Die G7 muss große Herausforderungen bewältigen, die von Geopolitik und Geoökonomie bis zu nuklearer Abrüstung und Klima reichen. Das 360 Grad beleuchtet die Positionen wichtiger Staaten und zentrale Sachthemen. Die Koordination haben Lars Brozus und Alexandra Sakaki übernommen.
Vom 19. bis 21. Mai 2023 fand im japanischen Hiroshima der diesjährige G7-Gipfel statt. Wie im Vorjahr in Deutschland stand das Treffen der Staats- und Regierungschefs im Zeichen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Deren Präsident Selenskyj nahm erstmals persönlich an dem Treffen teil und führte intensive Gespräche mit den Spitzen der G7-Staaten und einiger der eingeladenen Gastländer. Die japanische Präsidentschaft hatte für den Gipfel zwei Schwerpunkte gesetzt: Zum einen sollte über die Bedeutung einer völkerrechtsbasierten internationalen Ordnung gesprochen werden, zum anderen sollte es um den Austausch mit zahlreichen Gastländern gehen, unter denen die Vertreter des sogenannten „Globalen Südens“ die Position der G7 zur russischen Aggression nicht vollständig teilen. Japan – das einzige asiatische G7-Mitglied – genießt innerhalb seiner Region gerade in solchen Staaten großen Einfluss.
Weitere wichtige Sachthemen waren die regionalen Spannungen in Ostasien, ökonomische Sicherheit, Klima und Energie, nachhaltige Entwicklung, die Ernährungskrise und anhaltende Gesundheitsrisiken. Einen besonderen Fokus richteten die Gastgeber auf die Relevanz nuklearer Abrüstung und Nichtverbreitung, was durch den gewählten Gipfelort nachdrücklich symbolisiert wurde.
Die Liste der globalen Probleme und Herausforderungen ist lang, wie das in Hiroshima verabschiedete vierzigseitige Gipfelkommuniqué sowie separate Erklärungen und Dokumente zeigen. Viele bekannte Positionen der G7 wurden dort bekräftigt, einige neue Akzente gesetzt. In den folgenden Analysen werden unterschiedliche Aspekte beleuchtet. Sie reichen von der Gastgeberrolle über die oben angesprochenen Sachthemen bis hin zu Querschnittsfragen der internationalen Politik. In fast allen Beiträgen geht es um die Frage, wie in einer sich wandelnden Weltordnung neue Partner gewonnen werden können, die bereit sind, die notwendigen Transformationsanstrengungen mitzutragen. Auch für den G7-Gipfel in Japan gilt, dass den vielen Worten in den Kommuniqués und Deklarationen Taten folgen müssen, wenn dies gelingen soll.
Japan zieht eine positive Bilanz zu seiner bisherigen G7-Präsidentschaft und dem Gipfel in Hiroshima. Nicht nur Premierminister Kishida äußerte sich zufrieden über das Treffen, dem er „historische Bedeutung“ zuschrieb, auch japanische Medien- und Expertenkommentare fanden überwiegend lobende Worte. Für viele Beobachter hat Japan Führungsstärke bewiesen, indem es inhaltliche Akzente setzte. Kritiker bemängeln jedoch, dass keine Maßnahmen etwa zu Abrüstung oder Klimawandel beschlossen wurden.
Für Japan, das in seinem Umfeld mit China, Nordkorea und Russland sicherheitspolitisch drei großen Herausforderungen gegenübersteht, war der Schulterschluss mit den anderen G7-Staaten wohl nie wichtiger, auch wenn seine Bündnisbeziehungen zu den USA oberste Priorität behalten. In Tokio sieht man Parallelen zwischen Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine und Chinas machtpolitischem Auftreten in Asien. Um Regelbrüchen zu begegnen, hatte Japan in seiner Nationalen Sicherheitsstrategie von Ende 2022 explizit die G7-Kooperation angeführt.
Im Zentrum der Gipfelberatungen stand denn auch der Umgang mit Russland und China. Die Teilnahme des ukrainischen Präsidenten Selenskyj unterstrich die im G7-Kommuniqué beteuerte „unerschütterliche Unterstützung“ für das Land. Dieses Solidaritätssignal ist bedeutsam für die Ukraine, deren derzeitige Gegenoffensive entscheidend für den Verlauf des Konflikts sein dürfte.
