Seit Februar 2022 verteidigt sich die Ukraine gegen einen erneuten, diesmal vollumfänglichen Angriffskrieg Russlands. Nachdem sich die Maßnahmen zur unmittelbaren Unterstützung der Ukraine – militärische, diplomatische, finanzielle und humanitäre – eingespielt haben, gilt es nun, die langfristige Sicherheit des Landes zu konzipieren. Sicherheitszusagen sollten politische, wirtschaftliche und militärische Pfeiler umfassen. Eine Nato-Mitgliedschaft wäre dabei zentral. Sie liegt im geostrategischen und normativen Interesse der Nato, auch wenn ihre Umsetzung risikovoll und schwierig ist. Die Alliierten sollten der Ukraine auf dem Gipfel im Juli praktische Schritte zum Beitritt aufzeigen, um den Übergang von Sicherheitszusagen zu ‑garantien zu definieren.
Die erneute russische Invasion hat der Frage nach internationalen Sicherheitsgarantien für die Ukraine neue Dringlichkeit verliehen. Unter extremem militärischem Druck bot Präsident Selenskyj im März 2022 eine Neutralität seines Landes und die Aufgabe des Ziels Nato-Beitritt an, wenn die Ukraine von den fünf ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (VN) und von anderen Partnern Sicherheitsgarantien bekäme. Die Aufdeckung der russischen Massaker in Butscha und Irpin sowie die militärischen Erfolge der Ukraine haben jedoch dazu geführt, dass diese Idee inzwischen obsolet ist – vor allem weil das Vertrauen in etwaige Sicherheitszusagen Russlands zerstört ist. Stattdessen hat Selenskyj im September 2022 die Nato-Mitgliedschaft im »fast track«-Modus beantragt. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung unterstützt diesen Kurs.
In westlichen Staaten wird dagegen kontrovers diskutiert, wie die Sicherheit der Ukraine dauerhaft gewährleistet werden kann. Die Vorschläge reichen von einer Neutralität über bi-, mini- und multilaterale Sicherheitszusagen bis zum Nato-Beitritt. Der von der Ukraine entworfene »Kyiv Security Compact« vom September 2022 plädiert zum Beispiel für detaillierte Schritte militärischer, wirtschaftlicher und politischer Unterstützung, mit festen Konsultations- und Entscheidungsprozessen und gebündelt in einem multilateralen Rahmendokument.
Ukrainische und europäische Interessen
Aus Sicht der Ukraine sind verlässliche Sicherheitszusagen notwendig, weil vorherige Ansätze gescheitert sind: Weder das Budapester Memorandum (1994) noch die politische Unterstützung westlicher Staaten konnten die Annexion der Krim und die Destabilisierung des Donbas ab 2014 verhindern, ebenso wenig den Angriff im Februar 2022. Mit dem Budapester Memorandum gab die Ukraine die auf ihrem Territorium stationierten Atomwaffen ab, wofür Russland, Großbritannien und die USA sich verpflichteten, die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine zu achten. Doch waren keine konkreten Sicherheitszusagen vorgesehen, sondern nur die Verpflichtung, im Konfliktfall zu beraten und den VN-Sicherheitsrat anzurufen. Russland verletzte das Budapester Memorandum mit der Annexion der Krim 2014. Daher forderte Selenskyj im Mai 2022, erneute Zusagen dürften »keine Absichtserklärungen« sein, sondern müssten »konkrete Garantien« beinhalten, »was genau von wem garantiert ist«.
Dahinter steht die Annahme, dass die Sicherheit der Ukraine nicht nur bei fortgesetzten Kriegshandlungen oder einem Waffenstillstand fragil wäre, sondern selbst dann, wenn sie ihr gesamtes Territorium befreien könnte. Denn Russlands Intentionen bleiben aggressiv, solange es – wie von Präsident Putin in geschichtsrevisionistischen Essays dargelegt – die territoriale Integrität, staatliche Souveränität und nationale Identität der Ukraine in Frage stellt und Kriegsführung als legitimes und effizientes Mittel ansieht, seine Interessen durchzusetzen. Zudem hat Russland im September 2022 die Annexion von vier weiteren ukrainischen Gebieten (Donetsk, Luhansk, Zaporizhya, Cherson) proklamiert. Der russischen Verfassung zufolge dürfen sie – wie die Krim – nicht wieder zurückgegeben werden. Ihre vollständige Eroberung und Integration bleiben deshalb russisches Staatsziel. Die Abwesenheit oder vorübergehende Abnahme von Kriegshandlungen gegen die Ukraine wären demnach nur mangelnden Fähigkeiten oder taktischen Überlegungen Russlands geschuldet, nicht aber der Aufgabe der Maximalziele. Solange die russische Führung an ihrem neoimperialen und aggressiven Ansatz festhält, droht ein erneuter Angriff.
