Boris Johnson geht auf Konfrontationskurs: Seit seiner Ernennung zum Premierminister des Vereinigten Königreichs ordnet er die Agenda seiner Regierung dem Ziel unter, die EU um jeden Preis zum 31. Oktober 2019 zu verlassen – mit zunehmender Wahrscheinlichkeit ohne Abkommen. An seinen ersten Amtshandlungen wird deutlich, dass der Wechsel mehr ist als eine Stabsübergabe, wie sie bei einem Führungswechsel innerhalb einer Partei üblich ist. Die Konservative Partei wandelt sich unter seiner Führung endgültig zur Partei des harten No-Deal Brexits, während die Opposition zerstritten bleibt. Ein Machtkampf mit dem Parlament ist in vollem Gange. Angesichts einer nur noch theoretisch denkbaren Parlamentsmehrheit sind vorgezogene Neuwahlen unausweichlich. Entscheidend ist dabei ihr Zeitpunkt: ob vor oder nach dem EU-Austritt. In Anbetracht dessen muss auch die EU ihre Brexit-Strategie überdenken.
Auch nach der Ernennung Boris Johnsons zum britischen Premierminister liegt der Schlüssel zum Verständnis des Brexit-Dramas nach wie vor in der britischen Innenpolitik. Der politische und rechtliche Rahmen bleibt eng: Nach Ablauf von zwei Fristverlängerungen soll das Vereinigte Königreich die Europäische Union (EU) zum 31. Oktober 2019 verlassen. Der mit der EU bereits im November 2018 vereinbarte Austrittsvertrag hat sich nach drei ablehnenden Voten im Parlament als nicht mehrheitsfähig erwiesen. Die neue Regierung lehnt ihn grundsätzlich ab, solange der Nordirland-»Backstop« nicht aus ihm gestrichen wird. Gleichzeitig hat sich Boris Johnson unmissverständlich (»do or die«) verpflichtet, den Austritt aus der EU Ende Oktober zu vollziehen. In dieser kritischen Lage hält die EU – mit der vollen Rückendeckung der Staats- und Regierungschefs der 27 übrigen EU-Staaten – an dem bisherigen Austrittsabkommen fest. Ohne Einigung auf ein Austrittsabkommen und ohne weitere Fristverlängerung wird der ungeordnete No-Deal Brexit folglich zur wahrscheinlichsten Option (siehe SWP-Arbeitspapier EU/Europa 1/2019).
Dennoch gilt es auch auf europäischer Seite, einen grundlegenden Wandel in der Brexit-Strategie des Vereinigten Königreichs anzuerkennen. Um die Handlungsoptionen für die EU-27 zu evaluieren, sollten die neue Brexit-Strategie Boris Johnsons, der politische Machtkampf zwischen Regierung und Parlament in London sowie die Verhandlungsinteressen der Europäer gemeinsam betrachtet werden.
Johnsons Brexit-Strategie
Im ersten Schritt hat Boris Johnson die britische Regierung neu aufgestellt und auf den No-Deal Brexit – zumindest als glaubwürdige Verhandlungsstrategie – ausgerichtet. Alle Minister seiner Regierung mussten sich unmissverständlich zum Austritt am 31. Oktober und einem potentiellen No-Deal Brexit bekennen. Theresa May hatte 2016 zwar ebenfalls die für den Brexit relevantesten Ämter – Brexit-Minister, Außenminister, Handelsminister – jeweils mit bekennenden Brexit-Befürwortern besetzt und diese in die Verantwortung genommen. Um den Zusammenhalt in der Konservativen Partei aufrechtzuerhalten, hat sie aber gleichzeitig im Kabinett stets eine Balance zwischen Austrittsbefürwortern und (zumindest ehemaligen) Austrittsgegnern gewahrt.
Anders Johnson: In Kombination mit der von ihm geforderten Akzeptanz eines No-Deal Brexits wechselte er mehr als die Hälfte des Kabinetts aus. Befürworter einer engen Anbindung an die EU wie Finanzminister Philip Hammond mussten das Kabinett verlassen oder traten zurück. Maßgebliche Gegner des Austrittsabkommens und Befürworter eines klaren Bruchs mit der EU wurden befördert, wie etwa Dominic Raab (jetzt Außenminister), Priti Patel (Innenministerin) oder Jacob Rees-Mogg (Vorsitzender des Unterhauses). Anders als unter May wird sich das Kabinett unter Johnson geschlossen hinter einen No-Deal Brexit stellen.