Ähnlich wie im Vorjahr drückt das G7-Kommuniqué den Wunsch nach konstruktiven Beziehungen zu China aus, aber ebenso Besorgnis über die dortige Menschenrechtslage oder Spannungen im Ost- und Südchinesischen Meer. Erstmals formuliert die G7 gemeinsame Positionen zu wirtschaftlicher Sicherheit und Resilienz, womit auch die Verwundbarkeit gegenüber China verringert werden soll. Japan hat zu diesem Thema eigene Ansätze entwickelt. Im Kontext der G7 warb Tokio erfolgreich für einen besseren Koordinationsmechanismus gegen wirtschaftliche Nötigung.
Kishida legte einen Schwerpunkt auf nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle, was sich in einer entsprechenden G7-Erklärung niederschlug. Viele japanische Beobachter sehen darin ein wichtiges Zeichen – angesichts russischer Nukleardrohungen, aber auch wegen Chinas und Nordkoreas atomarer Aufrüstung.
Weiteres Anliegen Kishidas war eine engere Zusammenarbeit mit Nicht-G7-Staaten. Dies hatte er vor dem Gipfel mit einer Reise in vier afrikanische Länder unterstrichen; sein Außenminister Hayashi besuchte Südamerika und die Karibik. Japan sieht sich dem „Globalen Süden“ gegenüber als Vermittler, weil es dank langjähriger Entwicklungskooperation zu vielen dieser Länder vertrauensvolle Beziehungen unterhält. Dabei ist man sich in Tokio bewusst, dass den Worten Taten folgen müssen, um die Staaten für eine konstruktive Partnerschaft zu gewinnen.
„Ostasien könnte die nächste Ukraine sein“, warnte Premierminister Kishida, Gastgeber des G7-Gipfels in Japan, mehrfach im letzten Jahr. Diese Verknüpfung indo-pazifischer mit europäischer Sicherheit basiert auf geostrategischen Überlegungen: Gelingt es Russland, den territorialen Status quo der Ukraine mit militärischen Mitteln zu ändern, könnte das China zu einem ähnlichen Vorgehen gegen Taiwan ermutigen. Auch um der Stabilität in Ostasien willen darf Russland also in Osteuropa nicht erfolgreich sein. Dass die G7-Mitgliedstaaten in Hiroshima erneut ihre Bereitschaft bekräftigt haben, die Ukraine so lange wie nötig zu unterstützen, soll mögliche Übergriffe auch in anderen Regionen abschrecken.
Neben dem Beistand der G7 ist die internationale Solidarisierung mit der Ukraine ein zentraler Faktor für Erfolg oder Scheitern Russlands: Je breiter diese ausfällt, desto trüber werden Moskaus Siegesaussichten. Bislang dominiert international allerdings eine permissive Haltung gegenüber dem Aggressor. Zwar hat die Mehrheit der UN-Mitglieder den Angriffskrieg wiederholt verurteilt. Aber kein Staat des sogenannten „Globalen Südens“ hat Sanktionen gegen Russland verhängt.
Die Ukraine wirbt daher intensiv für ihre Sache. Besonders wichtig sind ihr ambitionierte Groß- und Regionalmächte, die der G20 angehören. Australien, Südkorea und die EU stehen zusammen mit der G7 bereits an der Seite der Ukraine. Könnten auch Staaten wie Brasilien, Indien, Indonesien, Saudi-Arabien oder Südafrika dazu bewegt werden, von Russland abzurücken, verbliebe allein China als relevanter Verbündeter Moskaus. Die chinesische Führung würde dann womöglich ihre Unterstützung Putins einer erneuten Kosten-Nutzen-Analyse unterziehen.
Diese Überlegungen haben die geopolitische Gipfeldramaturgie geprägt. Bereits im Vorfeld hatte Kishida die Verbesserung der Beziehungen der G7 zum Globalen Süden zur Priorität erklärt und zahlreiche Staaten in Afrika besucht. Nach Hiroshima lud Japan die G20-Mitglieder Australien, Brasilien, Indien, Indonesien und Südkorea ein. Kurzfristig stieß der ukrainische Präsident Selenskyj hinzu, der unterwegs Station beim Gipfel der Arabischen Liga in Saudi-Arabien machte. So konnte Selenskyj mit den Spitzen der wichtigsten, eine neutrale Position beziehenden G20-Mitgliedstaaten persönlich sprechen, um ihnen die ukrainische Sicht auf den Konflikt nahezubringen.
Besonders offen scheinen die Gespräche mit dem indischen Premierminister Modi gewesen zu sein. Als aktueller Vorsitz der G20 hat Indien immenses Interesse an einem erfolgreichen Gipfeltreffen im September in Neu-Delhi. Sollte Modi es Selenskyj ermöglichen, auch an diesem Treffen teilzunehmen, könnten sich die Rahmenbedingungen für einen friedenspolitischen Durchbruch verbessern.