Es liegt aber auch im Interesse Deutschlands, der Mitglieder der Europäischen Union (EU) und der Nato, die Sicherheit der Ukraine langfristig zu gewährleisten. Erstens würde eine von Russland gänzlich oder in Teilen besetzte Ukraine die Sicherheitslage in Europa massiv verschlechtern. Die Stationierung russischer Truppen auf ukrainischem Territorium zusammen mit dem Ausbau von Belarus zu einem militärischen Vorposten könnte Russlands Fähigkeiten zur Machtprojektion gegenüber der EU und der Nato erweitern. Ein russischer Erfolg würde in Moskau die Überzeugung festigen, dass sich außenpolitische Interessen mit militärischer Gewalt durchsetzen lassen. Die beiden Pfeiler der Militarisierung der russischen Außenpolitik – Fähigkeiten und Intentionen – lassen sich nur brechen, wenn Russland eine eindeutige Niederlage erleidet und die staatliche Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine langfristig gesichert werden.
Zweitens trägt die militärische Unterstützung für die Ukraine schon jetzt zur Verteidigung der regelbasierten Ordnung und damit auch zu Sicherheit, Stabilität und Wohlstand Deutschlands bei. Schließlich zielt Moskaus Angriff nicht allein auf die Ukraine, sondern ebenfalls auf eine Neugestaltung der europäischen Sicherheitsordnung zugunsten Russlands. Das zeigen etwa die im Dezember 2021 von Moskau vorgelegten Vertragsentwürfe für die USA und die Nato. Darin fordert Moskau ein Ende der »Politik der offenen Tür« der Allianz sowie einen Rückzug aller Truppen und Waffen, die seit 1997 in ihren neuen Mitgliedsländern stationiert wurden. Glaubwürdige reziproke Schritte für Russland schlug Moskau nicht vor. Das unterstreicht sein Ziel, im Osten der Nato eine Pufferzone zu errichten, während es den postsowjetischen Raum als exklusive Einflusszone betrachtet, in der es die Souveränität der Staaten im Sinne seiner hegemonialen Dominanz ablehnt. Die Sicherheit und Souveränität der Ukraine zu gewährleisten ist damit auch Sicherheitsvorsorge für EU und Nato.
Drittens wäre die Sicherheitslage in Europa stabiler, wenn nach dem Krieg eine der stärksten und kampferprobtesten Armeen Europas in die Nato integriert würde. Blieben die ukrainischen Streitkräfte außerhalb, hätten die Europäer weniger Möglichkeiten, deren Ausrichtung zu begleiten, was destabilisierende Folgen haben könnte.
Viertens erfordert der wirtschaftliche und infrastrukturelle Wiederaufbau der Ukraine externe Sicherheit. Die Weltbank veranschlagte im Februar 2023 die Kosten für den Wiederaufbau auf 411 Milliarden US-Dollar. Ein solch enormer Einsatz, der staatliche und private Investitionen voraussetzt, braucht sichere Rahmenbedingungen. Scheitert oder stockt der Wiederaufbau, könnte das die sicherheitspolitische Lage verschärfen und die demokratischen Reformprozesse verlangsamen.
Nicht zuletzt muss der EU-Beitritt der Ukraine abgesichert werden. Das Land hat seit Juni 2022 Kandidatenstatus. Laut Artikel 42 Absatz 7 des EU-Vertrags schulden die Mitglieder einander Unterstützung im Falle eines bewaffneten Angriffs. Die EU-Länder sind jedoch ohne US-Fähigkeiten bereits jetzt nicht in der Lage, die EU zu verteidigen.
Drei Optionen können die Sicherheit der Ukraine maximal, verlässlich und dauerhaft gewährleisten.