Der No-Deal als Basis-Option
Mit dieser neuen Regierungsausrichtung geht eine grundsätzliche Änderung der britischen Brexit-Strategie einher:
Das betrifft zunächst die strategische Kommunikation über einen No-Deal Brexit. Zwar hat auch Johnson öffentlich erklärt, einen geordneten Brexit aushandeln zu wollen. Anders als May richten er und seine Berater aber die gesamte Regierungsarbeit auf den ungeordneten No-Deal Brexit aus. Gleichzeitig knüpft Johnson seine persönliche Glaubwürdigkeit daran, dass es ihm gelingt, den No-Deal Brexit notfalls auch gegen parlamentarische Widerstände zum 31. Oktober 2019 durchzusetzen.
Dabei konfrontiert Boris Johnson die EU mit Maximalforderungen, die eine Einigung nahezu kategorisch ausschließen. Fokus auch Johnsons ist das Nordirland-Protokoll des Austrittsvertrags (»Backstop«, siehe SWP-Aktuell 55/2018). Bereits getroffene Vereinbarungen, wie diejenige von Dezember 2017 zwischen Großbritannien und der EU, die Grenze in Nordirland auf jeden Fall offenzuhalten, stellt er wieder in Frage. Während die EU‑27 bislang weitere Nachverhandlungen des Austrittsabkommens ablehnen, hat Johnson nicht eine Änderung des Backstops – etwa in Form eines Zeitlimits – gefordert, sondern dessen Streichung. Mit dieser Forderung signalisiert der Premier, dass er nicht an einem Kompromiss interessiert ist, sondern (zunächst) an einer offenen Konfrontation mit der EU.
Langfristige Trennung
Ebenso entscheidend ist, dass Boris Johnson auch für das längerfristige Verhältnis Großbritanniens zur EU und zum Rest der Welt eine gänzlich andere Vision verfolgt als Theresa May. Diese wollte mit ihrem »Chequers«-Ansatz einen Spagat vollführen – Verlassen von Binnenmarkt und Zollunion, aber eine enge wirtschaftliche Partnerschaft mit reibungslosem Waren- und Dienstleistungsverkehr mit der EU. Dies wurde von den EU‑27 als »Rosinenpicken« aus dem Binnenmarkt zurückgewiesen, hätte aber auch eine enge Anbindung an EU-Regulierung erfordert.
Johnson betont, dass der Brexit nur erfolgreich verwirklicht werden kann, wenn Großbritannien die Möglichkeit bekommt, von EU-Standards abzuweichen. Demnach strebt er nur ein einfaches Freihandelsabkommen mit der EU an, das es ihm erlaubt, eigene Standards zu setzen und flexibel Handelsverträge mit dem Rest der Welt abzuschließen. Aus EU-Perspektive wäre damit die Rosinenpicken-Gefahr gebannt, umso notwendiger erscheint ihr dann aber ein Backstop, um die Grenze in Nordirland offenzuhalten.
Machtkampf zwischen Regierung und Parlament
Für seine Neuausrichtung hat Boris Johnson jedoch keine parlamentarische Mehrheit. Erforderlich wären 320 Sitze. Nach den verkorksten Neuwahlen von 2017 führen die Konservativen eine Minderheitsregierung mit Unterstützung der 10 Abgeordneten der nordirischen DUP. Johnsons Fraktion ist durch Austritte und im Zuge von Nachwahlen seit 2017 von ursprünglich 317 auf aktuell nur noch 311 Abgeordnete geschrumpft. Rechnerisch hat Johnson also selbst mit der DUP nur eine Mehrheit von 321 der 639 aktiven Abgeordneten.
Selbst bei striktester Fraktionsdisziplin wäre es mit einer solchen Mehrheit schwierig zu regieren. In den Brexit-Abstimmungen ist die Fraktionsdisziplin gerade – aber nicht nur – bei den Konservativen fast vollständig eingebrochen. Nur in einer von 41 Parlamentsabstimmungen, die seit Januar 2019 zum Brexit stattgefunden haben, sind die Konservativen geeint aufgetreten – dem Misstrauensvotum gegen Theresa May. In Abstimmungen gegen den No-Deal Brexit gab es jeweils mindestens 15 Tories, die bereit waren, gegen die Regierung zu stimmen. Auf der anderen Seite bleiben jene mindestens 46 Brexit-Hardliner, die auch ein modifiziertes Austrittsabkommen ablehnen.
