Dieser Orientierungsrahmen für die Forschung der SWP hat zwei Teile. Im ersten Teil stellen wir die vier Themenlinien vor, zu den wir 2024/2026 aus unterschiedlichen Perspektiven forschen und Expertise zusammenführen werden: Wir fragen erstens nach den Bedingungen und Potentialen für internationale Kooperation im Kontext systemischer Rivalität. Zweitens befassen wir uns mit der Neugestaltung der europäischen Sicherheitsordnung unter den Vorzeichen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Drittens setzen wir uns mit dem globalen Trend zur Autokratisierung und seinen länder- und regionalspezifischen Ausprägungen auseinander und fragen, was dies für deutsche und europäische Außenpolitik bedeutet. Viertens untersuchen wir, wie sich wirtschaftliche und technologische Transformationen auf internationale und europäische Politik auswirken.
Im zweiten, umfangreicheren Teil wird die Breite der Forschung zu Fragen internationaler Politik und Sicherheit an der SWP dargestellt. Die Herausforderungen und Gestaltungsaufgaben deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, die für die Jahre 2024/2026 schon jetzt absehbar sind oder aus wissenschaftlicher Sicht als relevant erachtet werden, werden unter den Gesichtspunkten der »Internationale Ordnung«, »Sicherheit« und »Wirtschaft und Gesellschaft« aufgefächert.
Der Orientierungsrahmen ist kein im Einzelnen ausformuliertes Forschungsprogramm und bildet kein Problemranking ab. Vielmehr gibt er den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen Anhaltspunkte für die Auswahl und Einordnung von Forschungsfragen und Problemstellungen. Die konkrete Themenauswahl erfolgt ebenso wie die angemessene Methodenwahl in einem Prozess kontinuierlicher Reflexion und Diskussion im Hause, in internationalen Forschungsverbünden und mit politischen Entscheidungsträgern sowie in der Auseinandersetzung mit aktuellen Ereignissen und Entwicklungen der internationalen Politik. In der Forschungspraxis werden die in der SWP abgedeckten Regional- und Länderperspektiven mit politikfeldspezifischen und horizontalen Forschungsthemen aus der Europa- und Sicherheitspolitik sowie der »Global Governance«-Forschung zusammengeführt. Die SWP veröffentlicht ihre Analysen in den begutachteten Reihen SWP-Studie und SWP-Aktuell. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stehen den Abgeordneten und Fraktionen des Deutschen Bundestags wie der gesamten Bundesregierung für mündliche Beratung zur Verfügung. Die SWP versteht sich dabei als Ideengeber, Dialog- und Sparringspartner.
In vier übergreifenden Themenlinien bündeln wir 2024/2026 Expertise aus der SWP und setzen damit Schwerpunkte für unsere Forschung. Die vier Themenlinien betreffen politisch dringliche und grundlegende Fragen von großer inhaltlicher Komplexität; sie haben auch untereinander Berührungspunkte, denen wir nachgehen werden: Erstens die Bedingungen und Potentiale für Kooperation im Kontext systemischer Rivalität, zweitens die Neugestaltung der europäischen Sicherheitsordnung, drittens den globalen Trend zu Autokratisierung und die Herausforderungen für deutsche und europäische Außenpolitik, viertens die geopolitischen Folgen der rasanten wirtschaftlichen und technologischen Transformationen für die internationale und europäische Politik. Bei der Forschung zu diesen Themenlinien wollen wir inhaltliche Zusammenhänge, Wechselwirkungen, Zielkonflikte und Handlungsmöglichkeiten erkunden, wobei wir staatliche und nichtstaatliche Strukturen, Akteure und Prozesse einbeziehen.
Die erste Themenlinie greift eine Grundfrage der künftigen internationalen Ordnung auf. Was sind Bedingungen für Kooperation im Kontext systemischer Rivalität? Internationale Politik wird wieder vermehrt als Wettbewerb zwischen Mächten und Systemen interpretiert und ausgetragen, der die Werte-, Gesellschafts-, Politik- und Wirtschaftspräferenzen von Staaten betrifft. Konflikt und Rivalität, ob um Narrative, natürliche Ressourcen, internationale Institutionen oder räumliche Einflusszonen, stehen dabei im Fokus. Sicherheitspolitische Spannungen und wirtschaftspolitische Debatten über Diversifizierung und »de-risking« verdeutlichen die globalen Dimensionen der Rivalität ebenso wie die Auseinandersetzung über unterschiedliche Herrschaftsmodelle, Global-Governance-Konzepte und Menschenrechtskonzeptionen. Gegenwärtig ist zu beobachten, dass die Bereitschaft zu internationaler Kooperation nachlässt, internationales Recht oft missachtet wird, bestehende Ordnungsstrukturen ausgehöhlt werden und transaktionale Kooperationsvorstellungen an Bedeutung gewinnen. Ob sich dieser Trend fortsetzt und sich Kooperationen verändern, wird näher zu erforschen sein. Gleichzeitig wächst die Notwendigkeit, international effektiv zusammenzuarbeiten, um sich einer wirksamen Governance der globalen Transformationsherausforderungen anzunähern – vom Nexus Klima–Energie über nachhaltige Entwicklung bis zu Digitalisierung und KI.
Unterschiedliche Ordnungsvorstellungen und systemische Rivalitäten müssen jedoch nicht zwangsläufig zu konfrontativem oder konfliktivem Verhalten führen. Uns interessiert, wie internationale Akteure trotz oder gerade wegen dieses globalen Kontextes miteinander kooperieren können. Etwa bei der Rüstungskontrolle, dem Konfliktmanagement, den Zielen nachhaltiger Entwicklung der Agenda 2030 der VN oder internationalen Handelsvereinbarungen. Aus dem von uns gewählten analytischen Fokus auf Kooperation ergeben sich eine Reihe von spezifischen Forschungsfragen: Was sind Gelingensfaktoren für Kooperation im Kontext systemischer Rivalität? Lassen sich neue, innovative Kooperationswege bzw. -muster erkennen und welche (neuen) Akteure insbesondere aus Ländern des globalen Südens treten hier auf? Welche Kooperationsformate können dabei helfen, Konflikt und Rivalität zu begrenzen oder einzufrieren und divergierende Ordnungsvorstellungen auszuhalten? Wie lässt sich die Bereitschaft zu notwendiger Kooperation stimulieren, um globale Güter und die Lebensgrundlagen unter Bedingungen geopolitischer Konfrontation zu sichern?
Die zweite Themenlinie befasst sich mit der Neugestaltung der europäischen Sicherheitsordnung, die durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zerstört worden ist. Ihm liegt ein ungelöster – und aufgrund unvereinbarer Ordnungsvorstellungen auch unlösbarer – Konflikt um die normative und institutionelle Ausgestaltung der europäischen bzw. euro-atlantischen Sicherheitsordnung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zugrunde. Machtstreben und nationale Interessenpolitik prägen den gegenwärtigen Wandel der Weltordnung und üben weiteren Druck auf die europäische und euro-atlantische Sicherheitsordnung aus. Angesichts der ungewissen Dauer und des ungewissen Ausgangs des größten Krieges in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ist zu fragen, wie eine neue Sicherheitsordnung in Europa aussehen und wie sie unter den heutigen Bedingungen von Krieg und Unsicherheit angebahnt und gestaltet werden kann. Dringend sind Fragen der sicherheitspolitischen Zukunft der Ukraine zu behandeln.
Diese Sicherheitsordnung umfasst die militärische, wirtschaftliche und politische Dimension. Die übergeordnete Frage gilt dem Ordnungsbedarf in diesen drei Dimensionen, ihren jeweiligen Zeithorizonten und in welchem Verhältnis die im engeren Sinne sicherheitspolitische Ordnung zur ökonomischen und politischen Ordnung des Kontinents steht. Wie lassen sich effektive und stabile Teilordnungen herstellen, welche Zielkonflikte ergeben sich? Ein zweiter Fragenkomplex zielt auf Akteure und Institutionen, also vornehmlich auf die Ordnungsvorstellungen und Sicherheitsbedürfnisse, die es innerhalb von EU und Nato gibt, und darauf, welche Positionierung und Rolle Deutschland einnehmen kann und wird. Was bedeutet dies für minilaterale und bilaterale Formate? Welchen Einfluss hat die (Neu-)Konfiguration und der Wandel von Institutionen und Formaten (Europäische Politische Gemeinschaft, EU und Nato, OSZE, Europarat) durch Inklusion, Exklusion oder andere interne Reformen auf die europäische Sicherheitsordnung? Welche externen Akteure neben den USA wirken wie auf die europäische Sicherheitsordnung ein? Wie ist insbesondere mit Russland umzugehen? Drittens sind die Instrumente und Ressourcen zu beleuchten, die bereitgestellt werden und ineinandergreifen müssten, um diese Sicherheitsordnung zu schaffen. Welche politischen, wirtschaftlichen, diplomatischen und militärischen Instrumente benötigen die Europäer, um in der langfristigen Auseinandersetzung mit Russland (und China) bestehen zu können? Mit welchen Strategien und Ressourcen, mit welchen Schlüsselpartnern und in welchem institutionellen Rahmen könnte Deutschland die künftige europäische Sicherheitsordnung mitgestalten?
Die dritte Themenlinie befasst sich mit dem globalen Trend zur Autokratisierung und den Herausforderungen für und möglichen Zielkonflikten mit einer dem Anspruch nach wertegeleiteten Außenpolitik Deutschlands und der EU. In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist weltweit zunehmend eine Konsolidierung autoritärer Herrschaft sowie eine Erosion demokratischer Systeme (»democratic backsliding«) zu beobachten, Letzteres auch in EU-Mitgliedstaaten. Dieser in der Forschung als »Autokratisierung« bezeichnete Trend geht mit teils massiven Menschenrechtsverletzungen, »shrinking spaces« für die Zivilgesellschaft, einer Verschlechterung von Regierungsführung und einer Personalisierung von Macht bis hin zu totalitären Tendenzen in einzelnen Staaten einher. Zudem wirkt sich Autokratisierung tendenziell negativ auf die außenpolitische Berechenbarkeit und Zuverlässigkeit der betreffenden Staaten, auf regionale Stabilität und zwischenstaatliche Konflikte sowie auf die Funktionsweise multilateraler Formate aus. Dieser Trend stellt Deutschland mehr und mehr vor Herausforderungen bei der Umsetzung seiner Außenpolitik, etwa bei der Suche nach »Wertepartnern«, im Bereich der Energie- und Rohstoffsicherheit und bei Fragen des globalen Regierens. Zugleich bringt er zunehmende Restriktionen für die Forschung mit sich.
Die Themenlinie nimmt zunächst die Autokratisierung in relevanten Ländern (etwa Ägypten, Äthiopien, China, El Salvador, Indien, Israel, Kirgistan, Nicaragua, Russland, Simbabwe, Sudan, Tunesien, Türkei, aber auch Ungarn) in den Blick. Zu fragen ist zum Beispiel: Welche Spielarten von Autokratisierung lassen sich erkennen, was sind die spezifischen Treiber dieser Entwicklung? Wer sind die bestimmenden Akteure und was sind ihre Strategien und Instrumente? Was ist die Rolle externer Akteure – insbesondere vor dem Hintergrund ökonomischer Abhängigkeiten und geopolitischer Realignments? Welche Bedeutung haben Koalitionen zwischen Autokratien, etwa durch »authoritarian learning«, sowie zwischen Autokratien und Demokratien? Welche Rolle spielen dabei staatliche, gesellschaftliche und wirtschaftliche Akteure? Wie genau wirkt sich Autokratisierung auf die Innen-, Außen- und Wirtschaftspolitik der jeweiligen Staaten aus? Welche Folgen haben die Autokratisierungstrends für die internationale Ordnung? Welche Wechselwirkungen gibt es zwischen Autokratisierung und Erosion staatlicher Kapazitäten einerseits sowie Autokratisierung und bewaffneten Konflikten andererseits?