Drei Optionen für Sicherheitsgarantien
Die erste Option besteht in der Demilitarisierung Russlands. Dazu wäre eine Reduzierung der Streitkräfte und der Rüstungsindustrie auf ein Maß nötig, das Selbstverteidigung gestattet, aber keine Offensivoperationen. Flankiert werden müsste dies durch eine Demilitarisierung der strategischen Kultur. Diese verändert sich indes nur über langfristige Sozialisationsprozesse oder externe Schocks. Für Letzteres wäre eine eindeutige Niederlage gegen die Ukraine notwendig, und die russische Führung und Bevölkerung müssten ihr neoimperiales Rollenverständnis aufgeben. Dafür sind ein Regimewechsel und eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der hegemonialen Vergangenheit unumgänglich. Aber selbst dann könnte sich die Ukraine nur bei einer gleichzeitigen Denuklearisierung des russischen Militärpotentials sicher fühlen.
Die zweite Option liegt darin, dass die Ukraine ihr Abschreckungspotential durch eine unilaterale Nuklearisierung stärkt, das heißt entweder ein Atomwaffenarsenal aufbaut oder mittels einer Ankündigung Druck erzeugt. Schließlich schützt das Prinzip atomarer Abschreckung aktuell sowohl Russland als auch die Nato. Zwar wäre der Weg zu Atomwaffen ein sehr komplexes und langwieriges Projekt, das ohne westliche Unterstützung und Zustimmung geringe Erfolgsaussichten hätte, erst langfristig Sicherheitsgewinne brächte und der Reputation der Ukraine schaden würde. Allerdings zeigt das Beispiel Südkorea vom März 2023, dass allein die Drohung damit helfen kann, US-Sicherheitsgarantien zu erhalten. Sollte die Ukraine diesen Weg wählen, würde sie sich dem israelischen Modell annähern, das auf starken Streitkräften, Atomwaffen und bilateralen Abkommen beruht. Dieses Modell lässt sich aber nur bedingt auf die Ukraine übertragen, insbesondere da Russland nuklear droht.
Eine Demilitarisierung ist zurzeit unrealistisch, eine Renuklearisierung nicht wünschenswert, denn sie würde die europäische Sicherheitsordnung und das globale Nichtverbreitungsregime schwer belasten und sicherlich russische Reaktionen provozieren.
Daher bleibt als dritte Option die Einbindung der Ukraine in bi- oder multilaterale Systeme kollektiver Verteidigung. Ein bilaterales Bündnis mit Beistandsgarantien der USA und / oder ein Netz an bilateralen Bündnissen mit militärisch starken Staaten, möglichst Atommächten, könnten ihre Sicherheit gewährleisten. Dies erscheint jedoch wenig realistisch, da kaum ein Staat das Risiko einer militärischen Konfrontation mit Russland im Alleingang eingehen möchte. Weil die USA sich langfristig auf den indo-pazifischen Raum orientieren, werden sie sich schwerlich auf solche Zusagen einlassen. Für die Europäer, die ein Eigeninteresse an der Sicherheit der Ukraine haben, wäre das auch nicht erstrebenswert. Vielmehr ließe sich die abschreckende Wirkung gegenüber Moskau am effektivsten durch eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine erzielen. Sollten die Alliierten ihr diese Perspektive nicht aufzeigen, könnte sie über andere Wege versuchen, ihre Sicherheit zu gewährleisten, beispielsweise eine Renuklearisierung.
Alle Optionen außerhalb dieser drei bieten einen geringeren Schutz und sollten treffender »Sicherheitszusagen« genannt werden.
Risiken und Zielkonflikte
In der Nato besteht kein Konsens darüber, wann und unter welchen Bedingungen die Ukraine beitreten kann. 2008 hat sie ihr die Mitgliedschaft in Aussicht gestellt, allerdings ohne einzelne Schritte zum Beitritt festzulegen. Die Ukraine blieb damit in einer sicherheitspolitischen Grauzone. Seit dem russischen Überfall 2014 hat die Nato ihre praktische Unterstützung verstärkt, etwa in Trust Funds und mit dem Comprehensive Assistance Package. Seit dem Überfall 2022 bietet das Bündnis umfangreiche, aber nur nichtletale Unterstützung an, zum Beispiel medizinische Ausstattung.
Generalsekretär Stoltenberg hat seit dem Angriff 2022 mehrfach betont, dass der Platz der Ukraine in der Nato sei, ein Beitritt aber erst nach Kriegsende erfolgen könne. Die Ukraine hingegen besteht auf der Beitrittszusage bzw. auf konkreter Unterstützung in der Übergangsphase bis zu ihrer Aufnahme.