„Russland ist der Sturm, China ist der Klimawandel“ – mit diesen Worten wurde in Berlin vor einiger Zeit versucht, zwei Krisenherde metaphorisch einzuordnen, die unsere Welt gegenwärtig erschüttern. Die Aussage dürfte außerhalb eines eng definierten Westens wenig überzeugend sein. Für viele in Osteuropa bleibt Russland die alles bestimmende Bedrohung; für viele in Taiwan ist es China; besonders für Inselstaaten ist es der Klimawandel und für den Großteil der Weltbevölkerung: Armut.
Das Mantra, dass die Ukraine von heute das Ostasien von morgen sein könnte – und die Sicherheit Europas und des Indo-Pazifiks deshalb unteilbar seien –, verfängt eher. Es dient der japanischen G7-Präsidentschaft bei ihren Appellen an die internationale Gemeinschaft. Deren Einigkeit sei entscheidend, so die Botschaft, damit sich im Indo-Pazifik unilaterale Versuche abschrecken lassen, „den Status quo durch Anwendung oder Androhung von Gewalt zu verändern“. Lenkte der Krieg in der Ukraine zunächst von der Bedrohung durch China ab, so wurde dieser Effekt ins Gegenteil gekehrt. Die russische Invasion hat das Narrativ eines Systemkonflikts zwischen Demokratien und Autokratien verstärkt; Peking rückte als selbsterklärter Partner Moskaus in ein noch schlechteres Licht.
Sanktionen gegen Russland und Versuche, den chinesischen Einfluss im Indo-Pazifik einzudämmen, werden aber nur dann effektiv sein, wenn sich große Teile der nichtwestlichen Welt mit an Bord holen lassen. Das scheint auch den G7-Staaten klar zu sein, wie die umfangreiche Gästeliste des Hiroshima-Gipfels und dessen Abschlusskommuniqué zeigen. So beteuert die G7, anders als China dem Wohl der Weltgemeinschaft verpflichtet zu sein und besonders den Anliegen und Bedürfnissen des „Globalen Südens“ Rechnung tragen zu wollen.
Dieselbe Absicht, bezogen auf Südasien, Südostasien und die Pazifischen Inseln, ist dem Schlussdokument des Quadrilateralen Sicherheitsdialogs zu entnehmen. Im Rahmen dieses Formats hatten die Regierungschefs von Australien, Indien, Japan und den USA ihr Treffen kurzfristig an den Rand des G7-Gipfels vorverlegt, weil Präsident Biden dringend nach Washington zurückkehren musste.
Im Globalen Süden weiß man allerdings, dass die „regelbasierte internationale Ordnung“ der letzten Dekaden keineswegs so friedlich, wohlstandsfördernd und schützenswert ist, wie es an den Verhandlungstischen der G7 dargestellt wird. Den Versprechen müssen daher Taten folgen. Die Siebenergruppe wird daran gemessen werden, ob sie wie angekündigt die Interessen der Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas auch jenseits geopolitischer Erwägungen ernst nimmt.
Der Hiroshima-Gipfel im Mai 2023 hat die Bedeutung der G7-Gruppe unterstrichen – und doch auch ihre Grenzen aufgezeigt. Angesichts des schwindenden relativen Einflusses der G7-Staaten sah sich Gastgeber Japan veranlasst, eine Reihe von Gästen einzuladen. Diese Praxis ist nicht neu, wird der veränderten Weltlage aber nicht gerecht. Geprägt wird diese vom neo-totalitär-revisionistischen Duo Russland und China, das den eurasischen Großraum beherrscht. Dem stehen die liberaldemokratischen Mittelmächte in Europa und Asien-Pazifik unter Führung Amerikas gegenüber. Sie ringen um die Zukunft der internationalen Ordnung; große Teile des „Globalen Südens“ halten sich aus diesem Tauziehen dagegen opportunistisch heraus.
Um sich zu behaupten, brauchen die liberalen Demokratien einen gemeinsamen Lenkungsausschuss, der Positionen und Politiken abstimmt und deren Umsetzung koordiniert. Ein derartiges Gremium gibt es bislang nicht; die G7 kommt ihm jedoch am nächsten. Die G7 repräsentiert allerdings die liberaldemokratische Koalition an den Rändern des eurasischen Großraums nur unvollständig – die Ostflanke war in Hiroshima allein durch Japan vertreten, die Regierungschefs Südkoreas und Australiens nahmen nur als Gäste teil.