Dabei gab es im Parlament in den vielen Brexit-Abstimmungen des ersten Halbjahres 2019, die zum Teil sehr knapp ausgingen, eigentlich nur zwei Konstanten: Auf der einen Seite ist es der Regierung nicht gelungen, eine Mehrheit für ihr Austrittsabkommen zu organisieren. Auf der anderen Seite fand sich aber auch für keine einzige alternative Vorgehensweise eine Mehrheit – ob nun ein zweites Referendum, ein weicherer Brexit mit Zollunion, eine Rücknahme des Austritts oder ein ungeordneter Brexit. Explizit und mehrfach abgelehnt hat die Parlamentsmehrheit den No-Deal Brexit. Ein Machtkampf zwischen der Johnson-Regierung und dem Parlament über den No-Deal ist insofern programmiert. Für den weiteren Verlauf des Brexit-Prozesses gibt es vier entscheidende Fragen.
Begrenzte Optionen zur Verhinderung eines No-Deals
Die erste Frage ist, ob sich die aktuelle Parlamentsmehrheit gegen die Regierung Johnson durchsetzen kann, wenn es gilt, einen No-Deal Brexit zu verhindern. Bei genauerer Betrachtung sind die parlamentarischen Möglichkeiten für diese Option erstaunlich gering:
Wichtig sind zunächst die grundsätzlichen rechtlichen Bedingungen. Als einzige Brexit-Variante ist der No-Deal Brexit nicht an Voraussetzungen geknüpft, er bedarf auch keiner gesonderten parlamentarischen Zustimmung. Denn der No-Deal Brexit tritt automatisch ein, wenn zum 31. Oktober 2019 weder ein Abkommen noch eine Fristverlängerung mit der EU vereinbart wurde. Während für die Realisierung des No-Deal Brexits ein Verstreichen der Artikel‑50-Frist genügt, müsste das Parlament aktiv eine Veränderung erzwingen, wenn es dieses Szenario verhindern will. Dies könnte das Parlament auf fünf verschiedenen Wegen durchsetzen.
Variante 1 und 2 wären entweder die Zustimmung zum vorliegenden Austrittsvertrag oder, im äußersten Fall, das Votum, die Artikel-50-Notiz zurückzunehmen und damit in der EU zu verbleiben. Letzteres ist gemäß Urteil des Europäischen Gerichtshofs bis zum 31. Oktober 2019 jederzeit möglich. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im House of Commons sind aber beide Varianten politisch weitgehend auszuschließen.
Variante 3 wäre ein erfolgreiches Misstrauensvotum gegen Premier Johnson mit dem Ziel, Neuwahlen zu erzwingen. Dies würde der britischen Bevölkerung die Möglichkeit geben, durch die Wahl einer neuen Regierung über den weiteren Brexit-Kurs zu entscheiden. Die Zeit bis zum 31. Oktober 2019 ist aber derart knapp, dass ein Misstrauensvotum alleine nicht ausreicht, um Neuwahlen noch vor dem No-Deal Brexit zu erzwingen (siehe unten).
Die vierte Variante wäre denn auch ein Misstrauensvotum in Kombination mit einer Mehrheit für eine technische Übergangsregierung, deren Hauptaufgabe es wäre, bei der EU eine Fristverlängerung zu beantragen, bevor Neuwahlen durchgeführt werden. Labour-Chef Jeremy Corbyn hat eine solche Übergangsregierung bereits den anderen Oppositionsfraktionen sowie einigen konservativen Rebellen vorgeschlagen, er selbst würde als Übergangspremier fungieren.