Fragen, die sich im Umgang mit autoritär regierten Staaten unter anderem stellen sind: Was sind deutsche und europäische Zielsetzungen in Bezug auf bestimmte Politikfelder? Wie unterscheiden sich Rhetorik und Praxis? Welche Zielkonflikte treten dabei auf? Welche Prioritäten werden verfolgt, welchen Gestaltungswillen gibt es, etwa in Bezug auf Global Governance, regionale Stabilisierung, politische Transformation, Menschenrechte oder Elemente einer feministischen Außenpolitik? Und über welche Instrumente und Hebel verfügen Deutschland und die EU gegenüber solchen Staaten?
Die vierte Themenlinie nimmt die einschneidenden wirtschaftlichen Veränderungen und technologischen Disruptionen der vergangenen Jahre als Ausgangspunkt, um deren Auswirkungen auf die internationale und europäische Politik zu untersuchen. Während die wirtschaftlichen Nachwirkungen der Corona-Pandemie − von Lieferkettenengpässen bis Inflation − noch nicht ausgestanden sind, bleibt das weltwirtschaftliche Wachstum schwach. Die Globalisierung befindet sich in Teilbereichen auf dem Rückzug. Um Verwundbarkeiten und Abhängigkeiten zu reduzieren, schränken Staaten weltweit Handel, Investitionen und Technologietransfer ein. Damit verbunden sind ökonomische Kosten (Effizienzverluste, weniger Arbeitsteilung) und politische Eskalationsrisiken. Rapide technologische Entwicklungen (Anwendung Künstlicher Intelligenz, »emerging technologies« wie hochleistungsfähige Halbleiter) können die Machtpositionen einzelner Akteure im internationalen System verändern. Solche Veränderungen werden mit großer Wahrscheinlichkeit sowohl globale als auch regionale Transformationsprozesse auslösen bzw. verstärken. Sie sind geeignet, bereits bestehende Konflikte zwischen den großen Machtpolen USA und China zu verschärfen. Andererseits haben technologische Veränderungen das Potential, zu politischer Entspannung zwischen den Großmächten beizutragen. Sie könnten beispielsweise zum Treiber internationaler Kooperation werden, die es ermöglicht, globale Probleme wie den Klimawandel gemeinsam einzudämmen.
Es besteht grundsätzlich für einzelne Staaten die Möglichkeit, geopolitischen Konkurrenten und sicherheitspolitischen Rivalen den Zugang zu einzelnen neuen Technologien zu verweigern, was die wachsende Bedeutung wirtschaftlicher Kontrollinstrumente in der Außenpolitik erklärt. Durch den Wettbewerb um neue Technologien gewinnt zudem die Industriepolitik an Bedeutung. Nicht nur in China und den USA, auch in anderen wirtschaftskräftigen Regionen wie der EU und Japan setzen Regierungen darauf, regionale wirtschaftliche und technologische Kapazitäten zu stärken oder neu aufzubauen, um eigene Abhängigkeiten und geopolitische Risiken zu reduzieren.
Einzelne Aspekte dieser Transformationen sind für die drei Analyseperspektiven – Internationale Ordnung, Sicherheit sowie Wirtschaft und Gesellschaft – unmittelbar relevant bzw. spielen hinein. Zu diesen zählen etwa die Entwicklung spezifischer Verteidigungsfähigkeiten, der Schutz kritischer Infrastruktur, die Bildung neuer strategischer Partnerschaften für sichere Lieferketten und Ressourcenzugänge, die Bewahrung multilateraler Ordnungsstrukturen im Handels- und Finanzbereich, die Frage der Energie- und Nahrungsmittelsicherheit wie auch Fragen der Kontrolle bestimmter Spitzentechnologien durch den Einsatz wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen. Dazu gehören darüber hinaus auch Fragen nach den Möglichkeiten und Bedingungen der Kooperation in der Klimapolitik, der globalen Gesundheitspolitik, der Entwicklungs- bis hin zur Menschenrechtspolitik.
In diesem Teil werden internationale Entwicklungen und Herausforderungen dargestellt, die wir für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik in den Jahren 2024/2026 als wesentlich erachten. Angesichts des hohen Grads der internationalen Verflechtung Deutschlands, seiner globalen und vielfältigen Interessen, seines weiten Aktionsradius und des etwa in der Nationalen Sicherheitsstrategie von 2023 formulierten expliziten Gestaltungsanspruchs führt selbst diese Auswahl zu einem umfangreichen Themenkatalog. Auf diese Themen blicken wir aus drei unterschiedlichen analytischen Perspektiven. Unter dem Gesichtspunkt der »Internationale Ordnung« befassen wir uns mit internationalen Normen, Regeln und Institutionen, die für das internationale System und die internationale Politik konstitutiv sind. Wir fragen nach Machtverschiebungen, staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren sowie Krisendynamiken. Unter dem Gesichtspunkt von »Sicherheit« befassen wir uns mit Konflikten, Kriegen und Kapazitäten internationaler Sicherheitspolitik und insbesondere mit Fragen einer künftigen Sicherheitsordnung in und für Europa. Globale und transnationale Dynamiken in »Wirtschaft und Gesellschaft« werden im Hinblick auf mögliche Entwicklungspfade der Weltwirtschaft und einzelne Politikfelder von Handel über Klima- und Energiepolitik bis zu Migration skizziert.
Aus dieser breit angelegten Forschung entstehen aktualitätsbezogene und grundlegende Analysen sowie Beratungsangebote zu spezifischen Fragestellungen, aber zugleich lassen sich daraus Beiträge zu den vier übergreifenden Themenlinien schöpfen.
Abbildung: Perspektiven und übergreifende Themenlinien der Forschung
Die internationale Ordnung befindet sich im Übergang: Sowohl uni- und bipolare Machtverteilungen als auch eine Dynamik in Richtung einer multipolaren Konstellation sind zu konstatieren. Diese Transitionen spiegeln Machtverschiebungen im Staatensystem zwischen Ost und West wie auch zwischen Nord und Süd wider und schlagen sich in miteinander rivalisierenden Ordnungsvorstellungen von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft nieder. Die Grundstruktur der internationalen Ordnung dürfte sich jedoch mittelfristig kaum verändern: Staaten und Regierungen bleiben die dominierenden Akteure, die politische Entscheidungen untereinander aushandeln, umsetzen oder verhindern. Internationale Organisationen oder nichtstaatliche Akteure, die mit vergleichbarer Durchsetzungskraft effektiv und auch legitim international »regieren« könnten, sind nicht in Sicht, auch wenn global agierende Unternehmen sowie die organisierte Wirtschaft und Gesellschaft punktuell erheblichen Einfluss auf Regierungshandeln haben. Forschungsfragen werden aus drei krisenhaften Dynamiken internationaler Politik abgeleitet, unterschiedliche Szenarien sollten mit Hilfe von Methoden strategischer Vorausschau systematisch durchdacht werden:
Mit dem russischen Angriffskrieg hat die Krise internationaler Ordnung Europa und seine Sicherheitsordnung mit großer Wucht getroffen. Auf globaler Ebene manifestiert sich die Ordnungskrise in der Systemrivalität zwischen China und den USA sowie in zahlreichen Regionalkonflikten. Beides schwächt den Multilateralismus, wovon insbesondere internationale Organisationen wie die VN betroffen sind. Gruppenformate gleichgesinnter Staaten wie die G7 oder ambitionierter Groß- und Regionalmächte wie die G20 oder BRICS wollen wirksame Beiträge zur globalen Governance leisten und an Einfluss und internationaler Legitimität gewinnen.
Zweitens verschärft sich die Krise globaler Verflechtung und Konnektivität. Sie kommt unter anderem in der politischen Instrumentalisierung von (Inter-)Dependenzbeziehungen als Waffe in ganz unterschiedlichen Politikfeldern zum Ausdruck, zum Beispiel bei Flucht und Migration an den Außengrenzen der EU oder im Digitalbereich (»weaponization of everything«). Diese Krise zeigt mangelnde Resilienz in verschiedenen Politikbereichen auf, der unter anderem mit Risikostreuung und dem Aufbau von Resilienz-Frühwarnsystemen begegnet wird. Die Bemühungen um politische wie auch ökonomische Diversifizierung (»de-risking«) macht zum Beispiel Länder des globalen Südens zu umworbenen Partnern des Nordens.
Drittens dürften die krisenhaften Auswirkungen globaler Transformationen – Klimawandel, nachhaltige Entwicklung und gesellschaftliche Umbrüche – für die internationale Politik akut werden. Sowohl für das Klima als auch die nachhaltige Entwicklung deuten die Prüfindikatoren darauf hin, dass die Staatengemeinschaft bei unverändertem Tempo die selbstgesteckten Ziele verfehlen wird. Systemisch betrachtet hängt dies mit der zögerlichen bzw. verschleppten Umsetzung von Transformationspolitiken zusammen, die unter anderem mit Gefährdungen der politischen Stabilität und Nachteilen im globalen Wettbewerb begründet wird. Das wirft die Frage nach der gerechten Verteilung von Transformationslasten sowohl in vertikal-globaler als auch horizontal-gesellschaftlicher Perspektive auf.
In den Jahren 2024/2026 werden sich die VN-Mitgliedstaaten mit konkreten Umsetzungsschritten beschäftigen, die auf einen effektiven, inklusiven und vernetzten Multilateralismus zielen. Bezugspunkte sind die 12 Verpflichtungen von 2020 und die Vorschläge des VN-Generalsekretärs von 2021 zu deren Umsetzung (»Our Common Agenda«). Im September 2024 sollen die Staats- und Regierungschefs beim VN-Zukunftsgipfel einen »Pakt für die Zukunft« beschließen. Darüber wird im Frühjahr/Sommer 2024 verhandelt – voraussichtlich erneut unter Ko-Leitung der deutschen VN-Botschafterin. Bislang gehen die Vorstellungen weit auseinander. Besonderes Augenmerk verdient, wie sich diese Konflikte insbesondere auch innerhalb der Gruppe der 77 und China weiterentwickeln.
Die avisierte Agenda des 2024er Zukunftsgipfels ist umfangreich – von Reformen der Arbeitsmethoden der VN (beispielsweise die Einrichtung einer Notfallplattform, bessere Foresight-Kapazitäten oder sinnvollere Jugendbeteiligung) bis hin zur Reform der Hauptorgane, samt gegebenenfalls notwendiger Änderungen der VN-Charta. Es ist offen, wie weitreichend die »Neue Agenda für den Frieden« sein kann. Bislang liegt der Fokus des VN-Generalsekretärs auf Prävention und kollektiver Sicherheit durch bessere Kapazitäten, auch zur Eindämmung neuartiger Bedrohungen. Gestärkt werden soll auch die Kommission für Friedenskonsolidierung und die Zusammenarbeit mit Regionalorganisationen. Einige Länder fordern zudem Reformen des VN-Sicherheitsrates. Für viele Länder des globalen Südens ist vor allem eine Neuordnung und -ausrichtung der internationalen Finanzarchitektur entscheidend. Zu Digitalfragen soll ein »Global Digital Compact« verhandelt werden. Eine Deklaration zu künftigen Generationen zielt darauf, dass deren Anliegen konsequenter Eingang in die Arbeit der VN finden. Auch soll ausgelotet werden, wie die Umweltsäule der VN gestärkt werden kann.