Einige Alliierte befürworten einen zeitnahen Beitritt der Ukraine und fordern klare Zusagen auf dem Gipfel im Juli (Polen, die baltischen Staaten), etwa in Form des Heranführungsinstruments Membership Action Plan (MAP) oder einer Beitrittseinladung. Andere sind skeptisch (USA, Deutschland), wären aber politisch und militärisch zentral für die Absicherung des Sicherheitsversprechens. Tatsächlich bestehen zahlreiche Risiken hinsichtlich eines ukrainischen Nato-Beitritts, die vier Aspekte betreffen: Eskalationsgefahren, Zeitpunkt, territoriale Reichweite, Handlungsfähigkeit der Nato.
(1) Die Alliierten müssen das Ziel der langfristigen Sicherheit der Ukraine und die nur schwer zu kalkulierenden Eskalationsrisiken gegeneinander abwägen. Zu Letzteren gehört die Gefahr, dass sich der Krieg innerhalb der Ukraine und darüber hinaus ausweitet. Allerdings sind mögliche »rote Linien« Russlands nur schwer zu lesen. Die russische Führung subsumiert in ihrem Bedrohungsverständnis nationale Sicherheit unter Regimesicherheit. Risiken werden unter dem Aspekt gewichtet, wie sie die Stabilität des autoritären Herrschaftssystems gefährden. Seit der dritten Amtszeit Putins (ab 2012) hat sich die Regimelegitimation verändert – vom Versprechen wirtschaftlichen Wohlstands hin zu immateriellen Legitimationsressourcen. Dazu zählen die Demonstration von Größe nach außen, die »Sammlung russischer Länder«, die Konfrontation mit dem Westen. Vor diesem Hintergrund wäre ein Nato-Beitritt der Ukraine ein sichtbares Zeichen der Schwächung und könnte zusammen mit einer militärischen Niederlage das Putin’sche Regime destabilisieren. Eine solche innenpolitische Entwicklung könnte Putin dazu verleiten, den Krieg in der Ukraine weiter zu eskalieren – auch wenn begründete Zweifel bestehen, ob er dazu überhaupt noch in der Lage ist.
Vorstellbar wären russische Reaktionen, die von weiteren Mobilmachungen bis zur Inszenierung eines nuklearen Zwischenfalls reichen; ein Einsatz taktischer Atomwaffen ist ebenfalls nicht auszuschließen. Zwar lassen sich bislang keine konkreten Schritte für eine Eskalation über die Ukraine hinaus belegen. Aber vollkommen undenkbar sind sie nicht angesichts der Eigendynamiken des autoritären russischen Regimes und seiner intransparenten Entscheidungsprozesse, die die Gefahr von Fehlkalkulationen erhöhen.
Auch eine weitere Zunahme hybrider Bedrohungen wäre zu erwarten. Der Kreml könnte die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Nato über den ukrainischen Beitritt nutzen, um die Geschlossenheit von Nato und EU und damit deren Handlungsfähigkeit zu schwächen. Russland könnte eine kontrovers geführte Beitrittsdebatte mit Propaganda beeinflussen, eine Aufnahme der Ukraine als Eskalation darstellen, um westliche Ängste (etwa durch atomare Drohungen) zu schüren und zu bewirken, dass die Unterstützung für das Land reduziert wird. Ferner ist denkbar, dass Moskau einen Nato-Beitritt der Ukraine auch international, etwa in Afrika, als Beweis für einen hegemonialen Westen heranzieht. Die Inszenierung von Unberechenbarkeit gehört dabei zu russischen Manipulationsmechanismen, um westliche Gesellschaften und Institutionen zu destabilisieren. Das Jahr 2024 bietet hierfür einige Angriffspunkte, da in zahlreichen westlichen Ländern Wahlen anstehen, beispielsweise in den USA, vielen Staaten Europas und für das Europäische Parlament.
(2) Zudem bestehen Risiken mit Blick auf den Zeitpunkt eines Nato-Beitritts der Ukraine. Generalsekretär Stoltenberg zufolge wäre dieser erst nach dem Krieg möglich, ohne dass allerdings geklärt wäre, ob das einen Waffenstillstand oder ein Friedensabkommen voraussetzt. Eine solche Konditionierung reduziert zwar das Risiko, dass die Nato in den Krieg hineingezogen wird, kann aber auf russischer Seite den Anreiz erhöhen, ihn fortzuführen, um einen Beitritt zu verhindern.