Die Gruppe sollte deswegen über die Einladung von Gastländern hinaus im nächsten Schritt eine Erweiterung um Südkorea, Australien und Neuseeland zur G10 anstreben. Diese G10 böte einen Rahmen, um das eurasische Duo Russland/China und seine revisionistischen Bemühungen im Zusammenwirken der europäischen, asiatisch-pazifischen und nordamerikanischen Demokratien einzuhegen.
Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit einer solchen G10 sollte auch künftig die Unterstützung der Ukraine und die Festigung ihrer inneren liberaldemokratischen Ordnung stehen. In Ostasien gilt es, Taiwan beizustehen. Denn eine erfolgreiche Revision der internationalen Ordnung beginnt für Russland mit der Eroberung bzw. Gleichschaltung der Ukraine, für China mit der Eingliederung Taiwans in die Volksrepublik. Wie dies bereits heute für die Ukraine mit der Eröffnung der EU-Beitrittsperspektive und der Unterstützung durch die Nato der Fall ist, sollte auch Taiwan – unter Wahrung der Ein-China-Politik – eng an die G10 angebunden und diese so zur G10+1 werden. Solange China den Status quo in der Taiwanstraße nicht in Frage stellt, ginge es dabei nicht um die formelle Anerkennung Taiwans als unabhängiger Staat und dessen entsprechende Beteiligung an G10-Gipfeltreffen, sondern um praktische Unterstützung der taiwanesischen Selbständigkeit.
Es war das japanische Äquivalent zur deutschen „Zeitenwende“, als Premierminister Kishida Anfang Mai erklärte, Russlands Krieg gegen die Ukraine sei eine Herausforderung für die ganze Welt. Mit diesem Schulterschluss war es dem japanischen G7-Vorsitz möglich, beim Gipfel von Hiroshima zentrale Themen als gemeinsame Herausforderung zu verorten. Das gilt vorrangig mit Blick auf China. Japan hat begonnen, der zunehmend aggressiven Volksrepublik robust gegenüberzutreten, beachtet aber zugleich das hohe Maß an wirtschaftlicher Abhängigkeit von dem Land. Diesen Balanceakt kann man auch am Ergebnis des G7-Gipfels ablesen. Einerseits war es das Anliegen Japans wie auch der USA, eine gemeinsame Haltung zu China zu erreichen; andererseits suchten beide ebenso wie die übrigen G7-Staaten den Eindruck blinder Feindseligkeit zu vermeiden.
China erscheint so, anders als die Ukraine, erst im weiteren Verlauf des Gipfelkommuniqués, und zunächst auch nur indirekt, eingebettet in die Behandlung der Indo-Pazifik-Staaten. Als das Land – im 51. von 66 Abschnitten – direkt erwähnt wird, geschieht dies zuerst positiv: Angesichts seiner politischen und wirtschaftlichen Bedeutung sei es im G7-Interesse, mit China zusammenzuarbeiten, und es liege im internationalen Interesse, dass Peking sich an globale Regeln halte. Es folgt ein Appell an die Volksrepublik, ihrerseits mit der G7 zu kooperieren, insbesondere bei globalen Themen wie Klima oder Biodiversität.
Die G7 stellt klar, dass sie keine wirtschaftliche „Entkoppelung“ von China anstrebt. Stattdessen sei De-Risking das Ziel, sprich Risikominimierung. Dies umfasst Diversifizierung und wirtschaftliche „Widerstandsfähigkeit“; es geht also darum, übermäßige Abhängigkeit bei kritischen Lieferketten zu mindern und Probleme zu lösen, die durch Chinas nichtmarktwirtschaftliche Praktiken entstehen. Der angestrebte Schutz eigener Spitzentechnologien, deren Verbreitung die nationale Sicherheit gefährden könnte, war vor allem ein amerikanisches Anliegen.
Erst danach behandelt das Kommuniqué sicherheitspolitische Aspekte. Die G7 äußert Besorgnis über die Lage im Ost- und Südchinesischen Meer, darunter die Militarisierung des Letzteren. Dabei unterstreichen die Gipfelteilnehmer, dass ihre Haltung zu Taiwan ebenso wie ihre Ein-China-Politik unverändert blieben.
Die G7 zeigt sich geschlossen und positioniert sich zugleich in nuancierter Weise – erkennbar wird so das Bewusstsein für die Erfordernisse der „Zeitenwende“, ebenso der stärkere Einfluss Japans in der Gruppe. In Peking dürfte man die differenzierte Botschaft verstanden haben. Dies erklärt wohl, weshalb die chinesische Führung auf den Gipfel von Hiroshima vergleichsweise zurückhaltend reagierte.