Welche Prozesse 2025/2026 tatsächlich Fahrt aufnehmen werden, wird erhebliche Auswirkungen auf die VN-Arbeit Deutschlands haben. Denn Deutschland bewirbt sich 2025 um die Präsidentschaft der VN-Generalversammlung und müsste somit die Umsetzung der im September 2024 getroffenen Beschlüsse der Generalversammlung mitgestalten. Zudem stehen 2026 Wahlen zum VN-Sicherheitsrat 2027/2028 an, bei denen sich Deutschland bewerben will. Die Interpretation einer freien, gleichwohl regelbasierten internationalen Ordnung und der sie stützenden universellen Menschenrechte bleibt unter den P5 hochumstritten. Ob sich angesichts der sich verhärtenden Konfrontation zwischen den Großmächten eine neue bi- oder multipolare Ordnung herausbildet und welche Effekte dies auf die Arbeit der VN haben wird, sind wichtige Forschungsfragen. Dabei geht es nicht nur um die ohnehin bereits eingeschränkte Funktionsfähigkeit des Sicherheitsrates, sondern auch um die von anderen multilateralen Institutionen und Prozessen.
Multiple Krisen einerseits und sich hinschleppende multilaterale Verhandlungsprozesse andererseits fördern Entwicklungen, im Zuge derer das Vertrauen in multilaterale Problemlösungen schwindet und damit die VN an Legitimität verliert. Zu analysieren ist, was »Uniting for Humanity« – das Motto der nächsten deutschen Bewerbung für den Sicherheitsrat – unter diesen Umständen bedeutet und welche Gemeinsamkeiten und Initiativen im VN-Kontext entwickelt werden können. Die Agenda 2030 und die Ziele für nachhaltige Entwicklung bilden seit 2015 die Grundlage der Arbeit der VN. Welche Angebote können Deutschland und die EU (Global Gateway) zu deren Umsetzung machen, um Allianzen quer über die Lager zu bilden – die dann auch andere VN-Prozesse sinnvoll voranbringen? Welches ansprechende Multilatera-lismus-Narrativ kann im Wettbewerb überzeugen?
Geostrategische und geopolitische Aspekte werden die Agenda der G7 in den kommenden Jahren prägen. So koordiniert die G7 maßgeblich die Unterstützung für die Ukraine. Aus globaler Perspektive verschieben sich die Gewichte allerdings zu ihren Ungunsten. Daher wird über eine Erweiterung diskutiert, etwa um gleichgesinnte Staaten wie Australien oder Südkorea. Konstant dürfte die G7 bei Ländern des globalen Südens um Unterstützung für ihre Positionen werben, die der deutsche Vorsitz 2022 als Dreiklang aus ökologischer Transformation, sozialer Kohäsion und fiskalischer Stabilität konzipierte. Denn ohne effektive Zusammenarbeit von handlungsfähigen und -willigen Regierungen aus Nord und Süd werden die Ziele der Staatengemeinschaft für nachhaltige Entwicklung kaum zu erreichen sein. Mit Italien, Kanada und Frankreich übernehmen drei Regierungen die nächsten G7-Präsidentschaften, deren Kurs von Kontinuität geprägt sein dürfte. Je nach Ausgang der Wahlen in den USA 2024 könnte eine erneute Lähmung der G7 unter den Vorzeichen von »America first«-Positionen drohen.
Die G20 handlungsfähig zu halten wird eine wichtige politische Aufgabe der nächsten Jahre sein – und stellt gleichzeitig eine relevante Forschungsfrage dar. In der G20 ist zum Beispiel die Systemrivalität zwischen autoritären und demokratischen Staaten besonders ausgeprägt, da »beide Lager« prominent vertreten sind. Damit sind Konflikte vorgezeichnet, die die Funktion der G20, kollektive Herausforderungen über globale Ordnungsfragen und Sachthemen handlungsorientiert anzugehen, unterminieren könnten. In diesem Zusammenhang spielt die russische Aggression eine entscheidende Rolle, auch wenn die Unterstützung für Russland in den BRICS bröckelt. Doch wird die BRICS-Agenda in den G20 gegebenenfalls durch Argentinien und Saudi-Arabien gestärkt werden. Somit könnte sich eine Blockbildung innerhalb der G20 abzeichnen, was die gemeinsame Positionsfindung und Maßnahmenkonzipierung erheblich erschweren würde. 2024 und 2025 übernehmen Brasilien und Südafrika den G20-Vorsitz. Damit rücken die Anliegen von ambitionierten Regionalmächten des globalen Südens in den Vordergrund ihrer politischen Aktivitäten und Initiativen. Themen wie die Ausgestaltung gerechter Handels- und Wirtschaftsbeziehungen, aber auch die Finanzierung von nachhaltiger Entwicklung und ökologischer Transformation dürften an Bedeutung gewinnen.
Die Europäische Union (EU) ist zentraler Handlungsrahmen für die Umsetzung der Ziele und Interessen Deutschlands. Zudem bleiben einzelne Mitgliedstaaten, vor allem Frankreich und Polen, wichtige Partner für Berlin. Die EU und die deutsche Europapolitik werden 2024 bis 2026 Weichen in Bezug auf fünf Herausforderungen stellen müssen:
Die erste Herausforderung ist die Stärkung und strategische Souveränität der EU in einem geostrategisch brisanten und geoökonomisch kompetitiven Umfeld. Die Auswirkungen des russischen Angriffskriegs und die Neugestaltung der europäischen Sicherheitsordnung verlangen eine Neuausrichtung nicht zuletzt in der GSVP und die enge Zusammenarbeit mit der Nato, abgestützt durch bessere militärische Fähigkeiten. Die EU steht unter Druck, ihre Glaubwürdigkeit und Durchhaltefähigkeit bei Wiederaufbauhilfen, Sanktionen und Lieferung von militärischen Gütern für die Ukraine unter Beweis zu stellen. Alle verfügbaren Instrumente und Ressourcen zur Projektion von Stabilität in der östlichen wie südlichen Nachbarschaft werden einer Prüfung unterzogen, so die Erweiterungspolitik, die Instrumente des zivilen und militärischen Krisenmanagements (Strategischer Kompass), regionale und bilaterale Partnerschaften, strategische Investitionsprogramme wie Global Gateway und Finanzhilfen sowie die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen (Nato, Europarat, EPG, AU, G7, VN).
Zudem wird es für die EU entscheidend sein, Partnerschaften mit Staaten des globalen Südens nicht nur deklaratorisch zu bekräftigen, sondern konkrete Anreize für deren Stärkung zu entwickeln. Besonders herausfordernd sind die Neuausrichtung und Zusammenführung der sicherheitspolitischen wie wirtschaftlichen Beziehungen der europäischen Mitgliedstaaten zu China und den USA. Weitere Bausteine für eine größere strategische Souveränität der EU liegen in den Bereichen Technologie, Industrie, Handel, Energie und Nachhaltigkeit.
Die zweite Herausforderung ist der Komplex Erweiterung und EU-Reform. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass in den nächsten drei Jahren neue Mitglieder der EU beitreten werden. Das erklärte politische Ziel der EU, die Ukraine, Moldau und die Staaten des Westbalkans im eigenen geopolitischen Interesse aufzunehmen, entwickelt aber seine eigene Dynamik und wirft Fragen auf, die bereits im nächsten institutionellen Zyklus der EU beantwortet werden sollten. Wie im Lichte geopolitischer Interessen und Konkurrenten wie Russland und China der Erweiterungsprozess reformiert werden kann, dazu sind aus Politik und Wissenschaft weitere Vorschläge mit unterschiedlicher Eingriffstiefe zu erwarten. Sie zielen zumeist auf eine schnellere und gegebenenfalls abgestufte Integration in die EU oder neue Integrations- und Kooperations-Arrangements unterhalb und außerhalb der Mitgliedschaft. Das neue Format der EPG gehört in diesen Kontext. Die Optionen sind im Hinblick auf deutsche euroapolitische Interessen und die Funktionsfähigkeit bzw. Absorptionskraft der EU zu untersuchen, wobei sowohl politische, institutionelle, fiskalische und politikfeldspezifische Auswirkungen zu behandeln sind. Auch vor diesem Hintergrund wird die Debatte geführt, ob und wie die EU-Institutionen, aber auch der EU-Haushalt und zentrale EU-Politiken reformiert werden müssen, um die Union in der Legislaturperiode 2024–2029 selbst auf Beitritte vorzubereiten. Konkrete sicherheitspolitische Herausforderungen jenseits des Ukraine-Krieges liegen im südosteuropäischen Erweiterungsraum, vor allem in Bosnien-Herzegowina und im Nordkosovo wegen der Konflikte zwischen Belgrad und Pristina. Versuche der Türkei, ihren Beitrittsprozess wiederzubeleben, erscheinen wenig erfolgsversprechend, könnten aber in Verhandlungen etwa zur Reform der Zollunion mit der EU münden.
Die dritte Herausforderung wird die Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU sein. Unter der ungarischen Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2024 kann es zu einer weiteren Zuspitzung über den Fortgang von Vertragsverletzungsgefahren und Sanktionen gegen das Land kommen. EU-Finanzverhandlungen bieten Ungarn eine Gelegenheit, Vetomacht auszuüben und eine Freigabe von EU-Hilfen zu fordern, die aufgrund struktureller Defizite der Rechtsstaatlichkeit derzeit einbehalten werden. Ob es einer neuen polnischen Regierung gelingen kann, die Justizreformen der vergangenen Jahre nachhaltig und rechtsstaatskonform zurückzunehmen, wird genau zu prüfen sein. Generell gilt es für die EU – gerade mit Blick auf die potentiellen Erweiterungen – ihre Rechtsstaatsmechanismen zu stärken, zumal 2026 der zusätzliche Hebel der Rechtsstaatskonditionalität von Next Generation EU wegfällt. Der mögliche Abschluss der seit Jahren hochumstrittenen Reform des sogenannten Gemeinsamen Europäischen Asylsystems birgt Zielkonflikte zwischen der Reduzierung irregulärer Migration und der Glaubwürdigkeit der EU in Fragen der Grundwerte und Rechtsstaatlichkeit. Nicht zuletzt werden 2024 im Kontext der Europawahlen Fragen demokratischer Legitimation von EU-Politiken aufgeworfen werden, etwa in Bezug auf die Rolle des EP bei den großen Krisenentscheidungen der letzten Jahre, die Mobilisierung für die Europawahlen und die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an europäischer Politik jenseits von Wahlen.
Die vierte Herausforderung ist die umfassende Stärkung der Handlungsfähigkeit der EU – institutionell (etwa über die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen im Rat), in ihren Finanzkapazitäten und zentralen Politikbereichen, auch jenseits der Erweiterungsfrage. Die Verhandlungen über einen neuen Mehrjährigen Finanzrahmen werden 2025 aufgenommen und müssen bis spätestens Ende 2027 abgeschlossen werden. Im Rahmen dieser Finanzverhandlungen und mit Blick auf die angestrebte Erweiterung müsste die EU neue und alte Verteilungskonflikte mit Hilfe von Reformen zentraler Ausgabenpolitiken und/oder der Einführung neuer Finanzierungsquellen beantworten. Für die strategische Agenda 2024–2029 der EU werden politische Weichen gestellt werden müssen. So in Bezug auf die Implementierung der verschärften Klimaziele, die Transformation des Energiesystems, die Weiterverhandlung oder Umsetzung eines Systems reformierter Fiskalregeln sowie die Verabschiedung des Asyl- und Migrationspakets. An die Europawahlen 2024 schließen sich die Neubesetzung der EU-Spitzenpositionen in Kommission, EP und Europäischem Rat an sowie die Festlegung der politischen Agenda für die EU im institutionellen Zyklus 2024–2029. Im Lichte der Europawahlen wird zu analysieren sein, wie sich Kräfteverhältnisse zwischen den Parteienfamilien und die Parteienlandschaften in den Mitgliedstaaten verändern und wie das Parteiengefüge sowie die Mehrheitsverhältnisse im EP. Besondere Dynamik ist im Lager rechts der EVP zu erwarten, mit einer potentiellen Konsolidierung nationalkonservativer Kräfte. Was bedeuten veränderte Macht-verhältnisse für die Prioritätensetzung, die Gesetzgebung und das Gleichgewicht im Dreieck Kommission, (Europäischer) Rat und Parlament?
