Im Jahr 2020 wird Asien erstmals mehr als die Hälfte der Weltwirtschaftsleistung erbringen. Dass das 21. Jahrhundert ein asiatisches werden wird, steht aber noch nicht fest. Vor allem vier Risiken können Asiens weiteren Aufstieg gefährden, schreibt Hanns Günther Hilpert.
Wenn die These eines asiatischen Jahrhunderts zutreffen sollte, würde im Jahr 2020 ökonomisch wohl der Startschuss dazu fallen. Denn in diesem Jahr wird Asien erstmals mehr als die Hälfte der kaufkraftbereinigten Weltwirtschaftsleistung generieren – Berechnungen der Financial Times zufolge sowie nach den Daten und Länderabgrenzungen der UN-Welthandels- und Entwicklungskonferenz (UNCTAD).
Sicherlich bleiben Westeuropa und Nordamerika eminent wichtige Kraftzentren der Weltwirtschaft, vor allem auch als Impulsgeber und Innovatoren. Quantitativ können diese »alten« Industrieregionen aber nicht mehr mit der Güter- und Dienstleistungsproduktion in Asien und den in Asien generierten Haushalts- und Unternehmenseinkommen mithalten. China ist, in Verbindung mit den umliegenden Volkswirtschaften, zur Fabrik der Welt geworden. Aber auch Südost- und Südasien haben in den vergangenen Dekaden große Erfolge in der Armutsbekämpfung erzielt, so dass heute etwa die Hälfte der Mittelschichten der Welt in Asien leben. Sollten sich die Trends der vergangenen Dekaden fortsetzen, wird Europa immer mehr zur wirtschaftlichen Peripherie.
Auch 2020 wird Asien die weltweit höchsten Wachstumsraten aufweisen, sein Gewicht in der Weltwirtschaft erhöhen und seinen Vorsprung weiter ausbauen. Damit wird es auch politisch weiter an Bedeutung gewinnen. Allerdings wird nach Prognosen des IWF der durchschnittliche Zuwachs für die Region mit 5,3 Prozent so niedrig ausfallen wie seit der Asienkrise nicht mehr. Die Schwergewichte der Region – China, Indien, Japan und Korea – schwächeln. Neuer Wachstumsspitzenreiter wird laut IWF-Prognosen 2020 erstmals Bangladesch mit einem Zuwachs von geschätzten 7,5 Prozent sein. Und da diese Prognosen noch vor Ausbruch der Corona-Krise gestellt wurden, sind sie heute nach unten zu korrigieren.
Der Corona-Virus zeigt zudem, wie plötzlich unerwartete Ereignisse die scheinbar robuste, unaufhaltsame Wachstumsmaschine Asiens ins Stocken bringen können. Die seuchenbedingte Beschränkung der Industrieproduktion in China, der Einbruch von Konsum und Nachfrage ziehen über internationale Lieferketten und globale Energie- und Rohstoffmärkte die gesamte Weltwirtschaft in Mitleidenschaft. Dabei lässt sich der in China und weltweit entstehende Schaden quantitativ noch gar nicht bemessen. Denn noch immer ist unklar, wann und wie sich die Epidemie eindämmen lässt.
Der Corona-Virus beschreibt aber nicht die einzige mögliche Bruchstelle für Asiens wirtschaftlichen Aufschwung. Die Region ist auch in anderer Hinsicht verwundbar. Folgende vier Punkte verdienen kritische Beachtung.
Erstens könnte sich der mit Phase I des sino-amerikanischen Handelsabkommens zwischen China und den USA ausgehandelte handelspolitische Waffenstillstand als trügerisch erweisen. Nicht auszuschließen ist, dass Donald Trump versuchen wird, ein Phase-II-Abkommen ähnlich aggressiv mit Strafzöllen, Sanktionen und Boykottdrohungen zu verhandeln wie im vergangenen Jahr in Phase I. Unklar ist auch, ob das Abkommen in China überhaupt umgesetzt wird, nicht zuletzt, weil Chinas Importe – durch die Corona-Krise bedingt – rückläufig sind. In jedem Fall wird die politische Lenkung des Handels zwischen China und den USA zu erheblichen wirtschaftlichen Effizienzverlusten führen: China hat sich verpflichtet, mehr amerikanische Waren einzukaufen. Und so werden Industrie- und Agrarimporte, etwa aus Japan, Korea, Deutschland, Brasilien durch Lieferungen aus den USA ersetzt. Lieferketten werden aus China an weniger rentable Standorte verlagert.