(3) Ein ähnliches Dilemma existiert hinsichtlich der Frage, für welches Gebiet Sicherheitszusagen gelten sollen. Die Ukraine erfüllt eines der 1995 von der Nato genannten Beitrittskriterien nicht: die Abwesenheit von Territorialkonflikten (die anderen Kriterien fordern unter anderem eine funktionierende Demokratie und Marktwirtschaft, die faire Behandlung von Minderheiten, die demokratische Kontrolle des Militärs). Wenn die Nato den Beitritt von der Lösung von Territorialkonflikten abhängig macht, könnte sie Russland ermutigen, den Konflikt mit der Ukraine gezielt am Kochen zu halten, um deren Beitritt zu verhindern. Um der Ukraine die freie Bündniswahl zu ermöglichen, wäre es daher im Interesse der Alliierten, Flexibilität bei der Erfüllung dieses Kriteriums zu entwickeln, etwa durch eine temporär begrenzte geographische Anwendbarkeit der Verteidigungszusagen und Zusatzvereinbarungen. Historische Ansatzpunkte bietet das Beispiel Westdeutschland, das 1955 der Nato unter der Bedingung beitrat, die deutsche Vereinigung nicht militärisch unilateral voranzubringen.
Für die Ukraine wäre vorstellbar, dass die freien Gebiete der Nato beitreten, gekoppelt mit der Zusage, den Nato-Schutz auf noch besetzte Gebiete nach deren Befreiung auszuweiten. Hinzu kämen für die Ukraine verpflichtende Konsultationen für militärische Operationen sowie eine Konditionierung von Artikel 5 im Falle unilateralen Vorgehens. Notwendig wären außerdem klare Konsequenzen, sollte die Ukraine diese Bedingungen missachten.
(4) Des Weiteren könnte ein Beitritt der Ukraine die Geschlossenheit der Nato unterminieren, die aber Voraussetzung für ihre Handlungsfähigkeit als Verteidigungsbündnis ist. Bereits jetzt belastet die Beitrittsdebatte das Bündnis. Ein Scheitern ist nicht ausgeschlossen – zumal momentan Ungarn und die Türkei den weniger umstrittenen Beitritt Schwedens blockieren. Eine erneute Blockade würde die Glaubwürdigkeit der Allianz beschädigen.
Einige Alliierte sind besorgt, dass ein Beitritt der Ukraine bilaterale Konflikte ins Bündnis tragen könnte, schließlich waren deren Beziehungen zu einigen Nachbarn vor dem Krieg schwierig und sind es teils noch, so zu Ungarn. Andere befürchten einen zu starken Fokus auf Russland auf Kosten der anderen Bedrohungen, die das Strategische Konzept von 2022 aufführt, wie die Instabilität an der Nato-Südflanke oder China.
Überdies fürchten viele Alliierte, in den Krieg hineingezogen zu werden, etwa wenn Russland nach einem Beitritt der Ukraine an einer möglichen Kontaktlinie oder Grenze provozieren würde und die Nato reagieren müsste oder falls sich Kyiv unilateral entschließen sollte, nach einem Beitritt noch besetzte Gebiete militärisch zu befreien. Auch die Entscheidungsfindung in der Nato in einem solchen Fall könnte zu Spaltungen führen, die Russland wohl auszunutzen wüsste. Ein russischer Angriff nach einem Beitritt, auf den die Allianz zerstritten reagiert, wäre eine Bankrotterklärung für die Nato und ein Risiko für die Ukraine.
Tatsächlich besteht ein Zielkonflikt zwischen den Vorteilen einer langfristigen Integration der Ukraine in westliche Institutionen und dem kurzfristigen Risiko, durch die damit verbundene Debatte die interne Kohäsion gerade dieser Institutionen zu schwächen und dadurch die Unterstützung für das Land zu gefährden. Da ein Nato-Beitritt erst langfristig realistisch wird, können diese Fragen vertagt werden. Möglicherweise ergeben sich aus einer erfolgreichen Kriegsführung der Ukraine neue Lösungsräume. Unabhängig davon sollte die Nato über flexible Ansätze nachdenken, die die schrittweise Erweiterung von Sicherheitszusagen erlauben oder die Verteidigungszusagen konditionieren.
