Boris Johnson muss sich im Brexit-Streit bald entscheiden. Dabei erhöht der designierte US-Präsident Biden die politischen Kosten für einen No-Deal-Brexit. Ausschlaggebend werden dennoch die Machtkämpfe in den Reihen der Tories sein, meint Nicolai von Ondarza.
Die Zeit für einen erfolgreichen Abschluss der Brexit-Handelsverhandlungen wird immer knapper. Weniger als 50 Tage verbleiben noch, bis das Vereinigte Königreich am 31. Dezember 2020 die Übergangsphase und damit den EU-Binnenmarkt und die Zollunion verlässt. Ein Abkommen über die zukünftigen Beziehungen zwischen EU und Vereinigtem Königreich müsste bis dahin nicht nur ausgehandelt sein, sondern auch noch die Zustimmung des Europäischen Parlaments erhalten. Doch die bisher kürzeste Dauer für ein solches parlamentarisches Verfahren betrug 59 Tage – und selbst da lag der zu prüfende Vertragstext bereits seit Monaten vor.
Mittlerweile nähern sich die Verhandlungsführer im Hinblick auf einen gemeinsamen Rechtstext an. Die zentralen politischen Streitpunkte aber sind nach wie vor ungelöst: Regeln für faire Wettbewerbsbedingungen – das sogenannte Level Playing Field –, die Kontrolle staatlicher Beihilfen, Fischerei und Mechanismen zur Durchsetzung des Abkommens. Hinzukommt das britische Vorhaben, seine Verpflichtungen aus dem Austrittsabkommen in Bezug auf Nordirland mit einem Gesetz zum britischen Binnenmarkt zu brechen – und damit eben jene zentrale Regelung auszuhebeln, auf die Boris Johnson sich 2019 eingelassen hatte, um die Grenze zwischen Irland und Nordirland nach dem Brexit offen halten zu können. In den nächsten Tagen wird der britische Premier Johnson also die Entscheidungen treffen müssen, die die britische Regierung so lange vor sich hergeschoben hat: Ist das Vereinigte Königreich für einen Handelsvertrag mit seinem bei weitem wichtigsten Handelspartner EU zu regulativen Einschränkungen bereit? Oder versucht es, die absolute Handlungsfreiheit zu erlangen und nimmt dafür mit dem No-Deal-Brexit noch größere wirtschaftliche Konsequenzen in Kauf?
In dieser kritischen Lage betritt nun mit dem designierten US-Präsidenten Joe Biden ein bekennender Multilateralist die Weltbühne. Auch in Bezug auf den Brexit könnte er sich nicht deutlicher vom jetzigen Amtsinhaber Donald Trump unterscheiden. Während Trump den Brexit unterstützt und dem Vereinigten Königreich ein Handelsabkommen – unter der Maßgabe »America-First!« – in Aussicht stellte, hat Biden den britischen EU-Ausstieg kritisiert. Die irische Diplomatie verzeichnete als großen Erfolg, dass der irisch-stämmige Joe Biden mitten im US-Wahlkampf mit Blick auf das Gesetz zum britischen Binnenmarkt öffentlich klarstellte, dass es mit ihm kein Freihandelsabkommen zwischen den USA und dem Vereinigten Königreich geben werde, sollte London das Karfreitagsabkommen und den Frieden in Nordirland gefährden. Seine große Unterstützung für den nordirischen Friedensprozess unterstrich Biden auch in seinem ersten Telefonat als designierter Präsident mit Boris Johnson. Obendrein bezog er neben Johnson, Macron und Merkel den irischen Premier Micheál Martin in seine europäische »Antrittstelefonate« ein.