Indien zählt praktisch schon zu den Stammgästen auf G7-Gipfeln. Beim Gipfel in Japan nutzte das Land seine Doppelrolle als G20-Präsidentschaft und führende Vertretung der Staaten des „Globalen Südens“ dazu, Themen wie Nachhaltigkeit und Nahrungsmittelsicherheit prominent anzusprechen.
Die Versuche der G7, Staaten des Globalen Südens, die sich bislang nicht klar gegen den russischen Angriffskrieg positioniert haben, beim Gipfel in Hiroshima auf ihre Seite zu ziehen, waren im Falle Indiens nur bedingt erfolgreich. Mit der Vermittlung eines ersten persönlichen Treffens zwischen dem indischen Premierminister Modi und dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj seit Beginn des russischen Angriffs gelang Japan zwar ein diplomatischer Coup. Allerdings hielt Indien zunächst an seiner neutralen Haltung zum russischen-ukrainischen Konflikt fest.
Modi bekräftigte im Gespräch mit Selenskyj, dass „Indien und er persönlich alles tun werden, um die Krise zu lösen“. Er sprach sich auch für die territoriale Integrität und Souveränität von Staaten im Sinne der UN-Charta aus und verurteilte einseitige Änderungen des Status quo. Auf das Angebot der Ukraine, Indien an seiner Friedensinitiative zu beteiligen, ging der indische Premier jedoch nicht ein. Modi nannte die russische Aggression weiterhin nicht beim Namen und sprach mit Blick auf die Ukraine nicht von Krieg, sondern von einer „Krise der Menschheit und menschlicher Werte“.
Allerdings dürfte der Drahtseilakt, den Indien in der Auseinandersetzung zwischen Russland und der westlichen Staatengemeinschaft vollführt, nach dem Gipfel in Japan eher noch schwieriger geworden sein.
So könnte die in der Erklärung des Gipfels geäußerte Absicht der sieben Staaten, gegen den russischen Diamantenhandel vorzugehen, in Indien bis zu eine Million Arbeitsplätze betreffen, viele davon in Modis Heimatstaat Gujarat. Im Vorfeld der Parlamentswahl 2024 würde dies Modis „Macher“-Image zumindest symbolisch beschädigen.
Vermutlich werden die G7-Staaten Indien drängen, Präsident Selenskyj auch zum G20-Gipfel im September nach Neu-Delhi einzuladen. Angesichts der bislang ohnehin schon kaum überbrückbaren Differenzen zwischen Russland und China einerseits und den westlichen Staaten andererseits dürfte eine gemeinsame Abschlusserklärung in Neu-Delhi damit noch unwahrscheinlicher werden – was für Modi ebenfalls einen Prestigeverlust bedeuten würde.
Am G7-Gipfel im japanischen Hiroshima nahm auch Südkoreas Präsident Yoon Suk Yeol teil. Zum vierten Mal war sein Land als Gast bei einem G7-Treffen vertreten. Japans Einladung ist angesichts der schwierigen bilateralen Beziehungen beider Staaten politisch wie symbolisch bedeutsam. Mit der wiederholten Einladung wird Südkorea als eine der vitalsten Demokratien in Asien ebenso gewürdigt wie als zehntgrößte Volkswirtschaft, mit einem Bruttoinlandsprodukt von 1,7 Billionen US-Dollar, vergleichbar jenem Kanadas. Gewürdigt werden insbesondere auch seine Bemühungen, das eigene außenpolitische Portfolio zu diversifizieren und zu einem aktiveren außenpolitischen Akteur zu werden. Nicht zuletzt ist Südkorea ein wichtiger Verbündeter der USA und ein strategischer Partner der EU, der ein unmittelbares Interesse daran hat, dass Sicherheit und Stabilität in seinem regionalen Umfeld aufrechterhalten werden.
Da sich der globale geopolitische und wirtschaftliche Schwerpunkt in den indopazifischen Raum verlagert hat, sind die G7-Staaten sehr daran interessiert, die Entwicklungen in der Region mitzugestalten. Die im Dezember 2022 veröffentlichte Indo-Pazifik-Strategie Südkoreas weist viele Überschneidungen gerade mit den Strategien der europäischen G7-Mitglieder auf und bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für vertiefte Kooperation. Da sich die G7-Staaten verstärkt darum bemühen, ihre Außenbeziehungen zu diversifizieren, und Südkorea eine wichtige Stellung in der Halbleiter-, Chip- und Batterieproduktion einnimmt, wird es für die G7 zweifelsohne weiter an strategischer Bedeutung gewinnen. Eine enge Kooperation mit Südkorea ist also ebenso hilfreich wie folgerichtig, wenn es darum geht, die zahlreichen Herausforderungen zu bewältigen, mit denen die G7-Staaten konfrontiert sind.