Die fünfte Herausforderung wird die Sicherung des Zusammenhalts in der EU sein. Konfliktlinien zwischen den Mitgliedstaaten laufen entlang folgender Themen, die auf der Agenda stehen: das Verhältnis von Risikoteilung, Flexibilität und Investitionen in der europäischen Wirtschaftspolitik, die Reform der Asyl- und Migrationspolitik, der Zusammenhang von Erweiterung und internen Reformen, die Trade-offs zwischen Klimapolitik und Energietransformation auf der einen und wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit, Freiheitsrechten und sozialer Abfederung auf der anderen Seite. Hinzu kommen sicherheitspolitische und internationale Fragen (Umgang mit Russland, Sicherheit in Europas Osten, Verhältnis zu China, aber auch Beziehungen zu den USA nach den Präsidentschaftswahlen 2024). Inwieweit wirken sich die Polarisierungen innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten auf das konsensorientierte politische System der EU sowie einzelne Politikbereiche aus? Wie kann Deutschland zum Zusammenhalt und zur Bildung von Reformkoalitionen beitragen? Von besonderem Interesse ist, ob und unter welchen Bedingungen sich erweiterungsfreundliche Staaten trotz Vorbehalten für EU-Reformen öffnen. Insgesamt wird zu betrachten sein, wie sich die Kräfteverhältnisse zwischen den Mitgliedstaaten verändern werden.
Aus innenpolitischen Gründen werden zahlreiche Partner Deutschlands, darunter Frankreich, in einzelnen Politikfeldern oder bei Reformprozessen (Finanzen, Entscheidungssystem) auf europäischer Ebene teils unnachgiebig auftreten, mit Folgen für wichtige bilaterale Beziehungen. In Italien könnten wirtschaftliche und Governance-bezogene Strukturprobleme sowie Migration die nationalkonservative Regierungskoalition in Bedrängnis bringen. Der Ausgang der Parlamentswahlen in Polen 2023 hat die Möglichkeit eröffnet, die PiS-Regierung durch eine europafreundliche Koalition abzulösen. Polen wird aber auch mit Blick auf die anhaltend ausgeprägte innenpolitische Polarisierung in jedem Fall mit Nachdruck in der EU für nationale Interessen eintreten. Deutschland wird bemüht sein, die Kontakte mit mittleren und kleineren Staaten aus allen Teilen der EU zu vitalisieren, um Koalitionen für Reformen oder für »Resultate« in einzelnen Politikbereichen zu bilden, aber auch um Vertrauen in deutsche Politik und Co-Leadership zu generieren.
Viele Mitgliedstaaten versuchen, ihre Position in der EU durch die Beteiligung an regionalen und themenbasierten Gruppen zu stärken. Welche Formate sind einflussreich, wer sind ihre Motoren und welche Dynamiken zeichnen sich im Innern ab? Die Visegrád-Gruppe wird zum Beispiel durch das Verhältnis ihrer Mitglieder zu Russland, zu Deutschland oder zu EU-Reformen auf längere Zeit intern heterogen bleiben. Für Berlin ist überdies von Belang, wie diese Verbünde Deutschland und das deutsch-französische Verhältnis sehen und zu deutscher Führung stehen. Sollte Deutschland selbst neue Formate initiieren? Wie können jene, an denen Deutschland schon beteiligt ist, produktiv gestaltet werden (z.B. das Weimarer Dreieck)? Nach den Wahlen im Vereinigten Königreich 2024/2025 könnte es zu neuen Verhandlungen über die Beziehungen zwischen VK und EU kommen. Selbst bei einem Regierungswechsel zu Labour stünde eine Reintegration in Binnenmarkt und Zollunion nicht auf der Agenda, doch wären Optionen einer sektoralen oder differenzierten Wiederannäherung zu analysieren und zu bewerten.
Für die deutsche und europäische Politik bleibt die innenpolitische Entwicklung in den USA zentral für das transatlantische Verhältnis und die eigene Sicherheit. Die Biden-Administration hat mit ambitionierten Reformen Handlungsfähigkeit bewiesen. Dennoch bestehen strukturelle Probleme in der US-Demokratie fort. Ideologische Polarisierung gepaart mit knappen, häufig wechselnden Mehrheiten können zu extremen politischen Ausschlägen führen und die Außenpolitik unberechenbar machen. Der in Teilen dysfunktionale politische Entscheidungsprozess birgt auch unmittelbare Risiken für die internationale Ordnung. Die Präsidentschaftswahlen Ende 2024 werden richtungsweisenden Charakter für die US-amerikanische Innenpolitik, aber auch die globale Ordnung haben. Dass Donald Trump trotz zahlreicher Normen- und Rechtsverstöße Aussicht auf eine Rückkehr ins Weiße Haus hat, sorgt zumindest in Europa für große Unsicherheit und erfordert auch die Auseinandersetzung mit dem Szenario eines erneuten Ausfalls der USA als verlässlichem Verbündeten oder sogar als Widersacher in der internationalen Ordnungspolitik.
Deutschland und die Europäer müssen sich mit dem Dauerthema der Lastenteilung im transatlantischen Bündnis auseinandersetzen. Der Ausbau eigener Fähigkeiten und die Übernahme von mehr Verantwortung durch Europa begründen sich – unabhängig vom Wahlausgang in den USA – angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine weniger aus den Forderungen seitens der USA als aus europäischem Eigeninteresse. Dennoch bestehen auch hier Zielkonflikte, beispielsweise bei der Gewichtung des Einsatzes knapper Ressourcen, die es wissenschaftlich zu begleiten gilt. Bei einem Regierungswechsel in den USA und/oder Zunahme der Spannungen im Indo-Pazifik mit China dürften die Rufe nach mehr Lastenteilung und einer größeren europäischen Eigenverantwortung lauter werden.
Europa und Deutschland wollen ihre wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zur Volksrepublik China entlang der Maxime Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale neu gestalten. Das wirft eine Fülle prinzipieller und praktischer Fragen auf, die zu explorieren sind. Die chinesische Führung unter Xi Jinping setzt indessen auch nach dem 20. Parteikongress der KPCh ihren rigorosen Kurs fort. Dies bedeutet: Mehr Kontrolle und Repression nach innen, robuster und imperialer nach außen. Die Aufrüstung und Modernisierung der chinesischen Streitkräfte gepaart mit einer zunehmend fragmentierten Sicherheitsordnung in Asien gefährden aus europäischer Sicht die Stabilität im Indo-Pazifik, besonders in der Taiwanstraße. Fürdie EU ist vor allem die Reduzierung von einseitigen strategischen Abhängigkeiten (»de-risking«) im Verhältnis zu China zentral. Hierfür ist eine umfassende Analyse der chinesischen Diskurse und Praktiken notwendig, denn China unter Xi ist eine Globalmacht, die danach strebt, Weltpolitik in nahezu allen Politikfeldern in ihrem Sinne zu formen. Dies hat Auswirkungen auf die deutsch/europäisch-chinesischen Beziehungen, aber auch auf die Beziehungen der EU und Deutschland zu Drittstaaten, in denen China aktiv ist (z.B. im Rahmen der BRI, oder GDI). Es gilt für die Forschung, Möglichkeiten für den künftigen Umgang Deutschlands mit einem globalen China aufzuzeigen. Dazu gehört auch die herausfordernde Aufgabe, in Zukunft europäische China-Politik mit Drittstaaten, insbesondere den USA, abzustimmen.
Aus europäischer Sicht bleibt der Umgang mit der Rivalität zwischen den USA und China eine zentrale Herausforderung. Beide Seiten sehen die Konkurrenz um eine Vormachtstellung und um Einfluss in der Welt als das strukturierende Merkmal der internationalen Ordnung insgesamt und richten ihre Innen-, Wirtschafts- und Außenpolitik darauf aus, ihre relative Macht auszubauen. Diese Nullsummen-Dynamik spricht dafür, dass die Situation angespannt bleibt und Eskalationsrisiken birgt. Für die europäische Politik besteht die doppelte Herausforderung darin, einerseits mäßigend auf die Rivalen einzuwirken und das internationale Umfeld positiv zu beeinflussen und andererseits die eigene Verwundbarkeit durch wirtschaftliche Abhängigkeit zu reduzieren. Ein wesentlicher Gegenstand der Forschung ist daher, Wege aufzuzeigen, wie die eigene Handlungsfähigkeit gestärkt werden kann, um der Konfliktspirale etwas entgegenzusetzen. Auch die europäische Positionierung in der Handels- und Technologiepolitik als zentralen Schauplatz der Großmachtkonkurrenz bleibt eine dauerhaft schwierige Aufgabe.
Russland hat sich mit der Vollinvasion in der Ukraine am 24. Februar 2022 eindeutig aus der auf Kooperation basierenden europäischen Sicherheitsordnung verabschiedet. Alle Aspekte der russischen Innen- und Außenpolitik werden diesem Krieg untergeordnet. Der Krieg zielt nicht nur auf die Vernichtung einer souveränen Ukraine, sondern auch auf die Einrichtung einer hegemonialen Einflusszone im früheren sowjetischen Raum. Am weitesten ist dies in Bezug auf Belarus gelungen. Zugleich kämpft Moskau im Lichte des Krieges mit dem Verlust von politischem und wirtschaftlichem Einfluss und der Fähigkeit zu militärischer Machtprojektion in der Region. Die Eskalationsgefahr ist hier allgegenwärtig.
In Europa ist Russland inzwischen weitgehend isoliert. Krieg und westliche Sanktionen haben zu einer rasanten wirtschaftlichen Entflechtung geführt. Die russische Außenpolitik konzentriert sich nunmehr ganz auf die Beziehungen mit Staaten, die in der Frage des Krieges eine pro-russische oder neutrale Position einnehmen. Der »Westen« unter amerikanischer Führung wird endgültig als Feind betrachtet. Dafür intensiviert Moskau die Beziehungen mit China und den BRICS-Staaten und bemüht sich, Staaten in Afrika, Asien und Lateinamerika auf seine Seite zu ziehen. Es nutzt anti-koloniale Narrative und knüpft so an die Unzufriedenheit mit westlicher Politik an, die in vielen Ländern des Globalen Südens existiert. In diesem Sinne agiert Russland auch in multilateralen Zusammenhängen wie der VN und der G20. Es stellt sich für Deutschland und die westliche Politik die Frage, wie sie dem entgegenwirken und post-koloniale Machtasymmetrien in der globalen Wirtschaft und Politik adressieren können.
Die Aggression nach außen spiegelt sich in der autoritären Verhärtung im Innern Russlands wider, wobei totalitäre Tendenzen zunehmen. Das politische Regime scheint bis auf weiteres stabil zu sein, auch wenn interne Konflikte als Folge des Krieges zunehmen. Solange die Führung die Kontrolle über die Machtstrukturen behält, scheint sowohl ein Zerfall Russlands als auch ein demokratischer Regimewechsel unwahrscheinlich, wobei auch diese Szenarien und mögliche Antworten der Europäer und der USA in den Blick zu nehmen sind. Zudem müssten auch nach einem etwaigen Sturz des Regimes und der Beendigung des Angriffskriegs seitens einer neuen politischen Führung in Moskau zunächst die russischen Kriegsverbrechen und Zerstörungen in der Ukraine aufgearbeitet werden, bevor wieder etwas entstehen könnte, was entfernt einem Vertrauensverhältnis ähneln würde.
