Nach dem Austritt der Briten aus der EU wird ab März über die künftige Beziehung Großbritanniens mit der EU verhandelt. Der Versuch, bis Ende 2020 ein Handelsabkommen zu schließen, ist sehr ambitioniert, aber kann als Rahmenabkommen gelingen, meinen Bettina Rudloff und Evita Schmieg.
Eine gemeinsame politische Erklärung der EU und Großbritanniens vom Oktober 2019 umreißt die Grundpfeiler der künftigen Zusammenarbeit nach dem Brexit, auch der Handelsbeziehungen: Ein umfassendes Freihandelsabkommen mit weitgehender Zollfreiheit soll entstehen. Damit Regularien und Standards auch künftig wenig auseinanderlaufen, wird eine enge Zusammenarbeit in verschiedenen Sektoren angestrebt.
Zumindest die Grundrichtung ist damit klar. Bestätigt wurde sie sowohl in der Rede von Premierminister Johnson am 3. Februar als auch in dem am gleichen Tag vorlegten Vorschlag der EU-Kommission für ein Verhandlungsmandat zum Freihandelsabkommen EU–Großbritannien. Billigen die Mitgliedstaaten das Mandat am 25. Februar, können die drängenden Gespräche mit London beginnen. Denn die Zeit ist knapp. Das betonen beide Seiten.
Die im Austrittsabkommen vereinbarte Übergangsphase läuft Ende Dezember aus. Ab Januar 2021 aber drohen Zölle und damit verbunden Kontrollen. Denn neben dem Konsens über die Grundrichtung gibt es in einigen Punkten offenen Dissens. Großbritannien ist vor allem die Abkehr von der Personenfreizügigkeit wichtig, dem Anlass für das Brexit-Votum. Auch wollen die Briten unabhängig von der EU eigene Regulierungen erlassen und Freihandelsabkommen mit Drittländern schließen. Gleichzeitig will das Land aber auch größtmögliche Zollfreiheit auf dem EU-Markt. Und genau hier liegt aufgrund der unterschiedlichen Vorstellungen darüber, wie eng die Zusammenarbeit sein soll, das Problem.
Die EU will im Sinne eines sogenannten »Level Playing Field«, also fairen und gerechten Wettbewerbs, Unternehmen und Verbraucher vor unfairem Wettbewerb durch künftig eventuell niedrigere britische Standards schützen. Das gilt nicht nur für Produkte, sondern unter anderem auch für Steuern oder Staatsbeihilfen. Neben der konkreten Ausgestaltung dieser Fragen muss geklärt werden, wie umfassend etwa das Abkommen neben dem Güterverkehr auch Dienstleistungen und den Kapitalverkehr erfassen soll. Auch muss Einigung darüber erzielt werden, ob und welche sektorspezifischen Regelungen es geben soll.
Für die EU ist zumindest klar, dass die Verbindung der vier Grundfreiheiten des Gemeinsamen Markts – freier Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital – beibehalten bleibt. Will Großbritannien dieses für Personen einschränken, muss an anderer Stelle ein Ausgleich geschaffen werden – zum Beispiel durch Zölle auf Waren.
In welchem Rahmen Einigungen möglich sind, zeigen bestehende EU-Abkommen – bei allen sind Zollkontrollen unerlässlich. Die stärkste Koordinierung nationaler Handelspolitik besteht im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Er bietet den Partnern EU, Norwegen, Island, Schweiz und Liechtenstein bis auf wenige ausgenommene Sektoren untereinander Zollfreiheit und Zugang zum EU-Binnenmarkt. Allerdings übernehmen die Partner auch automatisch alle EU-Änderungen an Regulierungen.