Südkorea bot die Teilnahme am G7-Gipfel in Japan eine willkommene Gelegenheit, um sowohl seine zahlreichen multilateralen Engagements voranzutreiben als auch die Verwirklichung der zentralen außenpolitischen Vision der Yoon-Administration: Südkorea in einen „Global Pivotal State“ zu transformieren, der seine Interessen über die koreanische Halbinsel hinaus zu verfolgen und eine größere Rolle bei den Bemühungen zu spielen sucht, Freiheit, Wohlstand und demokratische Werte im globalen Kontext zu fördern. Seoul nutzte die Teilnahme an dem G7-Treffen überdies, um die bilateralen Konsultationen mit Japan ebenso voranzubringen wie die trilaterale Zusammenarbeit mit den USA und Japan.
Die enge Kooperation mit den G7-Staaten bietet Seoul eine Chance, den Status Südkoreas als globalen Partner zu bekräftigen, der sich mit ihnen zusammen für den Schutz der regelbasierten Ordnung einsetzt und zur Bewältigung globaler Herausforderungen beiträgt.
Kein Ort der Welt kann es an nuklearer Symbolik mit Hiroshima aufnehmen. Der Gipfel zeigte allerdings, dass normative Ambitionen nicht losgelöst von sicherheitspolitischen Interessen und geopolitischen Konstellationen verfolgt werden können.
Aktivisten, UN-Vertreter und Premierminister Kishida, der Hiroshima parlamentarisch vertritt, hatten zuvor Hoffnungen auf Abrüstungsfortschritte geäußert. Die G7-Regierungschefs verabschiedeten auch tatsächlich erstmals ein Kommuniqué zur nuklearen Abrüstung. Diese „Hiroshima Vision on Nuclear Disarmament“ dämpft jedoch die Abrüstungserwartungen; gleichzeitig zieht das Dokument die richtigen Schlüsse bezüglich der notwendigen Priorisierung.
Erstens spricht das Kommuniqué aus, dass atomare Abrüstung in einer Welt erbitterter Großmachtrivalitäten kein Selbstzweck ist, sondern ein Mittel. Nur wenn Abrüstungsschritte auf allen Seiten die Sicherheit erhöhen, ergeben sie für die G7 Sinn. Einseitige Konzessionen, wie Aktivistengruppen sie von der G7 fordern, genügen diesem Anspruch nicht. Der Ansatz, dass Abrüstung nur schrittweise und unter bestimmten Voraussetzungen erreicht werden kann, bleibt der bessere.
Zweitens stellt der Text klar, dass keineswegs alle Kernwaffenstaaten die nuklearen Spielregeln verletzen, sondern nur wenige. Die Norm, Nuklearwaffen nicht einzusetzen, schon gar nicht in Angriffskriegen, wird vor allem durch Russlands Drohgebärden untergraben. Der jahrzehntelange Trend zur Begrenzung und Reduzierung der Arsenale wird primär durch Chinas Aufrüstung umgekehrt. Einzig Nordkorea verletzt das Verbot von Atomtests. Nur Nordkorea und Iran brechen heute die Nichtverbreitungsnorm. Diesen Verstößen setzt die G7 richtigerweise eine Politik der nuklearen Ordnung entgegen: Die Atomarsenale aller Großmächte sollen nachprüfbar begrenzt, die verbleibenden Gefahren durch striktere Verhaltensnormen eingehegt und das Atomzeitalter effektiv „verregelt“ werden. Diese Ordnung dient den Interessen der G7 und anderer im Westen, aber auch denen unzähliger anderer Staaten.
Drittens verwirft die G7 trotz aller Hindernisse nicht das Ziel einer kernwaffenfreien Welt. Einerseits sind substantielle Fortschritte auf dem Weg dorthin nicht abzusehen; eine Welt ohne Kernwaffen mit unverminderter Sicherheit für alle bleibt eine langfristige Vision. Andererseits teilt die G7 das Endziel der nuklearen Abrüstung mit vielen Nichtkernwaffenstaaten. Ohne diese gemeinsame Vision würde es politisch viel kostspieliger sein, internationale Koalitionen zur Lösung der Atomwaffenproblematik zu bilden. Bei fast allen globalen Streitfragen agieren die G7-Staaten als Verteidiger der regelbasierten internationalen Ordnung. Auch bei der nuklearen Abrüstung sind nicht sie oder gar die Vision das Problem – sondern autoritär-revisionistische Mächte, die auch mit Hilfe von Kernwaffen eingehegt werden müssen.