Der russische Angriff auf die Ukraine hat Peking in ein Dilemma gestürzt: Einerseits will China sich nicht offen hinter Moskaus Krieg stellen, um seinen außenpolitischen Spielraum gegenüber dem Westen, insbesondere der EU, zu wahren. Andererseits ist Putins Russland für China ein unverzichtbarer Partner im eigenen Ringen mit den USA um die globale Vormachtstellung. Eine klare Niederlage Russlands in der Ukraine wäre deshalb aus chinesischer Sicht problematisch, ein Machtverlust Putins katastrophal. Pekings Möglichkeiten, Putins Entscheidungen von außen zu beeinflussen, sind trotz Russlands wirtschaftlicher Abhängigkeit von China sehr begrenzt. Sollte Putin in der Ukraine eine demütigende Niederlage drohen, dürfte China zu einer deutlich offeneren Unterstützung Russlands bereit sein, auch wenn dies mit einer Verschlechterung der Beziehungen zur EU einherginge.
Im Systemkonflikt zwischen den etablierten Großmächten gewinnen mittlere Mächte an Bedeutung. Sie verfügen teils über erheblichen regionalen Einfluss, sind oftmals als Wirtschafts- und Energiepartner umworben und werden für die Bewältigung globaler Herausforderungen gebraucht. Teils sind sie fest in Bündnisstrukturen eingebunden, teils versuchen sie aber auch, sich als »Middle Ground Powers« zwischen den Lagern zu positionieren. Wie erfolgreich sie in den kommenden Jahren aus ihrer Position Kapital schlagen und Einfluss auf die Gestaltung der internationalen Ordnung nehmen können, wird nicht zuletzt auch von den inneren Entwicklungen dieser Länder abhängen.
Die Türkei ist in den vergangenen Jahren in einer Reihe regionaler Konflikte (insbesondere in Syrien, Libyen und zwischen Armenien und Aserbaidschan) zu einem zentralen Akteur geworden und konnte ihre militärischen Fähigkeiten sukzessive ausbauen. Neben der Modernisierung ihrer Marine hat sie in die Entwicklung und Produktion neuer Drohnensysteme investiert und konnte durch deren weltweiten Verkauf langfristige Partnerschaften eingehen. Nicht erst seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine versucht die türkische Regierung die westlichen Staaten und Russland gegeneinander auszuspielen und sich gegenüber beiden Seiten größtmöglichen Spielraum zu erhalten. Wie sich die Ausgestaltung der zukünftigen Beziehungen der Türkei zur EU entwickeln, hängt nicht zuletzt vom Fortgang der innertürkischen Auseinandersetzung über die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Zukunft des Landes ab. Die außenpolitische Orientierung wird maßgeblich dadurch beeinflusst werden, wie stark sich der türkische Nationalismus und Autoritarismus unter Präsident Erdoğan ausprägen wird. Für deutsche und europäische Türkeipolitik stellt sich somit die Frage, welche institutionellen Neuerungen und Änderungen im Hinblick auf ein kooperatives Verhältnis erforderlich sind und welche Rolle die Türkei in einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur spielen sollte.
In Zentralasien hat Kasachstan aufgrund seiner strategischen Position auf dem eurasischen Kontinent, seiner mit Abstand stärksten Volkswirtschaft in der Region und seiner Bedeutung als Energielieferant an außenpolitischem Gewicht gewonnen. Dabei setzt das Land, das traditionell enge Beziehungen zu Russland und China unterhält, auf den Ausbau der Beziehungen mit westlichen Staaten ebenso wie auf die Zusammenarbeit in multilateralen Organisationen und Gruppierungen.
Auch einer Reihe von Mittelmächten im Mittleren Osten, die traditionell enge Beziehungen zur USA unterhalten, haben ihr Verhältnis zu China sukzessive intensiviert. Auch sie beharren im Russland-Ukraine-Krieg auf Neutralität. Gerade die Golfmonarchien und Ägypten treten betont unabhängig und gegenüber den westlichen Staaten zunehmend selbstbewusst auf. Saudi-Arabien hat durch die von China vermittelte Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen mit Iran seinen regionalen Gestaltungsanspruch unterstrichen. Die VAE und Katar werden ihre regionalpolitischen Ambitionen durch gezielte Einmischung in regionale Krisen, aber auch durch wirtschaftliche Instrumente wie Auslandsinvestitionen weiterverfolgen. Der außenpolitische Handlungsspielraum Ägyptens, des mit Abstand bevölkerungsreichsten arabischen Landes, bleibt hingegen aufgrund seiner Schuldenkrise beschränkt. Iran wiederum hat seine sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit Russland durch die Lieferung bewaffneter Drohnen ausgeweitet und setzt neben Normalisierungsvereinbarungen mit arabischen Staaten verstärkt auf eine Blick-nach-Osten-Strategie.
In Subsahara-Afrika diversifizieren Kenia und Nigeria ihre internationalen Partnerschaften. Dabei spielt China eine wichtige Rolle, ohne dass dies zu Spannungen mit »westlichen« Akteuren führen würde. Südafrika hingegen präsentiert sich als »neutraler Akteur«, gleichzeitig konterkariert Deutschlands wichtigster Wirtschafts- und Handelspartner in der Region mit seiner russlandfreundlichen Politik und seinem Einsatz für die Stärkung der BRICS immer wieder diese Linie. Deutschland und die EU stehen vor der Herausforderung, gegenüber diesen Staaten ihre insbesondere wirtschafts-, rohstoff- und energiepolitischen Interessen zu verfolgen, ohne sich dabei in Abhängigkeiten zu begeben oder sich gegeneinander ausspielen zu lassen.
Zur Stärkung regionaler und multilateraler Regelsysteme im indo-pazifischen Raum liegt es nahe, die Zusammenarbeit mit Partnern wie Australien, Indonesien, Indien, Japan und Süd-korea zu verstärken. Eine zentrale Herausforderung ist das uneinheitliche, punktuelle Engagement vieler dieser Partner in multilateralen Initiativen. Südkorea beispielsweise trat dem Regional Comprehensive Economic Partnership Agreement (RCEP) bei, nicht aber dem Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership (CPTPP). Es unterstützt seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine den »politischen Westen« inklusive Sanktionen gegen Russland, verweigert aber Waffenlieferungen an die Ukraine. Die amtierende konservative Regierung brachte Anfang 2023 einen Ausstieg aus dem nuklearen Nichtverbreitungsvertrag mit dem Ziel einer nuklearen Bewaffnung des Landes ins Spiel. Indonesien wiederum hat sein multilaterales Engagement vor allem in der ASEAN zugunsten bilateraler Kooperation stark zurückgefahren, gleichzeitig aber sein Engagement auf VN-Ebene intensiviert. Dies macht eine Einheitslösung zur Stärkung multilateraler Regelsysteme schwierig; sektorale bzw. modulare Ansätze erscheinen derzeit gewinnbringender.
Indien errichtete unter der Regierung Modi Importbarrieren, erhöhte Zölle und kündigte bestehende Investitionsschutzabkommen. Zudem blockiert Indien Fortschritte bei Verhandlungen in der Welthandelsorganisation (WTO), etwa über die Begrenzung von Agrarsubventionen. Indien trat weder der regionalen Freihandelszone RCEP noch dem Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership im Indo-Pazifik bei. Mit einer neuen Generation bilateraler Freihandelsabkommen – mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), Australien, Großbritannien, Israel, Kanada und der EU – will Indien aus dem regionalen außenwirtschaftlichen Abseits heraustreten, Lieferquellen sichern und diversifizieren, neue Exportmärkte erschließen sowie Kapital und Technologie neu anwerben.
Das aus der Systemkonkurrenz zwischen den USA und China sowie der Konfrontation zwischen Russland und den westlichen Staaten resultierende verstärkte Interesse dieser Akteure an Lateinamerika und der Karibik ist nicht ohne Risiken und Nebenwirkungen. Während Mexiko weiterhin auf vielen Ebenen eng mit den USA verflochten ist, stehen die südamerikanischen Staaten vor einer doppelten Herausforderung: Zum einen geraten sie zunehmend unter Druck, sich zu den »Konflikten der anderen« klar zu positionieren. Zum anderen wollen sie von der steigenden Rohstoff- und Energienachfrage Chinas und Europas profitieren und eine »Just Transition« vollziehen, die neben der notwendigen (Re-)Industrialisierung auch ökonomische, soziale und ökologische Vorteile für die eigene Bevölkerung mit sich bringt. Vor diesem Hintergrund verfolgen sie vielfältige außenpolitische Strategien, die aus europäischer Sicht nicht immer kohärent erscheinen: So engagiert sich Brasilien in der BRICS-Gruppe, ohne seinen Antrag auf OECD-Mitgliedschaft zurückgezogen zu haben. Ein solcher Antrag wurde auch von Argentinien gestellt.
Deutschland und Europa können sehr schnell von Konflikten und Machtverschiebungen in ihrer südlichen und östlichen Nachbarschaft und in weiter entfernten Regionen direkt oder indirekt betroffen sein. Deshalb ist das Verständnis der komplexen regionalen Ordnungskonstellationen, Allianzbildungen und Interessen staatlicher und nichtstaatlicher Akteure nicht nur Voraussetzung für eine frühzeitige Folgeabschätzung in Bezug auf mögliche Konflikte, sondern auch für aktives Krisenmanagement. Auf diese Problemkomplexe richten sich daher laufend die regionalwissenschaftlichen und sicherheitspolitischen Analysen der SWP.
Im Südkaukasus hat der Krieg 2020 zwischen Armenien und Aserbaidschan Prozesse regionaler Rekonfiguration in Gang gesetzt. Der seit über dreißig Jahren bestehende Konflikt zwischen beiden Ländern ist vollständigen Kontrolle Bergkarabachs durch Aserbaidschan im Herbst 2023 in eine neue Phase getreten. Zu untersuchen sind die Folgen für die Region, etwa im Hinblick auf intra-regionale Kooperation, aber auch weitere Konfliktpotentiale, sowie auf transnationale Transportrouten und die Rolle von Regional- und Drittmächten, darunter Russland, die Türkei, Iran und die EU. Russlands Krieg gegen die Ukraine hat Auswirkungen auf den Südkaukasus insgesamt, zudem lähmt er im Fall der ungelösten Konflikte um Südossetien und Abchasien die mit diesen Konflikten befassten multilateralen Formate der Konfliktbearbeitung. Der Verlauf des russischen Krieges und wie Russland daraus hervorgeht, dürfte wesentlich sein für die weitere Entwicklung.
Im östlichen Mittelmeer stehen Deutschland und die EU weiterhin vor der Aufgabe, gegen die von der Türkei betriebene Militarisierung des Konflikts um die Abgrenzung maritimer Zonen sowohl EU-interne Solidarität mit Griechenland und der Republik Zypern zu üben als auch berechtigte Interessen der Türkei zu berücksichtigen. Die Wiederaufnahme vollständiger diplomatischer Beziehungen zwischen der Türkei und Ägypten könnte sich positiv auf die regionale Energiekooperation und die Institutionalisierung der Energiebeziehungen in der Region auswirken.