Doch während ein erfolgreiches Misstrauensvotum gegen Premier Johnson als letztes Mittel denkbar ist, sind die Hürden für eine alternative Regierung politisch ungleich höher. Erforderlich wäre dafür eine Mehrheit von 320 Abgeordneten, die nur zustande käme, wenn Labour (247), die SNP (35), die Liberaldemokraten (14), die walisische Regionalpartei Plaid Cymru (4) sowie die Grünen (1) und die neue Independent Group (5) zusammenarbeiten würden. Selbst dann fehlten immer noch 14 Stimmen, die unter den Konservativen und den 15 Unabhängigen gewonnen werden müssten. Die Liberaldemokraten haben Corbyns Vorschlag umgehend zurückgewiesen, doch die angesprochenen Gruppen haben Gespräche über eine potentielle Übergangsregierung aufgenommen. Am Ende könnte sich für die Liberaldemokraten, besonders aber auch für die konservativen No-Deal-Gegner die Frage stellen, was für sie das kleinere Übel ist: ein No-Deal Brexit unter Boris Johnson oder ein (temporärer) Premierminister Jeremy Corbyn.
Vorher steuern die No-Deal-Gegner im Parlament auf die letzte Variante zu: die Regierung per Gesetzgebung zu verpflichten, bei der EU eine Fristverlängerung zu beantragen. Diesen Weg hat das Parlament auch im März/April 2019 gegenüber Theresa May beschritten.
Bei dieser Vorgehensweise wären zwei Hürden zu überwinden. Auf der einen Seite wollte Theresa May im Frühjahr 2019 das Austrittabkommen verabschieden und hat dabei ihren Kritikern im Parlament jede Menge Angriffsfläche geboten, um Änderungsanträge einzubringen. Wenn die Regierung Johnson aber keinen Austrittsvertrag will, muss sie dem Parlament bis zum 31. Oktober keine weiteren Gesetzentwürfe zur Verabschiedung vorlegen. Dabei sind noch einige Gesetzgebungsinitiativen anhängig, mit denen die Regierung May Großbritannien auf den No-Deal vorbereiten wollte (z.B. zur Handelspolitik, Finanzmarktregulierung, Notfallgesetzgebung für Nordirland etc.). Diese Initiativen können – die notwendige Risikobereitschaft vorausgesetzt – im Zweifelsfall auch erst nach dem No-Deal Brexit ins Parlament eingebracht werden. Mit Hilfe des Unterhausvorsitzenden John Bercow kann das Parlament zwar versuchen, die Kontrolle über dessen Agenda zu übernehmen und entsprechende Gesetze zu verabschieden. Das ist aber schwerer durchzusetzen gegen eine Regierung, die bereit ist, alle parlamentarischen Mittel zu nutzen, um den Handlungsspielraum des Parlaments einzuschränken – einschließlich der von Johnson auf den Weg gebrachten erzwungen Parlamentspause.
Auf der anderen Seite kann auch das britische Parlament allein keine Verlängerung von Artikel 50 durchsetzen, sondern lediglich die Regierung verpflichten, einen Antrag bei der EU zu stellen. Die EU‑27 sollten sich in einem solchen Fall aber sehr genau überlegen, um wie viel Zeit die Frist erneut verlängert werden sollte, welches Ziel damit zu verbinden wäre und ob dies für die EU überhaupt tragbar ist. Politisch sollten die EU-27 dabei eigentlich nur dann eine erneute Fristverlängerung akzeptieren, wenn diese mindestens mit Neuwahlen im Vereinigten Königreich verbunden ist.
Keine Mehrheit für das Abkommen in Aussicht
Die zweite entscheidende Frage ist, ob eine parlamentarische Mehrheit für ein Austrittsabkommen möglich wäre, selbst wenn EU‑27 und britische Regierung eine neue Einigung finden würden. Zum jetzigen Zeitpunkt sind daran erhebliche Zweifel angebracht.
So haben auch beim dritten Anlauf in der Konservativen Fraktion noch 34 Abgeordnete gegen das bestehende Austrittsabkommen gestimmt. Zwar kann deren Zahl bei einem neuen, von Boris Johnson befürworteten Abkommen weiter sinken – 4 der 34 etwa sind mittlerweile Teil der Regierung. Doch haben auch nach Johnsons Amtsantritt bereits 46 konservative Abgeordnete öffentlich versprochen, gegen das Austrittsabkommen zu votieren. Ihre Kritik an diesem Abkommen geht dabei deutlich weiter und richtet sich nicht nur gegen den Backstop. Den No-Deal vor Augen und die Brexit Party im Nacken, ist zu erwarten, dass die harten EU-Gegner unter den Konservativen auch nicht für ein modifiziertes Abkommen stimmen. Hinzu kommt eine Handvoll pro-europäischer Tories, die den No-Deal Brexit ablehnen und zugleich in allen drei Abstimmungen gegen das Austrittsabkommen votiert haben.