Bei ihrem Treffen in Hiroshima hat die G7 erstmals eine gemeinsame Erklärung „zu wirtschaftlicher Widerstandsfähigkeit und wirtschaftlicher Sicherheit“ verabschiedet. Damit verpflichteten sich die G7-Staaten nicht nur national auf Resilienz-Maßnahmen etwa für eine bessere Sicherheit von Lieferketten und kritischer Infrastruktur. Weitreichender ist, dass sie übereinkamen, sensible Technologien zu schützen und gemeinsam auf wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen Dritter zu reagieren. Auch wenn hier anders als im Abschlusskommuniqué des Gipfels nicht explizit Namen genannt werden, konstituiert die Erklärung eine einheitliche und koordinierte Antwort des Westens auf die geopolitischen Herausforderungen durch China in einer sich fragmentierenden Weltwirtschaft. Thematisch und politisch ist das Papier wegweisend.
Zugleich hat damit das Gastgeberland einen Erfolg erzielt. Für Tokio ist ökonomische Sicherheit ein wichtiges Anliegen. Bereits 2010 sah sich Japan einem Exportboykott Chinas bei seltenen Erden ausgesetzt. Von dem geographischen Nachbarn fühlt man sich politisch, wirtschaftlich und militärisch bedroht. Die nationale Sicherheitsstrategie Japans führt präzise aus, vor welchen Gefährdungen das Land ökonomisch steht. Tokio reagierte darauf mit verschiedenen legislativen Anpassungen und einem „Gesetz zur Förderung der wirtschaftlichen Sicherheit“. Im nationalen Sicherheitsrat, in den Ministerien für Äußeres und für Wirtschaft sowie bei den Diensten wurden entsprechende Kapazitäten personeller und institutioneller Art geschaffen. Im August 2022 nahm ein neues Ministerium für wirtschaftliche Sicherheit seine Arbeit auf. Auch die Privatwirtschaft bemüht sich aktiv, Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten gegenüber China zu begrenzen. Dabei mag das japanische Konzept innovativ, vorbildhaft und inhaltlich überzeugend sein. Es wäre aber kaum tauglich ohne eine kooperative Abstimmung mit gleichgesinnten Partnerländern. Es lag für Japan nahe, das Thema ökonomische Sicherheit auf dem Gipfel zu priorisieren.
Als zielführend dürften sich insbesondere jene Teile der Erklärung erweisen, die die G7-Staaten – und gegebenenfalls gleichgesinnte Dritte – auf ein gemeinschaftliches, abgestimmtes Vorgehen im Außenwirtschaftsverkehr mit China festlegen. Eine neue Koordinierungsplattform soll die Mitglieder der Gruppe zu einer gemeinsamen Bewertung, Abschreckung und Reaktion gegenüber wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen befähigen. Um den Technologieschutz im kritischen Dual-Use-Bereich zu stärken, soll die multilaterale Exportkontrolle ausgebaut und um die Kontrolle von Auslandsinvestitionen ergänzt werden. Dabei ist die Erklärung ein Kompromiss zwischen dem entschlossenen Standpunkt der USA, etwa hinsichtlich eines Screenings von Auslandsinvestitionen, und einer verhaltenen Position Europas. Die Bedeutung des Dokuments liegt darin, dass man zu einer gemeinsamen Haltung und Sprache gelangen konnte.
Der G7-Gipfel ist traditionell ein Meilenstein der internationalen Klimadiplomatie. Die Verhandlungen in Hiroshima waren indes geprägt von den Folgen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Entsprechend dominierte das Spannungsverhältnis zwischen Energiesicherheit und Treibhausgasneutralität die klimapolitischen Diskussionen. Einerseits setzte die G7 wichtige Impulse für den Klimaschutz und die COP 28 – die nächste Vertragsstaatenkonferenz der Klimarahmenkonvention im Dezember in Dubai. So wurden etwa konkrete Ziele zum Ausbau erneuerbarer Energien benannt. Andererseits einigte man sich mit Blick auf den Ausstieg aus fossilen Energien und deren Finanzierung auf Kompromissformeln. Diese spiegeln nicht nur enge fiskalische Spielräume wider, sondern auch unterschiedliche Prioritäten bei den Anliegen, Dekarbonisierung wie Diversifizierung der Energieversorgung zu erreichen und sich von Russland als Lieferanten fossiler Rohstoffe zu lösen.