Bereits vor dem Terrorangriff der Hamas und des Palästinensischen Islamischen Jihad auf Israel am 7. Oktober 2023 war der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern auf grundsätzliche Fragen aus der Zeit vor Unterzeichnung der Oslo-Abkommen zurückgefallen, etwa durch den Anspruch der zumindest in Teilen radikalen israelischen Regierung auf das Westjordanland. Der 7. Oktober stellt allerdings eine Zäsur dar und wird nachhaltige Auswirkungen auf die gesamte Region haben. Für die Israelis zeichnet sich eine grundlegende Neubewertung ihrer Lage gegenüber den Palästinensern und in der Region ab. Die weiteren regionalen Dynamiken werden stark vom Verlauf des Krieges im Gazastreifen abhängen. Dabei spielen unter anderem Konfliktakteure im Libanon, Syrien und Irak, die von Iran unterstützt werden, eine herausgehobene Rolle. Die angestrebte Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien ist zunächst nicht zu erwarten. Die Vertiefung der begonnenen Integration Israels in die Region (Abraham-Abkommen) steht in Frage. Dagegen könnte die 2023 unter chinesischer Vermittlung begonnene Annäherung zwischen Saudi-Arabien und Iran zumindest kurzfristig zum Abbau von Spannungen am Persischen Golf beitragen. Für die Befriedung des Bürgerkriegs in Jemen könnten hiervon positive Impulse ausgehen. Irans Unterstützung für Konfliktakteure in Irak, Syrien, Libanon und dem Gaza-Streifen dürfte indes anhalten und für weitere Spannungen mit Israel und den USA sorgen. Wichtige Forschungsfragen sind daher die nach der Ausgestaltung der Beziehungen zu Israel, nach dem Umgang mit dem Rückfall in einen existenziellen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern und regionaler Gewalteskalation sowie der Suche nach Regelungsansätzen.
In Nord- und Ostafrika zeigt sich der schwindende Einfluss der USA und die zusehends offensive Verfolgung eigener Sicherheitsinteressen durch Regionalstaaten. In Libyen führen die militärische Intervention der Türkei und Russlands sowie die politische Einflussnahme Ägyptens und der Vereinigten Arabischen Emirate dazu, dass der Konflikt eingefroren ist, zugleich wurden aber die Hürden für eine nachhaltige Lösung erhöht. Gewalt und Instabilität im Sahel erreichen auch die Küstenanrainerstaaten und bieten gleichzeitig Möglichkeiten für russische Einflussnahme. In Sudan werden die Befriedung des innerstaatlichen Gewaltkonflikts und die Rückkehr zu einer politischen Transformation auch davon abhängen, ob Ägypten, VAE und Saudi-Arabien eine einheitliche Linie verfolgen. Der weiterhin ungelöste Streit um die Verteilung des Nilwassers zwischen Ägypten und Äthiopien könnte weitere regionale Spannungen befördern. Bewaffnete Konflikte am Horn von Afrika wie in Sudan, Südsudan, Äthiopien und Somalia haben oft Bezüge zu demokratischen Übergangsprozessen, beziehen jeweilige Nachbarländer mit ein und haben ein erhebliches Destabilisierungspotential. Regionalen Organisationen wie der Afrikanischen Union (AU) und der Intergovernmental Authority on Development (IGAD) gelingt es kaum, diese Konflikte einzuhegen. Neben den Regionalmächten weitet auch China seine militärische und wirtschaftliche Präsenz am Horn von Afrika und dem Roten Meer aus. Russland wird trotz des Angriffskrieges gegen die Ukraine versuchen, weiterhin gezielt Einfluss auf regionale Konfliktdynamiken zu nehmen.
In Asien sorgen die Rivalitäten zwischen den USA und China, ungelöste sicherheitspolitische Konflikte (Nordkorea, Süd- und Ostchinesisches Meer, Taiwan, Kaschmir), Territorialkonflikte (China–Indien, Süd- und Ostchinesisches Meer), historische Altlasten (Japan–China–Korea–Russland) und militärische Aufrüstung dafür, dass Frieden und Stabilität trotz enger wirtschaftlicher Verflechtungen fragiler werden. Zuspitzungen des Konflikts um das nordkoreanische Nuklearprogramm oder in der Taiwan-Straße bleiben zu befürchten. Ein umfassendes System regionaler Sicherheit für den asiatisch-pazifischen Raum ist mit der Konstituierung der sogenannten Quad-Gruppe (USA, Japan, Australien, Indien) sowie zuletzt mit dem Sicherheitsbündnis AUKUS (Australien, Großbritannien, USA) in weite Ferne gerückt, was die wachsende Bedeutung asiatischer Länder für die globale Ordnungspolitik und für Europa unterstreicht.
Das schmelzende Eis der Arktis macht Ressourcen und Seewege besser zugänglich und den Nordpolarraum zum Schauplatz geopolitischer Rivalität. Zivile und militärische Aktivitäten nehmen zu. Informelle Gespräche mit Russland und andere Bemühungen sind nötig, um die Transparenz zu erhöhen und Missverständnissen und Eskalationsrisiken vorzubeugen.
Deutschland agiert nach der »Zeitenwende« 2022 in einem neuen Sicherheitsumfeld. Es ist gekennzeichnet von einer wachsenden Bereitschaft zum Einsatz militärischer Mittel und zur Konfrontation bei gleichzeitiger Erosion internationaler Ordnungsstrukturen. Spielräume für sicherheitspolitische Diplomatie verengen sich. Diese fundamentale Instabilität, die auch in der Nationalen Sicherheitsstrategie von 2023 beschrieben wird, zeigt sich unmittelbar in Europa. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und seine Folgen wird die deutsche Sicherheitspolitik im Zeitraum 2024/2026 wesentlich prägen. Deutsche und europäische Politik sind gefordert, neue Grundlagen für die Gestaltung der euro-atlantischen Sicherheitsordnung zu erarbeiten. Kurz- und mittelfristig geht es darum, Sicherheit vor Russland zu organisieren, langfristig darum, Ansatzpunkte zu finden für eine kooperativ angelegte europäische Sicherheitsordnung unter Einschluss eines – so die Voraussetzung – im Innern fundamental veränderten Russlands. Ein Dauerthema bleibt die sicherheitspolitische Volatilität und zunehmende Militarisierung der unmittelbaren Nachbarschaft Europas. Internationalisierte Bürgerkriege in Afrika und dem Mittleren Osten haben direkte und indirekte Auswirkungen auf Europa, sei es durch Migrationsbewegungen, transnationalen Terrorismus oder organisierte Kriminalität. Gleichzeitig nimmt die europäische Bereitschaft ab, Stabilisierungsmissionen zu entsenden.
Die sich zuspitzende geopolitische Rivalität zwischen China und den USA wirkt sich global auf Kernthemen deutscher Sicherheitspolitik aus. Forschungsfragen sind zum Beispiel: Welche Entscheidungen für eine größere sicherheitspolitische Eigenständigkeit und den Ausbau militärischer Kapazitäten Europas sind kurz- und mittelfristig nötig und möglich? Wie kann die zukünftige nukleare Ordnung gestaltet werden? Geopolitische Rivalitäten verstärken den Trend zur militärischen Aufrüstung in zentralen Regionen (Indo-Pazifik, Nahost, Europa, Afrika), gleichzeitig nimmt die Tragfähigkeit internationaler Regelwerke ab. Wie können traditionelle Konzepte wie strategische Stabilität oder Rüstungskontrolle angepasst oder neu gedacht werden? Im für Deutschland kritischen Bereich der maritimen Sicherheit geht es um den Schutz von Seewegen als Grundlage von Mobilität, den Schutz maritimer Lieferketten und von Infrastruktur sowie des marinen Ökosystems.
Nicht zuletzt bestimmen technologische Transformation und der intensivierte Wettbewerb um eine technologische Führungsrolle sicherheitspolitische Entscheidungen mit. Zu fragen ist, welche Innovationen (KI, Cyber, Quantencomputing) für die militärische Anwendung besonders relevant sind. Forschungsbedarf besteht im Hinblick auf die Stärkung digitaler Resilienz und des Schutzes kritischer Infrastrukturen, nicht zuletzt weil digitale Technologien als Mittel der Machtprojektion und Instrument der Sicherheitspolitik eingesetzt werden.
Eine Reihe von Faktoren hat die Sicherheitsarchitektur in Europa fundamental verändert. Der erneute russische Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 hat die seit den 1990er Jahren gemeinsam mit Russland entwickelte kooperative Friedensordnung zerschlagen. Normativ bedeutet dies, dass im EU- und Nato-Raum die Prinzipien der Charta von Paris der Bezugspunkt für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik bleiben. Von anderen Akteuren im OSZE-Raum (Russland, Belarus, Teile von Zentralasien) werden sie jedoch nicht mehr geteilt oder massiv verletzt. Der institutionalisierte politische Dialog der Nato und ihrer Mitgliedstaaten mit Russland ist eingestellt. Russland ist nicht mehr Mitglied des Europarats. Der OSZE droht die endgültige Lähmung durch den Großkonflikt zwischen Russland und der überwiegenden Mehrheit der anderen Mitgliedstaaten. Russland hat dem ohnehin ruhenden KSE-Vertrag eine endgültige Absage erteilt und seine Teilnahme am New-Start-Vertrag unterbrochen. Zwar lässt sich langfristig darüber nachdenken, wie sich ein politisch transformiertes Russland wieder in diese Friedensordnung integrieren kann. Kurzfristig gilt es jedoch, die Transformation zu einer konfrontativen Sicherheitsordnung oder zumindest zu einer von maximaler Abgrenzung oder Blockbildung bestimmten Sicherheitsordnung zu akzeptieren und die notwendigen politischen sowie operativen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.
Vor diesem Hintergrund hat Russlands Krieg gegen die Ukraine die in der Nato seit 2014 erkennbare Priorisierung der Bündnis- und Landesverteidigung bestätigt. Die Abschreckung Russlands und die Rückversicherung der Alliierten sind wieder zu ihrem wichtigsten sicherheitspolitischen Zweck geworden. Wie kann die Handlungsfähigkeit der Allianz langfristig militärisch und politisch gewährleistet werden? Dazu gehört auch, die Stabilität und Sicherheit Europas durch die Verankerung der Ukraine in den euro-atlantischen Strukturen (Nato, EU) zu stärken. Eine zentrale Herausforderung wird die Umsetzung der Nato-Beitrittszusage des Vilnius-Gipfels 2023 sein. Zu fragen ist, wie die westlichen Staaten die Beitrittsfähigkeit der Ukraine unterstützen und die von der G7 im Juli 2023 in Aussicht gestellten bilateralen Sicherheitszusagen und Schritte zur Vollmitgliedschaft der Ukraine ausgestalten werden.
Der Ausgang der Präsidentschaftswahlen 2024 wird Aufschluss darüber geben, ob und wie lange die USA bereit sind, als »europäische Macht« zu agieren. Bei der Neujustierung der transatlantischen Sicherheitsbeziehungen wird es darum gehen, ob die Europäer mehr Handlungsfähigkeit nicht in Abgrenzung zu, sondern in Absprache mit den USA erreichen und diese politisch und militärisch unterlegen können. Letztlich wird es darum gehen, das Konzept eines »europäischen Pfeilers der Nato« unter veränderten Vorzeichen neu auszubuchstabieren und gegenüber dem Anspruch einer strategischen Souveränität abzuklären.
Die EU reagierte auf den russischen Überfall politisch geschlossen und zeigte Entschlossenheit bei Sanktionen gegen Russland sowie der wirtschaftlichen, humanitären und auch militärischen Unterstützung der Ukraine mit Hilfe der Europäischen Friedensfazilität. Die EU übernimmt zwar im Rahmen der GSVP keine Aufgaben der kollektiven Verteidigung, kann aufgrund ihrer Steuerungsinstrumente (wie EDIRPA, EDIP und ASAP) jedoch eine stärkere Bündelung europäischer Nachfrage in der Rüstungsproduktion organisieren und Innovation voranbringen. Das kann die Verteidigungsfähigkeiten der Europäer national, in der EU und der Nato signifikant stärken. Deutschland ist in EU und Nato mit »Führungs«-Erwartungen konfrontiert, die es aufgreifen und nutzen könnte, um die Kooperation zwischen Nato, EU und einzelnen Staaten zu verbessern.