Zudem haben die 10 Abgeordneten der DUP bisher geschlossen gegen das Austrittsabkommen gestimmt, weil sie den Backstop, aber auch jedwede Sonderregeln für Nordirland ablehnen. Ein Abkommen mit der EU, das weder den Backstop noch irgendwelche Sonderregeln für Nordirland enthält, ist aber kaum vorstellbar. Die Ablehnung der DUP wäre insbesondere sicher, wenn der Backstop durch Mechanismen ersetzt würde, mit denen Nordirland, nicht aber das gesamte Vereinigte Königreich teilweise an eine EU‑Regulierung gebunden bliebe, um das Offenhalten der Grenze zu garantieren.
So würde auch Boris Johnson – käme ein neues Austrittspaket zustande – vor demselben Dilemma stehen wie seinerzeit Theresa May und wäre auf rund 30+ Stimmen aus der Opposition angewiesen. Weder von den Liberaldemokraten noch von der SNP kann Johnson Unterstützung für ein Austrittsabkommen erwarten. Aus den Reihen der Labour Party haben zuletzt 5 Abgeordnete für das Austrittsabkommen gestimmt, plus 6 der aktuell 15 unabhängigen Abgeordneten. Labour als Ganzes hat politisch kein Interesse daran, vor Neuwahlen zum Wegbereiter eines konservativen Brexits zu werden. Dennoch gibt es eine Gruppe von etwa 30 Labour-Abgeordneten, die das Motto »Respect the Referendum« verfechten. Sie haben im August 2019 öffentlich ihre Bereitschaft signalisiert, notfalls für das Austrittsabkommen zu stimmen, um den No-Deal, aber auch ein zweites Referendum zu verhindern. Doch eben jener Gruppe stößt Johnson vor den Kopf, weil er die Parlamentspause erzwungen und angekündigt hat, von EU-Standards abzuweichen, einschließlich dem Schutz von Arbeitnehmerrechten.
Kurzum: Johnson müsste ein politisches Meisterstück gelingen – eine Einigung mit der EU, die ausreicht, um die Gegenstimmen bei den Tories zu minimieren, die DUP an Bord zu holen und das Maximum an Zustimmung aus der Labour-Fraktion einzuwerben.
Vorgezogene Neuwahlen sind unausweichlich
Angesichts dieser Mehrheitsverhältnisse ist die dritte entscheidende Frage, nicht ob, sondern wann es vorgezogene Neuwahlen in Großbritannien geben wird. Seit Ende 2018 ist die gesetzgeberische Arbeit im Unterhaus nahezu vollständig zum Erliegen gekommen. Ob es zum No-Deal Brexit kommt oder nicht: Johnson wird bis Mai 2022 – dem Termin für die nächsten regulären Wahlen in Großbritannien – auf dieser Basis nicht regieren können.
Mit Blick auf den engen Brexit-Zeitplan ist es jedoch von höchster Bedeutung, ob die Neuwahlen vor oder nach dem 31. Oktober 2019 stattfinden. Sollten sie in die Zeit ab dem 1. November fallen und die Austrittsverhandlungen mit der EU bis dahin nicht erneut verlängert worden sein, wird das Vereinigte Königreich die EU ohne Austrittsabkommen irreversibel verlassen. Eine nachträgliche Verlängerung und/oder eine nachträgliche Einigung auf das Austrittsabkommen sind dann nicht mehr möglich.
Diese Zeitabfolge ist deshalb so bedeutsam, weil Boris Johnson als britischer Premierminister nach aktueller Rechtslage die Kontrolle darüber hat, den Zeitpunkt von Neuwahlen festzulegen. Vorgezogene Neuwahlen können auf zwei Wegen herbeigeführt werden – zum einen mit einem Beschluss des Parlaments auf Vorschlag der Regierung. Dies erfordert jedoch eine Zwei-Drittel-Mehrheit, und diese wird nur dann zustande kommen, wenn Johnson selbst die Initiative ergreift und die Konservativen ebenfalls für Neuwahlen stimmen. Dies dürfte er tun, wenn das Parlament ihn verpflichtet, einen Verlängerungsantrag zu stellen. Zum anderen werden Neuwahlen angesetzt, wenn ein Misstrauensvotum gegen den Premierminister Erfolg hatte und innerhalb von vierzehn Tagen kein Alternativkandidat bzw. keine Alternativkandidatin eine Mehrheit findet. Der Wahltermin wird dann jedoch von der Königin auf Vorschlag des scheidenden Premierministers festgelegt – potentiell auch nach einem No-Deal Brexit Anfang November.