Große handelspolitische Souveränität des Partnerlandes bleibt unter dem umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommen CETA zwischen der EU und Kanada erhalten. Auch Johnson sagte in seiner Rede Anfang Februar, dass er sich für die künftigen Beziehungen ein Freihandelsabkommen »ähnlich dem Kanadas« vorstellen könne. Die Partner können danach interne Regulierungen und Standards etwa zu Produktionsverfahren oder Kennzeichnungen unter Berücksichtigung des ohnehin vorgegebenen einheitlichen WTO-Rahmens für alle WTO-Mitglieder frei definieren. In diesem und vergleichbaren Drittstaatenabkommen wird jede einzelne Zolllinie getrennt und für jede Regulierung einzeln über eine Angleichung verhandelt. Kommt man zu keiner Einigung, gelten beim Import weiterhin die Bestimmungen des Einfuhrlandes. An den Grenzen muss dann kontrolliert werden, ob die jeweiligen Importe den Standards entsprechen.
Um sich bis Ende 2020 auf ein handelspolitisches Rahmenabkommen einigen zu können, empfiehlt es sich, Erkenntnisse aus bereits beschlossenen Abkommen zu nutzen. Denn der Versuch, ein Abkommen bis zum Ende des Jahres zu schließen, ist sehr ambitioniert. Normalerweise liegt die Verhandlungsdauer bei mehreren Jahren, im Fall CETA waren es sieben.
Allerdings besteht im Fall EU–Großbritannien im Vergleich zu anderen Verhandlungen eine günstige Ausgangssituation: Sonst wird darüber verhandelt, wie Zölle gesenkt und produktspezifische Standards harmonisiert oder gegenseitig anerkannt werden können. Beim Brexit ist dieses Ziel aber die Ausgangslage. Nun geht es darum, wie in Zukunft mit eventuell voneinander abweichenden Regulierungen umzugehen ist – und wie eventuell einzelne Zölle zu definieren sind. Kurzum: Die Verhandlungstiefe ist geringer.
Doch wie können Kompromisslinien aussehen? Gegenleistung für freien Zugang zum Markt ist aus Sicht der EU, dass Großbritannien auch in Zukunft veränderte europäische Standards übernimmt – was es aktuell ablehnt.
Alternativ könnte ein Mechanismus der beidseitigen Angleichung verhandelt werden. Beide könnten sich zunächst für eine Übergangsphase auf einen »Alertmechanismus« einigen. Danach würden spezielle Detailverhandlungen für den konkreten Fall eröffnet, dass sich Regelungen voneinander entfernen, entweder durch Änderungen auf Seiten der EU oder Großbritanniens. Um diese Änderungen festzustellen, ist deren verlässliche Bekanntgabe (Notifizierung) nötig. Tritt der Fall ein, könnte man versuchen, die unterschiedlichen Standards entweder zu harmonisieren oder gegenseitig anzuerkennen. Gelingt dies nicht, müssten Grenzkontrollen und Einfuhrregelungen für die entsprechenden Produkte definiert werden. Für entsprechende Monitoring-Mechanismen und Abkommen zur gegenseitigen Anerkennung gibt es zahlreiche Vorbilder, sowohl in bestehenden EU-Abkommen als auch auf WTO-Ebene.
Um der politischen Sensibilität des Themas Regulierung Rechnung zu tragen, könnten auch Branchen wie etwa Lebensmittel, die als Symbol der eigenen Regelungshoheit besonders wichtig erscheinen, von vorneherein ganz oder zunächst befristet vom Versuch der Harmonisierung oder gegenseitigen Anerkennung ausgeklammert werden.
Mit viel gutem Willen kann ein Rahmenabkommen bis zum Jahresende gelingen – und ein harter Brexit verhindert werden. Dies aber wäre erst der Anfang weiterer, komplexer Verhandlungen.
Innenpolitische Dynamik in Großbritannien und Optionen für die EU-27
doi:10.18449/2019A47
Eine Übergangsphase nach dem Brexit erfordert eine maßgeschneiderte Lösung
Handels- und wirtschaftspolitisch steht viel auf dem Spiel