angriff auf die Kurdengebiete zu helfen, kann dies sehr schnell geschehen. Am plausibelsten ist für die nächsten Monate ein Szenario, in dem die Türkei im Norden und syrische Truppen im Süden in das heute von den Kurden be­herrschte Gebiet einrücken. Die Syrer wer­den es vor allem auf die Ölförderanlagen nordöstlich des Euphrat anlegen; die Tür­ken dürften sich auf eine Pufferzone nahe der Grenze beschränken. PYD und YPG könnten sich vielleicht eine Weile in dem Areal zwischen den Fronten halten. Länger­fristig dürfte die PKK-Auto­nomie jedoch keinen Bestand haben.

Die Probleme der syrischen Kurden stellen nicht nur die USA, sondern auch Deutsch­land und Europa vor ein Dilemma. Einerseits haben die YPG maßgeblichen An­teil daran, dass der IS militärisch geschlagen werden konnte und sich die Sicherheitslage in Europa seit 2017 entspannte. Ohne die kurdischen Truppen hätte die US‑geführte Koalition den IS in Syrien viel­leicht nur aus der Luft und viel weniger effektiv bekämpfen können. Möglicher­weise hätte der IS in einer solchen Situation weitere Anschläge in Europa planen kön­nen. Es gab deshalb seit 2014/15 keine überzeugende Alternative zur Zusammenarbeit mit den YPG.

Andererseits ist die Türkei ein wichtiger Nato-Verbündeter, der einen Anspruch da­rauf hat, dass Deutsche und Europäer seine Bedrohungswahrnehmungen ernst nehmen. Da es sich bei der PYD und den YPG um integrale Bestandteile der PKK handelt, die den türkischen Staat seit 1984 in einem Kon­flikt bekämpft, der wahrscheinlich mehr als 40000 Todesopfer forderte, ist es zumindest nachvollziehbar, dass Ankara in dem Auto­nomiegebiet in Syrien eine Gefahr sieht. Die teils heftige Kritik der Türkei am Bündnis der US-Koalition mit der PYD wird verständlicher, wenn man die innere Ver­fasstheit der Organisation genauer betrachtet.

Die beste Lösung für dieses Dilemma wäre eine Friedenslösung zwischen der Türkei und der PKK. Die deutsche und die euro­päische Politik sollten weiter darauf drän­gen, dass die 2015 abgebrochenen Verhandlungen wiederaufgenommen wer­den und eine politische Lösung gefunden wird. Das mag angesichts der verhärteten Fronten vor allem in Ankara zurzeit nicht realistisch sein. Trotzdem muss die poli­tische, friedliche Beilegung der Kurdenfrage in der Türkei, in Syrien, im Irak und im Iran ein wichtiges Interesse der deutschen und europäischen Türkei- und Nahostpolitik bleiben.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2019

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ISSN 1611-6364