Die Neupositionierungen der Nato und der EU im neuen strategischen Konzept bzw. im Strategischen Kompass haben große Auswirkungen auf die Streitkräfteentwicklung Deutschlands. Für die Bundeswehr wird die Landes- und Bündnisverteidigung zur Priorität. Im Rahmen der auf dem Nato-Gipfel in Vilnius beschlossenen Regionalpläne und des New NATO Force Models mehren sich die militärischen Verpflichtungen Deutschlands. Welche Weichenstellungen müssen in Deutschland vorgenommen werden, um die der Nato versprochenen Verbände personell und materiell adäquat ausgestattet zur Verfügung zu stellen? Darüber hinaus hat die Bundesregierung in Aussicht gestellt, eine Brigade der Bundeswehr dauerhaft in Litauen zu stationieren. Bei der deutschen Streitkräfteentwicklung wäre der Austausch mit Partnern in EU und Nato zu intensivieren, um Dopplungen und Rivalitäten zu vermeiden, die die Handlungsfähigkeit von EU und Nato beeinträchtigen und die europäische technologische Basis schwächen könnten. Schließlich werden die Alliierten Chancen und Risiken neuer Technologien für die Nato abwägen müssen, etwa in den Bereichen Künstliche Intelligenz (KI) und Überschallwaffen. Trotz dieser gemeinsamen Herausforderungen belasten interne Konflikte auch weiterhin die Kohäsion der Allianz. So haben beispielsweise Frankreich, Deutschland und Polen jeweils den Anspruch formuliert, die stärksten konventionellen Streitkräfte Europas aufzustellen. Offen ist, wo sich aus diesem Anspruch Kooperationspotential ergibt und wo neue Konflikte liegen. Zugleich bestehen die Herausforderungen des internationalen Krisenmanagements fort; der Umgang mit ihnen muss durch Personal, Material und Strukturen hinreichend unterfüttert sein. Nicht zuletzt ist die Streitkräfteentwicklung wesentlich von dem internationalen Wettbewerb um technologische Führerschaft – etwa in der Quantentechnologie – und fortschreitende Digitalisierung gekennzeichnet.
Um die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidigung zu gewährleisten, muss die Rüstungspolitik drei Anforderungen begegnen. Erstens erhöht das Sondervermögen für die Ausstattung der Bundeswehr zwar die kurzfristige Planungssicherheit. Für eine nachhaltige Entwicklung ist jedoch ein stetiges Aufwachsen des regulären Haushalts erforderlich. Zudem stellt sich die Frage, ob weitere Reformen im Beschaffungswesen notwendig sind, um das Sondervermögen zügig einzusetzen. Zweitens sieht sich Deutschland wie andere europäische Staaten dem Dilemma gegenüber, die drängendsten eigenen Ausrüstungslücken schnell zu schließen und zugleich die langfristige militärische Unterstützung der Ukraine sicherzustellen. Drittens trifft in Europa eine stark steigende Nachfrage nach Rüstungsgütern auf knappe industrielle Produktionskapazitäten, Mangel an wesentlichen Rohstoffen und Personal. Wie kann vor diesem Hintergrund die deutsche oder europäische verteidigungsindustrielle Basis gestärkt und durch bessere politische Steuerung der Fragmentierung des europäischen (Binnen-)Marktes entgegengewirkt werden?
Zu klären ist, welche Fähigkeiten in Zukunft national, international oder im Rahmen europäischer Kooperation bereitgestellt werden sollen. An eine solche Zielvorstellung kann die (Neu-)Definition deutscher wehrtechnischer Schlüsselindustrien anschließen. Auch im Rahmen der großen europäischen Kooperationsprojekte wie FCAS, MGCS und ESSI kann die Bundesregierung Akzente setzen. Nicht zuletzt ist zu fragen, inwieweit neue EU-Instrumente – etwa EDIRPA, EDIP und ASAP – in Verbindung mit Schlüsselakteuren wie der EU-Kommission und der Europäischen Verteidigungsagentur geeignet sind, eine stärkere Bündelung europäischer Nachfrage und Angebote in der Rüstung zu organisieren. Wenn Deutschland die europäische Rüstungskooperation vertiefen will, müssen Zielkonflikte mit der deutschen Politik der Rüstungsexporte diskutiert werden. Anders als zentrale Rüstungskooperationspartner wie Frankreich und Italien will die Bundesregierung ihre eigene Praxis künftig zurückhaltender gestalten und dafür ein nationales Rüstungsexportkontrollgesetz vorlegen. Zu fragen ist, ob und wie beide Ziele – mehr Rüstungskooperation und weniger Rüstungsexporte – zu vereinbaren sind. Inwiefern können Rüstungsexporte als Instrument der Außenpolitik dienen, welche Ziele können oder sollen damit erreicht werden, welche Erfolgsbedingungen wären notwendig und welche Nebeneffekte sind zu gewärtigen?
Die auf vergrößerte Kernwaffenarsenale gestützten revisionistischen Außenpolitiken von Putins Russland und von China unter Xi Jingping setzen die nukleare Ordnung unter Druck. Russlands Ansatz, einen Angriffskrieg hinter einem nuklearen Schutzschild zu führen, hat die Rolle der Abschreckung und Rückversicherung wieder in den Vordergrund gerückt. China untermauert seine regionalen Ansprüche durch Ausweitung seiner nuklearen Fähigkeiten. Russische und chinesische Bestrebungen werden die USA veranlassen, ihre nukleare Modernisierung zu beschleunigen, was wiederum Auswirkungen auf Europa hat. Eine Stationierung von Mittelstreckenraketen in Nato-Staaten ist in den nächsten Jahren nicht auszuschließen.
Der Ausbau des russischen Nukleararsenals stellt nicht nur eine direkte Bedrohung für Europa dar, sondern auch ein Problem für die Verlässlichkeit amerikanischer Schutzversprechen in anderen Regionen. Umgekehrt untergräbt Chinas nukleare Aufrüstung die Verlässlichkeit amerikanischer Garantien für Europa und erschwert Washingtons strategische Rüstungskontrolle mit Moskau. Auch die Weiterverbreitung klassischer Mittelstreckenraketen oder die Entwicklung neuer Hyperschallwaffen werden die Unsicherheit über künftige Abschreckungs- und Rückversicherungsszenarien stark beeinflussen.
Unter diesen Bedingungen sind die Aussichten für nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle ungünstig. Russland zieht sich seit Jahren aus der vertraglichen Rüstungskontrolle mit den Vereinigten Staaten zurück. China rüstet nuklear außerhalb aller Rüstungskontrollverträge auf und lehnt eine Begrenzung seines Arsenals ab. Solange Moskau und Peking die territoriale Ordnung in ihren Regionen in Frage stellen, ist eine Rückkehr zu Verhandlungen über Rüstungskontrolle und Abrüstung unwahrscheinlich. Dies betrifft auch die Unterstützung westlicher Kernwaffenstaaten für den Atomwaffenverbotsvertrag (AVV).
In der nuklearen Rüstungskontrolle hat Russland die Umsetzung des New START-Vertrags rechtswidrig ausgesetzt: Es lehnt Inspektionen auf seinem Territorium ab und hat den nuklearen Datenaustausch mit den USA eingestellt. Der Vertrag wird spätestens im Februar 2026 auslaufen, ein formales Nachfolgeabkommen ist höchst unwahrscheinlich. Deshalb stellt sich immer dringender die Frage, wie Obergrenzen für die Arsenale Russlands und der USA erhal-ten bleiben können, zumal wenn China parallel bei Interkontinentalraketen aufrüstet und politisch enger mit Russland kooperiert.
Fast vier Jahre nach dem Zerfall des INF-Vertrags schaffen einzelne Nato-Staaten die Voraussetzungen für die Stationierung eigener (konventioneller) Mittelstreckenwaffen, um Moskau davon abzuhalten, sein Arsenal in diesem Reichweitenband zu vergrößern.
Im Vorfeld der nächsten Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages (NVV) 2026 dürfte die Polarisierung unter den Mitgliedstaaten hoch bleiben: Die AVV-Befürworter werden sich mit den schlechten Aussichten für nukleare Abrüstung nicht abfinden; die übrigen Staaten sehen dafür angesichts des Sicherheitsumfelds keine Spielräume. Dieser Streit wird die NVV-Diplomatie polarisieren, die Stabilität des Vertrags aber nicht entscheidend gefährden.
Eine vollständige Umsetzung des JCPoA ist nicht in Sicht. Bemühungen um eine informelle politische Verständigung dürften durch die Eskalation des Nahostkonflikts noch schwieriger werden, Zudem ließe sich das rapide fortschreitende Atomprogramm Irans bestenfalls temporär eindämmen. Solange keine nachhaltige Vereinbarung in Kraft ist, dürften einzelne politische Akteure wie die USA oder Israel auf Abschreckung und Counterproliferation setzen – mittels Drohungen, Sabotageakten und weiterer Sanktionen. Angesichts von Irans Fähigkeit, Vergeltungsschläge in der gesamten Region durchzuführen, stellt sich die Frage, wie eine größere militärische Eskalation vermieden werden kann.
Das Kernwaffenprogramm Nordkoreas ist von einem Nichtverbreitungs- zu einem Abschreckungsproblem geworden. Weil Pjönjangs Arsenal stetig wächst, geht von ihm ein steigender Proliferationsdruck auf andere Länder in Ostasien aus, vor allem auf Südkorea. Ein Großteil dieser Herausforderung obliegt dem Allianzmanagement der USA. Können Europäer einen Beitrag leisten, um die amerikanische Strategie gegenüber regionalen Verbündeten zu unterstützen und welche Möglichkeiten zur Denuklearisierung existieren dennoch?
Der Einsatz chemischer Waffen ist – siehe Syrien, Nordkorea und Russland – zu einem gravierenden Problem für die Sicherheit geworden. Die Belastbarkeit des Chemiewaffen-Übereinkommens (CWÜ) schwindet und leidet wie auch das Übereinkommen über das Verbot bak-teriologischer, biologischer und toxischer Waffen (BWÜ 1972) daran, dass seine Instrumente wegen der wachsenden geopolitischen Spannungen nur eingeschränkt nutzbar sind.
Der Cyber- und Informationsraum (CIR) ist heute ein bedeutendes Feld der Sicherheitspolitik. Cyberangriffe haben sich als Mittel der Außen- und Sicherheitspolitik etabliert, etwa zum »tacit bargaining« (siehe das Beispiel der US-Iran-Konfliktdyade), zur Abschreckung oder im Kontext vorbereitender Strategien, um für künftige militärische Konflikte gerüstet zu sein. Die weiterhin enorm dynamische technologische Entwicklung macht dabei eine kontinuierliche Analyse der sicherheitspolitischen Herausforderungen notwendig. So sind zuletzt etwa Cyberangriffe auf kritische Infrastrukturen, weitgestreute Ransomware-Attacken oder auch neue Verletzbarkeiten technischer Einrichtungen im Weltraum verstärkt in den Fokus gerückt. Auch im Krieg Russlands gegen die Ukraine spielen Cyber-Operationen eine Rolle, wobei noch nicht genug Informationen verfügbar sind, um ihren konkreten Beitrag zum Kriegsgeschehen zu ermessen.