Militärisch würde ein Beitritt eine Anpassung der Nato-Verteidigungspläne und ‑strukturen erfordern, damit die Alliierten das erweiterte Nato-Territorium verteidigen und die ukrainischen Streitkräfte in die Verteidigungsmaßnahmen integrieren könnten. Um die Glaubwürdigkeit der Nato-Zusagen zu unterstreichen, wären Truppenstationierungen empfehlenswert, insbesondere unter Beteiligung der großen Staaten wie Deutschland sowie der Nuklearmächte USA, Frankreich und Großbritannien. Doch kommt die größte Skepsis gerade aus Washington und Berlin. Solange der wichtigste Sicherheitsgarant USA einen Beitritt nicht unterstützt, wird er nicht stattfinden. Zudem müssten angesichts des sinkenden Interesses der USA an europäischen Sicherheitsfragen vor allem die Europäer den Mehraufwand leisten. Allerdings haben Letztere Schwierigkeiten, die 2019 lancierte Nato-Neuaufstellung umzusetzen. Nur sieben von 30 Alliierten erfüllten 2022 den »Defense Investment Pledge«, das heißt die Verpflichtung, zwei Prozent ihrer Wirtschaftskraft in Verteidigung zu investieren. Zwar steigen viele Verteidigungshaushalte, aber es ist unklar, wie dauerhaft die Steigerungen sind und ab wann sie die Einsatzfähigkeit verbessern.
Doch eine politische Zusage der Nato, die militärisch nicht hinterlegt ist, nutzt weder der Ukraine noch dem Bündnis selbst. Vielmehr schadet sie seiner Glaubwürdigkeit und Europas Sicherheit und Stabilität. Deshalb sollte ein Beitritt nur erfolgen, wenn die Ukraine die Bedingungen erfüllt oder Alternativen vereinbart wurden und wenn die Nato ein glaubhaftes Verteidigungsversprechen abgeben kann. Auf dem Nato-Gipfel im Juli in Vilnius wollen die Alliierten die Weichen für ihre künftigen Beziehungen zur Ukraine stellen. Weil eine schnelle Aufnahme unrealistisch erscheint, sind Zwischenschritte notwendig, die die Sicherheit der Ukraine schon vor einem Beitritt substantiell und verlässlich steigern.
Von Sicherheitszusagen zu ‑garantien: Ein »Security, Reconstruction and Peace Compact«
Aktuell diskutiert werden sowohl Vorschläge, die Sicherheitszusagen als Ersatz für eine Nato-Mitgliedschaft definieren, als auch solche, die darin eine Vorstufe sehen. In Anbetracht der zentralen Bedeutung, die der Ausgang des Krieges für die europäische Sicherheit hat, sollten die Maßnahmen als Vorbereitung zum Beitritt konzipiert werden. Um Enttäuschungen und Missverständnisse zu vermeiden, muss gleichzeitig geklärt werden, dass Unterstützung nach Artikel 5 bis zum Beitritt ausgeschlossen ist. Dennoch bieten diese Maßnahmen einen Mehrwert gegenüber bloßer Ad‑hoc-Unterstützung, wenn sie auf Dauer und auf ein bestimmtes Ziel (Sicherheit der Ukraine und Nato-Beitritt) ausgerichtet und verlässlich sind. Dies erfordert verbindliche Zusagen und einen Prozess von Konsultation und Entscheidungsfindung, was zudem Reibungsverluste von Ad‑hoc-Maßnahmen reduziert.
Um die Sicherheit der Ukraine auf dem Weg zu einem Nato-Beitritt zu gewährleisten, ist ein umfassender und vernetzter Ansatz notwendig, der das Land effektiver und skalierbar schützt. Denn militärische, politische und wirtschaftliche Elemente bedingen und verstärken sich gegenseitig: So ist ein sicherer Rahmen die Voraussetzung für den wirtschaftlichen Wiederaufbau, und wirtschaftlicher Aufschwung wiederum ermöglicht Investitionen in Sicherheit. Sinnvoll wären sich wechselseitig verstärkende Maßnahmen, in denen die verschiedenen Akteure (EU, Nato, G7, Ramstein-Format) eingebunden sind: ein umfassender »Security, Reconstruction and Peace Compact«. Ziel ist es, die Ukraine unwiderruflich in den euroatlantischen Strukturen zu verankern und ihr, Russland und den EU- und Nato-Staaten zu verdeutlichen, dass sie dorthin gehört und in keiner Puffer- oder Grauzone liegt. Im Fokus steht hier der sicherheitspolitische Pfeiler.