Zweitens ist keine Region der Welt so stark vom Öl aus der Golfregion abhängig wie Asien. Auch wenn es bei den aktuell niedrigen Ölpreisen noch unwahrscheinlich ist, könnte schon 2020 infolge des iranisch-amerikanischen Konflikts eine neue Ölkrise drohen. Stärker als Europa würde ein Ölpreisschock die großen asiatischen Volkswirtschaften China, Japan, Korea, Taiwan, Indien, Thailand, Vietnam und selbst das frühere OPEC-Mitglied Indonesien treffen.
Drittens ist Asien nicht nur durch externe Schocks wie den handelspolitischen Protektionismus der USA oder einen plötzlichen Ölpreisanstieg verwundbar, sondern auch durch die von Asien selbst zu verantwortenden hohen Schuldenstände. Insbesondere die großen Volkswirtschaften China, Japan, Indien und Indonesien sind – intern oder extern – sehr hoch verschuldet. Dies mag in einer konjunkturell stabilen Weltwirtschaft unproblematisch sein. Angesichts eines labilen weltwirtschaftlichen makroökonomischen Umfeldes könnte dies aber sehr schnell sehr kritisch werden.
Viertens bergen Asiens unbewältigte außen- und geopolitische Konflikte zugleich auch ökonomische Risiken. Die Einhegung der ungelösten Konflikte um Taiwan, Nordkorea, Kaschmir und um die Hoheitsrechte im süd- und ostchinesischen Meer ist durch die Zuspitzung der sino-amerikanischen Rivalität sicherlich nicht einfacher geworden. Es ist für Asien besorgniserregend, dass die Region zu dem wichtigsten territorialen Spielfeld in dem geopolitischen, technologischen und wirtschaftlichen Konflikt der beiden Großmächte geworden ist. Für die Drittstaaten in Asien wird das Navigieren zwischen den USA einer- und China andererseits zunehmend schwierig. Zudem reicht der Einfluss der USA nicht mehr aus, die vielen innerasiatischen Konflikte einzudämmen, wie beispielsweise den zwischen Südkorea und Japan. Die alte Gewissheit, dass Entwicklung und Wachstum Asiens von einem Umfeld geopolitischer Stabilität profitieren können, gilt immer weniger.
Trotz der genannten Vorbehalte ist die Fortsetzung des wirtschaftlichen Wachstums in Asien hochwahrscheinlich. Sie ist aber keineswegs zwangsläufig. Auch wenn Europa für Asien ein eminent wichtiger Handels- und Wirtschaftspartner ist, kann es in der Region politisch nur begrenzt Einfluss ausüben. Es fehlen nicht nur die militärischen Kapazitäten, die Asiens Realpolitiker beeindrucken könnten. Auch ist Europa anhand seiner inneren politischen Probleme viel weniger Vorbild als es einst war. Dies ist bedauerlich, da der alte Kontinent von den Entwicklungen in Asien immer stärker betroffen sein wird.
Eine neue SWP-Studie befasst sich mit der Rivalität zwischen den USA und China. Im Interview spricht SWP-Direktor Volker Perthes, einer der Herausgeber, über die Dimensionen des Konfliktes, seine internationalen Auswirkungen und die richtige Strategie für Europa, damit umzugehen.
Worum es geht, was es für Europa (und andere) bedeutet
doi:10.18449/2020S01
Zum selbstbewussten Umgang mit chinesischen Initiativen
Die Chancen des europäisch-japanischen Freihandelsabkommens