Der Brexit zerpflügt die politische Landschaft im UK
Die vierte entscheidende Frage ist daher, wie die längerfristigen Verschiebungen in der britischen Politik, die der Brexit verursacht, den kurzfristigen Machtkampf zwischen Parlament und Regierung beeinflussen.
So ist zunächst bemerkenswert, wie stark der Brexit mittlerweile die politischen Identitäten im Vereinigten Königreich prägt. Nach einer Studie von »UK in a Changing Europe« ist die Polarisierung in EU-Fragen seit dem Referendum 2016 noch einmal massiv fortgeschritten. Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung identifizieren sich entweder mit »Leave« oder mit »Remain«. Dem stehen nur 78,5 Prozent der Bevölkerung gegenüber, die sich mit einer politischen Partei identifizieren. Im Durchschnitt identifiziert sich die Bevölkerung politisch also stärker mit Leave/Remain als mit den politischen Parteien. Dies geht so weit, dass einer Befragung von YouGov zufolge die Mehrheit der Mitglieder (!) der Konservativen Partei bereit wäre, für die Durchsetzung des Brexits die Abspaltung Nordirlands (59%) und sogar die Zerstörung der eigenen Partei (54%) in Kauf zu nehmen. Auch bei den Remain-Befürwortern hat sich die Position jener verhärtet, die gegen einen weichen Brexit sind und für eine komplette Zurücknahme des Austrittsantrags.
Schrittweise orientiert sich das britische Parteisystem entlang dieser stark ausgeprägten Konfliktlinie neu. Die Konservative Partei hat sich dabei in den letzten drei Jahren sukzessive zur Partei der Verfechter nicht nur des harten, sondern gar des No-Deal Brexits entwickelt. Boris Johnson ist auch und gerade deshalb zum neuen Vorsitzenden dieser Partei und damit zum Premierminister gewählt worden, weil er den Mitgliedern seiner Partei den unbedingten Austritt zum 31. Oktober versprochen hat. Zumindest mittelfristig ist die Regierungspartei Großbritanniens daher klar auf einen harten Bruch mit der EU ausgerichtet.
Die Wucht des Konflikts äußert sich nicht zuletzt in der neuen Brexit Party, die bei den Europawahlen 2019 stärkste Kraft geworden ist, obwohl Nigel Farage sie erst sechs Wochen vor dem Wahltermin formell gegründet hat. Ziel und raison d’être der Partei ist es, einen No-Deal Brexit zu erzwingen. Trotz der harten Brexit-Position von Premier Johnson erhält die Brexit Party in Umfragen zwischen 12 und 15 Prozent Zustimmung. Dies entspricht ungefähr dem Stimmenanteil von UKIP bei den Parlamentswahlen von 2015. Mit ihrer national-konservativen Ausrichtung spricht die Brexit Party auch unabhängig von ihrer kompromisslosen Haltung zur EU eine Wählergruppe an, die sich eine Rückbesinnung auf die nationale Identität wünscht.
Links der Mitte des politischen Spektrums wird die Labour Party von den Spannungen um den Brexit zerrissen. Der Großteil ihrer Wähler tritt zwar klar für Remain ein, allerdings liegen zahlreiche umkämpfte Labour-Wahlkreise in Nordengland und Wales, wo Leave 2016 obsiegt hat. Deren Labour-Abgeordnete sträuben sich daher stark gegen ein zweites Referendum. Die Labour-Führung unter Jeremy Corbyn befürwortet mittlerweile ein zweites Referendum, aber nur als Alternative zu einem »schädlichen Tory-No-Deal«. Bevorzugtes Ziel sind hingegen Neuwahlen und im Anschluss daran von Labour geführte Verhandlungen mit der EU über den Brexit. Ihre ambivalente Haltung zum EU-Austritt, verbunden mit Antisemitismus-Vorwürfen gegen die Führung, ist ein Grund dafür, dass die Partei gegenüber 2017 in Umfragen stark an Zustimmung eingebüßt hat.