Damit sich die Pariser Klimaziele erreichen lassen, muss der gerechte Übergang zu einer nachhaltigen, klimaneutralen Kreislaufwirtschaft auch in Entwicklungs- und Schwellenländern gelingen. Dass ambitionierte Wirtschaftsmächte wie Indien, Indonesien, Vietnam und Brasilien als Gäste zum Gipfel eingeladen wurden, unterstreicht das Bemühen der G7, große Emittenten politisch einzubinden. Die Signale aus Hiroshima sind klar: Verschiedene Formen von Partnerschaften auf Augenhöhe sollen ein gemeinsames Vorankommen auch in Sektoren ermöglichen, die global im Wettbewerb stehen. Bestehende Formate wie der Klimaclub, die Just Energy Transition Partnerships und die G7 Partnership for Global Infrastructure and Investment (PGII) wurden in Hiroshima durch den Clean Energy Economy Action Plan ergänzt. Hier adressiert die G7 unter anderem die für Entwicklungs- und Schwellenländer zentrale Frage der Handelspolitik.
Der Finanzierungsbedarf für den Aufbau klimafreundlicher Infrastruktur, aber ebenso für den Umgang mit Klimawandelfolgen ist enorm. Auch angesichts eskalierender globaler Verschuldungskrisen sind Fortschritte im Bereich Finanzierung essentiell für erfolgreiche Verhandlungen bei der COP 28. Für erforderlich halten die G7-Staaten hier innovative Modelle und eine breite Basis aller finanzstarken Länder, der Entwicklungsbanken und des privaten Finanzsektors. Dafür wollen sie sich im Rahmen des hochrangigen Treffens zur globalen Entwicklungsfinanzierung (New Global Financing Pact) einsetzen, das im Juni in Paris stattfinden wird. Ebenso beabsichtigen sie, entsprechende Ansätze beim G20-Gipfel in Neu-Delhi und auf der Jahrestagung von Weltbank und Internationalem Währungsfonds in Marrakesch weiterzuentwickeln. In Dubai wird sich dann zeigen, ob der Hiroshima-Gipfel vermochte, Anstöße für eine grundlegende Reform der internationalen Finanzarchitektur zu geben und den multilateralen Klimaprozess zu stärken.
Zitiervorschlag 360 Grad gesamt:
Lars Brozus, Alexandra Sakaki (Koord.), Der G7-Gipfel in Japan: Internationaler Kontext, inhaltliche Ergebnisse und politische Perspektiven , Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 05.06.2023 (360 Grad)
Zitiervorschlag einzelner 360 Grad-Beitrag:
Alexandra Sakaki, „Japans Gipfel-Handschrift“, in: Lars Brozus, Alexandra Sakaki (Koord.), Der G7-Gipfel in Japan: Internationaler Kontext, inhaltliche Ergebnisse und politische Perspektiven , Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 05.06.2023 (360 Grad)
Japan hosted the Group of Seven (G7) leaders summit in Hiroshima on May 19 through 21. Leaders discussed a wide range of issues, including Chinese economic coercion, Russia’s invasion of Ukraine, nuclear nonproliferation, AI governance, and sustainable development. The G7 stepped up its efforts to be more inclusive of the Global South’s diverse views—inviting leaders from Africa, Asia, Latin America, and the Pacific—but the five experts writing for this Council of Councils global perspective series diverge on how effective this approach will be.
Die G7 tritt im Ukraine-Krieg geschlossen auf. Doch Russland betreibt eine international durchaus erfolgreiche Gegenmobilisierung. Was kann der Westen dagegen tun?
Bewährungsprobe für die deutsche Präsidentschaft in Kriegszeiten
doi:10.18449/2023A12
Ökologische Transformation, soziale Kohäsion und fiskalische Nachhaltigkeit sollten die deutsche G7-Präsidentschaft prägen. Stattdessen dominieren geopolitische Aggression, demokratische Regression und geoökonomische Entflechtung den G7-Gipfel auf Schloss Elmau. Wir beleuchten die Positionen wichtiger Länder außerhalb der EU und zentrale Sachthemen. Die Koordination dieses „360 Grad“ hat Lars Brozus übernommen.
Gestaltungsmöglichkeiten für den deutschen G7-Vorsitz
doi:10.18449/2021A71