Der sicherheitspolitische Pfeiler
Sicherheitszusagen sollten den Weg zu Sicherheitsgarantien in Form eines Nato-Beitritts definieren. Ziel dabei wäre, die Ukraine so zu ertüchtigen und ihre Sicherheit so zu verbessern, dass sie im Falle einer politischen Gelegenheit für einen Nato-Beitritt bereit ist. Ein solches Paket sollte drei Elemente beinhalten: Stärkung der Selbstverteidigungsfähigkeit der Ukraine und ihre weitere Verankerung in der Nato, militärische Schwächung Russlands, Stärkung der eigenen (EU, Nato) Resilienz, Abschreckung und Verteidigung.
(1) Für den ersten Bereich nennt der Kyiv Security Compact bereits konkrete Schritte, fokussiert allerdings auf bilaterale Formate. Zu empfehlen wäre eine multilaterale Anbindung an die Nato, da bilaterale Abkommen von den betroffenen Staaten unter Umständen als nicht attraktiv wahrgenommen werden. So könnte die Nato einen neuen Verteidigungs- und Abschreckungsplan für die Ukraine auflegen und diesen um bilaterale Abkommen, wie im Kiyv Compact vorgeschlagen, ergänzen.
Ein solcher Plan würde existierende Maßnahmen bündeln, erweitern und durch eine überjährige Finanzierung auf längere Zeit sichern. Der Schwerpunkt läge zunächst auf einer langfristigen systematischen militärischen Unterstützung, damit die Ukraine den Konflikt im Sinne der eigenen Ziele beenden kann. Gleichzeitig müsste die Integration in die Nato-Strukturen fortgesetzt und der Aufbau eines Abschreckungspotentials vorangetrieben werden. Es gilt, Russland klarzumachen, dass die westliche Unterstützung dauerhaft ist, aber das russische Spiel auf Zeit nicht erfolgversprechend. Notwendig wären die Verstetigung, Intensivierung und langfristige Finanzierung von Waffenlieferungen (inklusive Munition, Wartung, Logistik, Ersetzen zerstörter Ausrüstung); Trainings- und Ausbildungsprogramme (bilateral, EU, Nato); Investitionen in die und Kooperation mit der ukrainischen Rüstungsindustrie; Technologiepartnerschaften, der Ausbau der nachrichtendienstlichen Kooperation.
Bislang lief die letale Unterstützung für die Ukraine bewusst außerhalb der Nato über das Ramstein-Format und bilateral, um eine Beteiligung der Nato am Krieg zu verhindern. Daher sind individuell ausgestaltete, aber koordinierte bi- oder minilaterale Abkommen mit Mechanismen der Entscheidungsfindung (Konsultationspflicht, vorbereitete Entscheidungen) eine zentrale Ergänzung zum Nato-Pfeiler. Als Modell könnten die Zusagen dienen, die Schweden und Finnland in der Zeit zwischen Antrag und Beitritt erhalten haben, und die des Kiyv Compacts. Einige Alliierte erwägen, solche »Koalitionen der Willigen« aufzubauen, um die Ukraine militärisch zu unterstützen und ihre Streitkräfte von bestimmten Aufgaben zu entlasten, beispielsweise im Sanitätsbereich. Die Beteiligung außereuropäischer Partner, etwa aus der G7, würde die Legitimität erhöhen. Eine Anbindung der Ukraine an regionale europäische Formate, wie die Joint Expeditionary Force unter britischer Führung, würde außerdem ihre Verankerung im westlichen Bündnis signalisieren. Gleichzeitig müssen die Alliierten darauf achten, dass die minilateralen Formate den Bündniszusammenhalt nicht beeinträchtigen.
Natürlich sind die personellen Ressourcen der Ukraine während des Krieges begrenzt, zum Beispiel um an Nato-Übungen teilzunehmen. Auch haben die Staaten viele Möglichkeiten der Unterstützung bereits ausgereizt. Aber selbst eine minimale Beteiligung der Ukraine an solchen Formaten und das Zusammenführen unter einem neuen Dach wären ein starkes Zeichen.
Zudem sollten die Alliierten die politisch-militärische Anbindung der Ukraine an die Nato mit allen Mitteln unterstützen, die unterhalb von Artikel 5 zur Verfügung stehen. Dazu zählen symbolische Schritte mit praktischem Nutzen: Die Alliierten könnten sie zu ausgewählten Sitzungen des Nato-Rates einladen; die geplante Aufwertung der Nato-Ukraine-Kommission in einen Nato-Ukraine-Rat würde Kyiv mehr Instrumente geben, etwa um auf Entwicklungen hinzuweisen, und den Alliierten erlauben, von der Kampferfahrung der Ukraine zu lernen.