Von den großen politischen Parteien haben davon zuletzt die Liberaldemokraten profitiert. Sie setzen sich unmissverständlich für ein zweites Referendum und den Verbleib in der EU ein. Unter der neuen Führung von Jo Swinson sind sie in Umfragen teils an Labour vorbeigezogen und haben über 20 Prozent Zustimmung erlangt. Zuletzt konnten sie die erste Nachwahl unter Boris Johnson als Premierminister für sich entscheiden.
Hinzu kommt die regionale Komponente. In Schottland vereint die Scottish National Party (SNP) den Großteil der Remain-Stimmen auf sich und fordert ein neues Unabhängigkeitsreferendum ein. In Nordirland hingegen ist es unionistischer DUP und republikanischer Sinn Fein seit bald drei Jahren nicht gelungen, eine gemeinsame Regierung zu vereinbaren. Der ohnehin gefährdete Friedensprozess ist durch den Brexit noch fragiler geworden. Ein No-Deal Brexit würde insbesondere die Grenzregionen in Nordirland von allen Landesteilen des Vereinigten Königreichs wirtschaftlich wie politisch am härtesten treffen. In Schottland ebenso wie in Nordirland würde ein No-Deal Brexit neue Zentrifugalkräfte freisetzen.
Die Neuordnung der politischen Kräfte ist kein kurzfristiges Phänomen. Unabhängig davon, ob ein Abkommen geschlossen wird oder es zu einer Fristverlängerung mit potentiellem zweiten Referendum oder einem No-Deal kommt – der Brexit und das Verhältnis zur EU sowie die damit verbundenen politischen Identitäten werden die britische Politik über Jahre beschäftigen. Johnsons Strategie ist vor diesem Hintergrund darauf ausgerichtet, die Brexit Party zu neutralisieren, die Leave-Wähler bei den Tories zu versammeln und das Remain-Lager zwischen Liberaldemokraten und Labour gespalten zu halten. Aktuelle Umfragen bestätigen vorerst den Erfolg dieser Strategie: Die Zustimmung zu den Tories ist wieder auf über 30 Prozent gestiegen, während Labour und Liberaldemokraten sich mit je rund 20 Prozent gegenseitig den Rang streitig machen. Im britischen Mehrheitswahlrecht würde diese Konstellation eine deutliche Mehrheit für die Tories bedeuten.
Ein heißer Brexit-Herbst
So kommen vor dem 31. Oktober 2019 mehrere parallele Entwicklungen zusammen, die eine Brexit-Einigung deutlich erschweren.
Auf Seiten der EU ist das zentrale Datum der Europäische Rat am 17./18. Oktober. Dies wäre der späteste Zeitpunkt, um noch ein verändertes Brexit-Paket (Austrittsabkommen und Politische Erklärung) mit der britischen Regierung zu vereinbaren, das – unter sehr hohem politischen und Zeitdruck – noch vor Ende Oktober im britischen Unterhaus und dem Europäischen Parlament ratifiziert werden könnte.
Nicht unerheblich für die europäische Planung ist auch, dass der Übergang zur Von der Leyen-Kommission für den 1. November 2019 geplant ist. Bis zum 31. Oktober werden die Brexit-Verhandlungen also noch vom bestehenden EU-Personal geführt. Im Falle eines No-Deal Brexits wären die neue Kommission und der neue Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, gleich an ihrem ersten Amtstag mit der Herausforderung konfrontiert, das EU-Handeln zu koordinieren.
Komplexer ist die innenpolitische Lage im Vereinigten Königreich. So tagt das Unterhaus zunächst vom 3. bis maximal 13. September. Dies wäre die letzte Gelegenheit, per Regierungsantrag oder Misstrauensvotum Neuwahlen vor dem 31. Oktober anzustoßen. Angesichts der erzwungenen Parlamentspause wird in dieser Phase der Machtkampf zwischen Parlament und Regierung in vollem Umfang entbrennen. Dann folgen fünf Wochen Pause, in denen keine parlamentarische Aktivität stattfinden darf. In der Zwischenzeit finden die Parteikonferenzen der großen Parteien statt – in der Regel eine Zeit forcierter Polarisierung in Großbritannien, während der der Spielraum für politische Kompromisse begrenzt ist. Erst am 14. Oktober wird sich das Parlament wieder zur »Queen’s Speech« zusammensetzen, die noch einmal fünf Tage debattiert werden soll. In der Zeit vor dem Europäischen Rat am 17. Oktober hat das Parlament also nach der Zwangspause keine Handhabe mehr, in den Prozess einzugreifen. Erst in der Woche ab dem 22. Oktober kann das Parlament je nach Verhandlungsstand entweder ein letztes Mal über den Austrittsvertrag abstimmen oder versuchen, den No-Deal Brexit zu verhindern.