Die Aussicht auf einen Präsidenten Biden im Weißen Haus ändert damit auch die politische Kalkulation in der Abwägung zwischen Deal- und No-Deal-Brexit für Boris Johnson. Denn ihm muss klar sein, dass er nunmehr den Bruch mit den Europäern und den Vereinigten Staaten in Kauf nimmt, wenn die Verhandlungen mit der EU scheitern und die Briten mit der Verabschiedung des Binnenmarktgesetzes explizit gegen seine Verpflichtungen zu Nordirland verstoßen. Statt »Global Britain« würde das Vereinigte Königreich damit gleich beide Säulen seiner Außenpolitik gefährden und sich selbst isolieren.
Gleichzeitig bleibt zu betonen, dass der ungleich größere Schaden nach dem No-Deal-Brexit für das Vereinigte Königreich im vollständigen Bruch mit der EU läge. Dies zeigt sich vor allem im wirtschaftlichen Bereich. Bei einem No-Deal-Brexit verlöre das Vereinigte Königreich den bisher sehr guten Zugang zu seinem wichtigsten Absatzmarkt: Rund 46 Prozent der britischen Warenexporte gingen 2019 in die EU. In die USA gingen im selben Zeitraum 16,5 Prozent der Warenexporte. Käme es zu einem britisch-amerikanischen Freihandelsabkommen, rechnet selbst die britische Regierung nur mit einem Plus von maximal 0,36 Prozent des BIP. Bei einem No-Deal-Brexit hingegen rechnet sie langfristig mit Einbußen von 7,6 Prozent, bei einem Brexit mit Abkommen geht sie von minus 4,9 Prozent aus. Der Warnung Joe Bidens zum Trotz hätte ein Handelsabkommen mit den USA also nicht das Potential, die Verluste des Brexits mit oder ohne Abkommen wettzumachen.
Rationale Argumente für eine Einigung zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich gibt es genug: die hohen wirtschaftlichen Kosten, die zweite Covid-19-Welle mit korrespondierenden Lockdowns, die steigende Zustimmung in Schottland für die Unabhängigkeit und nun die Warnungen des designierten US-Präsidenten.
Und trotz allem bleiben innenpolitische Abwägungen für Boris Johnson entscheidend. Diese gestalten sich schwierig: Mit dem zweiten Lockdown ist Johnson innenpolitisch unter Druck geraten. Mitglieder in der Konservativen Partei äußern öffentlich Zweifel an seinen Führungsfähigkeiten, seinen Chefberater Dominic Cummings hat Johnson gerade vor die Tür gesetzt. Der harte Brexit-Flügel in seiner Partei drängt ihn dazu, an der harten Verhandlungsposition festzuhalten. Für einen Kompromiss mit der EU müsste Johnson sich erstmals diesen Brexiteers entgegenstellen – dabei ist es gerade der harte Brexit-Kurs, der die Tories zusammenhält. Doch während er bei einem No-Deal-Brexit alle negativen Konsequenzen auf die EU schieben könnte, müsste Johnson bei einer Einigung mit der EU die Verantwortung für die Brexit-Folgen übernehmen. Denn ein dünnes Handelsabkommen wäre zwar weniger katastrophal für die britische Wirtschaft als ein No-Deal-Brexit. Der Unterschied zum bisherigen vollen Binnenmarktzugang wäre aber immer noch groß.
Dieser Text ist auch bei euractiv.de erschienen.
Die aktuellen parlamentarischen Machtkämpfe in London sowie schwere Verhandlungen zwischen EU und Vereinigtem Königreich erinnern an das Brexit-Drama von 2019. Die EU sollte rote Linien ziehen und Geduld zeigen, meint Nicolai von Ondarza.
Wie eine Einigung trotz enger Fristen gelingen kann
doi:10.18449/2020A24
Neue politische Rahmenbedingungen verändern die Dynamik der Verhandlungen
doi:10.18449/2020A14
Nach dem Austritt der Briten aus der EU wird ab März über die künftige Beziehung Großbritanniens mit der EU verhandelt. Der Versuch, bis Ende 2020 ein Handelsabkommen zu schließen, ist sehr ambitioniert, aber kann als Rahmenabkommen gelingen, meinen Bettina Rudloff und Evita Schmieg.