Schließlich sollten die Alliierten die Beitrittsperspektive auf dem bevorstehenden Gipfel mit einem Projekt und einem konkreten Arbeitsplan bis zum nächsten Nato-Gipfel 2024 in Washington glaubwürdig untermauern. Ein MAP wäre zwar ein greifbarer Unterschied zum Gipfel 2008 in Bukarest, der mit einer Beitrittszusage ohne MAP mangelnde Bereitschaft signalisierte. Noch besser wäre jedoch, aus der Logik und Symbolik des MAP auszubrechen, um der spezifischen Situation der Ukraine Rechnung zu tragen, und ein neues, auf sie zugeschnittenes Programm mit eigenen Beitrittskriterien, Zeitlinien und Inhalten zu vereinbaren. Der neue Nato-Ukraine-Rat könnte die Umsetzung begleiten.
(2) Die zweite Achse zielt darauf, die Demilitarisierung Russlands voranzubringen, solange es an seiner aggressiven, neoimperialen Politik festhält. Ziel ist dabei, Russlands Fähigkeit zu schwächen, die Verluste seiner Streitkräfte auszugleichen bzw. diese zu modernisieren. Hierfür bieten sich weitere Sanktionen an, die die russische Rüstungsindustrie und das Budget treffen, und der Kampf gegen Sanktionsumgehung. Auch die Weitergabe von Technologien Dritter an Russland muss unterbunden werden.
(3) Beim dritten Arbeitsstrang geht es um die Stärkung von Resilienz, Verteidigung und Abschreckung der EU- und der Nato-Staaten sowie um die Sicherung der langfristigen Unterstützung für die Ukraine. Dabei muss sich die Allianz auch auf mögliche destabilisierende Folgen vorbereiten, die mit einer Schwächung des russischen Regimes einhergehen könnten, etwa durch eskalierende Machtkämpfe wie im Juni 2023 mit der »Wagner«-Truppe. Es ist davon auszugehen, dass Russland eine Zusage der Nato an die Ukraine propagandistisch als Bedrohung ausschlachten wird, zumal diese Sichtweise anschlussfähig an prorussische (und US-kritische) Diskurse in Deutschland ist. Hinzu kommt Russlands Störpotential auf dem Balkan und in Afrika. Die dauerhafte Stärkung der Ukraine muss deshalb zwingend mit einer Stärkung der eigenen Resilienz einhergehen. Dazu gehört zum Beispiel, Sinn, Zweck und Ziele eines ukrainischen Nato-Beitritts den eigenen Bevölkerungen proaktiv zu vermitteln, gleichzeitig Desinformation zu bekämpfen und vorzugehen gegen Einrichtungen, die sich als zivilgesellschaftliche ausgeben, aber de facto vom russischen Staat kontrolliert sind.
Ausblick auf den Nato-Gipfel
Die Forderungen der Ukraine sind nachvollziehbar, aber in ihrer Gesamtheit aktuell nicht erfüllbar. Doch eine »Nichtreaktion« der Alliierten auf dem Nato-Gipfel im Juli kann in der Kriegssituation fatale Folgen haben, weil sie ein Signal der Schwäche und des Zweifelns an die Ukraine und an Russland senden würde. Anstatt die Beitrittsfrage zu vertagen, sollten die Alliierten praktische Zwischenschritte vorschlagen, die der Ukraine unmittelbar nutzen und sie im Interesse der Nato (und der EU) verlässlich absichern.
Fortschritt im Hinblick auf einen Beitritt setzt militärische Erfolge der Ukraine voraus; die systematische und langfristige militärische Unterstützung der Ukraine ist Voraussetzung für alle Debatten im Bündnis. Je erfolgreicher sie im Krieg ist, desto realistischer wird ein Nato-Beitritt als struktureller Beitrag zu Stabilität und Sicherheit Europas und ihrer selbst. Sollte Vilnius zu einem Gipfel der Unentschlossenheit werden, während parallel die ukrainischen Offensiven in einem möglicherweise entscheidenden Kriegsjahr stattfinden, könnte Russland das als Zeichen der Schwäche des Westens und als Ermunterung verstehen, den Krieg fortzusetzen.
Dr. Margarete Klein ist Leiterin der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
Dr. Claudia Major ist Leiterin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
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DOI: 10.18449/2023A44