Strategische Geduld gefordert
Aus dieser komplexen Gemengelage ergeben sich für die weitere Brexit-Strategie der EU-27 und Deutschlands im Besonderen drei Schlussfolgerungen:
Erstens benötigen die EU-27 im kommenden Brexit-Herbst viel strategische Geduld. Gespräche mit London werden dadurch erschwert, dass parallel Regierung und Parlament um die Macht ringen und sich Boris Johnson de facto bereits im Wahlkampf befindet. Seine politische Kommunikation ist (bisher) primär darauf ausgerichtet, Wählerinnen und Wähler von der Brexit Party zurückzugewinnen. Vor Anfang Oktober sind kaum substantielle Verhandlungen möglich, das Zeitfenster für eine eventuelle Einigung bis zum Treffen des Europäischen Rats am 17. und 18. Oktober ist extrem klein. Bis dahin sollte sich die EU weder von No-Deal-Drohungen noch von den Machtrangeleien in London verunsichern lassen, in denen das Pendel zwischen No-Deal, Kompromisssuche und Neuwahlen rasch hin und her schwingen wird. Wichtig mit Blick auf die parlamentarischen Machtkämpfe wäre aber ein Signal: Einer erneuten Fristverlängerung sollte die EU nur in Kombination mit Neuwahlen zustimmen.
Zweitens sollten die EU‑27 aber auch die veränderte politische Lage in Großbritannien anerkennen. Das Austrittsabkommen in der vorliegenden Form wird das britische Parlament nicht mehr passieren, auch nicht wenn an der rechtlich unverbindlichen Politischen Erklärung noch geändert wird. Hält die EU an jedem Buchstaben von Austrittsabkommen und Backstop fest – wofür es gute Gründe gibt –, ist der für den kurzfristigen Ausgang des Brexit-Dramas entscheidende politische Konflikt der Machtkampf zwischen Regierung und Parlament. Anstatt das Austrittsabkommen für unantastbar zu erklären, wäre es aber auch für die EU besser, flexibler an die Verhandlungen heranzugehen. Denn das eigentliche Ziel bleibt, in einem geregelten Brexit die Interessen der EU-27 zu wahren – Schutz des EU-Binnenmarkts, Übernahme der finanziellen Verpflichtungen durch die Briten, Schutz der Rechte der EU-Bürger und das dauerhafte Offenhalten der Grenze zu Nordirland. Solange sich diese Interessen mit begrenzten Änderungen durchsetzen lassen und alle 27 EU‑Staaten einschließlich Irland dem zustimmen, sollte auch die EU‑27 gesprächsbereit bleiben.
Drittens braucht die EU eine politische Strategie für den Umgang mit einem No-Deal Brexit. Anders als bei Theresa May ist der No-Deal Brexit für Premierminister Boris Johnson Drohkulisse und politische Strategie in einem. Seine bedingungslose Festlegung auf den Austritt zum 31. Oktober 2019, Maximalforderungen für Nachverhandlungen, die Zusammenstellung seiner Regierung und die Zwangspause des Parlaments haben zur Folge, dass der No-Deal von einer Rückfalloption zum Basisszenario wird. Doch auch der No-Deal ist kein singuläres Ereignis, sondern nur der Auftakt für die nächste Verhandlungsphase im Brexit-Prozess. Nach eigenen Aussagen ist die EU wirtschaftlich für den No-Deal – soweit möglich – gewappnet. Politisch aber brauchen die EU‑27 und Deutschland ein Konzept, wie nach dem No-Deal die Einigkeit der 27 EU‑Staaten aufrechterhalten werden kann, sich die Nordirland-Problematik eindämmen, aber auch das Verhältnis zu Großbritannien wieder aufbauen lässt.
Dr. Nicolai von Ondarza ist Stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa.
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doi: 10.18449/2019A47