Der CIR ist durch Sicherheitsdilemmata und Rüstungswettläufe gekennzeichnet. Zahlreiche Staaten, darunter Deutschland, haben offensive Cyber-Fähigkeiten und -Kommandos aufgestellt, um in Netzwerke von Gegnern und Rivalen einzudringen. Die geringe Halbwertszeit spezifischer Angriffswege setzt dabei Anreize für schnelles, möglicherweise vorschnelles Handeln. Zunehmend sind Staaten bemüht, zeitnah und öffentlich die Urheber solcher Angriffe zu benennen.
Staaten versuchen vielfach, Risiken des CIR unilateral zu begegnen, durch aktive Cyber-Verteidigungs- oder defensive Resilienzstrategien. Hierbei ist die Frage der Effizienz allerdings weitgehend unbeantwortet. Internationale Bemühungen, die unerwünschten Nebeneffekte zusehends intensiverer zwischenstaatlicher Cyber-Operationen einzudämmen, entwickeln sich indes nur langsam und mit wenig Schlagkraft. Gleichzeitig versuchen China und die USA über einen neuen, umfassenden Ansatz – er bezieht Cyber-Sicherheits-, Handels-, Wirtschafts- und Außenpolitik ein –, die logischen und Infrastrukturkomponenten des CIR zu beeinflussen (Internetprotokolle und Standards).
Daraus ergeben sich grundsätzliche Fragen für die Strategiebildung Deutschlands: Etwa welche Ziele im Cyberspace erreicht werden sollen (zum Beispiel Cyber-Verteidigung, Abschreckung, strategische Souveränität und gesellschaftliche Resilienz) und ob bzw. wie die verschiedenen Mittel und Cyberfähigkeiten (»hack back« bzw. eigene offensive Cyber-Operationen) zu diesem Zweck eingesetzt werden sollen. Der rechtliche Rahmen von Cyber-Operationen ist nach wie vor von Grauzonen gekennzeichnet. Auch ist weiterhin ungeklärt, wann Cyberangriffe die Schwelle eines bewaffneten Konflikts erreichen und möglicherweise einen Verteidigungsfall der Nato auslösen.
Über Cyberangriffe hinaus ist der Schutz kritischer Infrastrukturen dringend geboten. Die Verletzbarkeit stark vernetzter Gesellschaften zeigt sich etwa mit Blick auf gehäufte Aus- und Störfälle in den Energie- oder Kommunikationsinfrastrukturen auch in westlichen Staaten bis hin zur offensichtlich gezielten Zerstörung der Nord-Stream-2-Pipelines. Die strategische Herausforderung besteht darin, einen Weg zu finden, im Wesentlichen privat betriebene und vor allem zivilen Zwecken dienende Infrastrukturen gegen hybride Angriffe zu schützen, ohne in eine überzogene »Versicherheitlichung« zu verfallen. Auch jenseits von kritischen Infrastrukturen wirft die fortschreitende Vermischung von innerer und äußerer Sicherheit neue Fragen auf, so bei koordinierten Reaktionen der Nato und der EU auf Formen der hybriden Kriegführung, wie sie im Krieg gegen die Ukraine und in verschiedenen Kontexten in Europa zu beobachten waren.
Darüber hinaus werden digitale Technologien immer mehr zu Gestaltungsmitteln der (internationalen) Politik. Staaten wie China, Russland und die USA sehen in der Nutzung der jeweils neuesten technologischen Entwicklungen eine Gelegenheit, ihre relative Machtbasis in militärischer, vor allem aber wirtschaftlicher Hinsicht auszubauen und nicht zuletzt ihre jeweiligen Vorstellungen der globalen digitalen Ordnung durchzusetzen. In den letzten Jahren hat sich vor allem die technologische Rivalität zwischen den USA und China verschärft. Dabei lässt insbesondere China die klare Ambition erkennen, die globale digitale Ordnung im Sinne der eigenen Interessen umzugestalten. Ausdruck findet dies in einem weitgespannten Netz bilateraler Beziehungen im Technologiebereich, aber auch in umfassenden Initiativen wie den Infrastruktur-Elementen der Belt and Road Initiative. Chinas globaler Gestaltungsanspruch trifft dabei auf den nicht minder starken Machtanspruch der USA. Zu befürchten ist eine Verschärfung des technologischen »de-coupling« sowie eine weitere Lähmung global inklusiver Institutionen wie den Vereinten Nationen – sowie der weitere Aufstieg autoritärer Ordnungs-vorstellungen des Digitalen.
Der Umgang mit der geopolitischen Aufladung digitaler Technologien ist für Deutschland eine strategische Herausforderung. Es kommt zum einen darauf an, die Kooperation mit engen Partnern in der EU oder im Rahmen der G7 zu intensivieren (wobei auch hier viel vom Ausgang der nächsten Präsidentschaftswahlen in den USA abhängen wird). Zum anderen sind, so im Rahmen der VN und unter Einbindung nichtstaatlicher Akteure, Möglichkeiten der Kooperation zu suchen, die geopolitische Konfliktlinien aufbrechen und der technologischen Fragmentierung entgegenwirken.
Der Trend zur transnationalen Verflechtung innerstaatlicher Konflikte ging in den letzten Jahren mit deren fortschreitender Internationalisierung einher. Dies geschieht insbesondere dort, wo sich Regionalmächte einen größeren Handlungsspielraum erarbeitet haben, etwa im Nahen und Mittleren Osten, in Nordafrika und am Horn von Afrika. Den Bemühungen der Europäer und der VN zur Einhegung und Beilegung der Konflikte von Syrien bis zur Zentralafrikanischen Republik werden durch die Rolle der arabischen Golfstaaten (und teils auch des Iran), der Türkei und Russlands enge Grenzen gesetzt. Dabei ist der Einfluss auch dieser Akteure auf das Konfliktgeschehen oftmals limitiert. Deutlich wurde dies in Sudan, wo die Gewalteskalation zwischen den Sicherheitskräften keineswegs im Interesse der Regionalmächte war. Im Jemen konnte zwar durch die saudisch-iranische Annäherung ein brüchiger Waffenstillstand zwischen Riad und den Huthi-Rebellen erreicht werden, innerjemenitische Auseinandersetzungen sind damit aber noch lange nicht beendet. Auch der internationalisierte Bürgerkrieg in Syrien ist – trotz Normalisierung der Beziehungen zum Assad-Regime seitens arabischer Staaten – keineswegs befriedet und eine nachhaltige Konfliktregelung nicht absehbar. Für europäische Akteure ist es wichtig, den Einfluss und die Grenzen von Sanktionsregimen auf das Konfliktgeschehen besser zu verstehen, sei es im Rahmen von VN- oder eigenen Sanktionen. Auch die Herausforderungen bei der Um- und Durchsetzung von VN-Waffenembargos in Konflikten verdient über den Fall Libyen hinaus mehr Aufmerksamkeit. Nicht zuletzt ergeben sich für die EU und ihre Mitgliedstaaten Zielkonflikte zwischen kurzfristigen Interessen und langfristigen Stabilisierungsansätzen.
Für die europäische Politik stehen die regionalen und globalen Auswirkungen innerstaatlicher Konflikte im Vordergrund: Flucht- und Migrationsbewegungen, organisierte Kriminalität, sozioökonomische Destabilisierung und transnationaler Terrorismus. In vielen regionalen Krisenlandschaften finden jihadistische Gruppen weiterhin fruchtbaren Boden, so in Syrien, in der Region um den Tschadsee, am Horn von Afrika und im Sahel. Eine Ausbreitung jihadistischer Mobilisierung lässt sich insbesondere vom Sahel in Richtung westafrikanischer Küstenstaaten beobachten. Die IS-Ableger in Afghanistan und in Afrika gewinnen gegenüber der Mutterorganisation im Irak und in Syrien an Bedeutung; zudem gerät die al-Qaida-Filiale im Sahel nach dem Zusammenbruch des »Kalifats« stärker in den Blick. Südasien und Westafrika sind zu jihadistischen Wachstumsmärkten geworden. In Afghanistan haben die Taliban die Macht übernommen und gestalten das Land trotz internationaler Proteste nach ihren Vorstellungen. Sie kämpfen vor allem gegen den IS, der nicht nur ihre eigene Macht bedroht, sondern dessen Aktivitäten auch auf den Nachbarn Pakistan ausstrahlen. Zu fragen ist, inwieweit sich Afghanistan erneut zu einem Epizentrum des internationalen Terrorismus entwickeln wird.
Auf transnationale organisierte Kriminalität (OK), besonders im Kontext von Gewaltkonflikten, verweisen verschiedene internationale Prozesse wie auch das deutsche Konzept für ein integriertes Friedensengagement. Nicht nur »klassische« kriminelle Aktivitäten wie Drogen-, Waffen- und Menschenhandel spielen eine Rolle, sondern auch die illegale Ausbeutung und der Handel mit natürlichen Ressourcen wie Gold, Diamanten oder Holz. In fragilen und von Konflikten betroffenen Staaten kommt es vor allem darauf an, transnationale und regionale Ansätze zu finden, die geeignet sind, OK konfliktsensitiv und nicht nur mit Mitteln der Strafverfolgung zu adressieren.
In Anbetracht der weltweit anhaltend hohen Zahl bewaffneter, meist grenzüberschreitender Konflikte und Bürgerkriege bleibt internationales Krisenmanagement eine wichtige Aufgabe deutscher und internationaler Politik. Gefahren und Risiken, die von Bürgerkriegsländern ausgehen, erfassen oft – wie derzeit im Sahel – die regionale Nachbarschaft. Der Bedarf an Friedenseinsätzen von VN und OSZE sowie Missionen, die zu Friedenssicherung und Stabilisierung beitragen (Nato, EU und Regionalorganisationen), bleibt also groß. Gleichzeitig besteht das Risiko, dass der Großmächtekonflikt das Instrument des Krisenmanagements schwächen wird.
Die Auswirkungen der Vetomacht der fünf permanenten Mitglieder und die wachsende Zahl von (häufig abgestimmten) Enthaltungen seitens Chinas und Russlands beeinträchtigen die Handlungsfähigkeit des VN-Sicherheitsrats bei der Bearbeitung internationaler Krisen. Dies erstreckt sich auch auf Beschlüsse zu Friedensmissionen, die bis vor kurzem wenig kontrovers waren. Neben geopolitischen Konkurrenzen spielen auch Ideologien eine Rolle. Je einflussreicher autoritäre Staaten werden, desto mehr wird VN-Friedenssicherung ihr liberales Grundgerüst (»liberal peacebuilding«) ablegen müssen. Gleichzeitig nehmen die Gestaltungs- und Vertretungsansprüche aufstrebender Staaten aus dem globalen Süden in internationalen Organisationen wie den VN zu. Solche Machtverschiebungen und ihre direkten wie indirekten Folgen für Krisenmanagement bleiben ein wichtiger Gegenstand Policy-orientierter Forschung.
Die »Zeitenwende« ist nicht ursächlich für das abnehmende militärische Engagement Deutschlands bei Friedens- und Stabilisierungseinsätzen in fragilen Staaten, sie verstärkt lediglich bestehende Trends. Die Bundeswehr wird sich 2024 aus den Missionen von EU und VN in Mali zurückziehen (derzeit 1.200 Soldaten). Die Abkehr von Stabilisierungseinsätzen ist international bereits vollzogen. Innerhalb der Nato herrscht Desillusionierung über den Afghanistan-Einsatz vor. Die VN haben ihrerseits seit 2014 keine mehrdimensionale Stabilisierungsmission mehr entsandt. Eine größere Diversität ist an friedenserhaltenden Maßnahmen in den kommenden Jahren zu erwarten, die das Pendel weg von ambitionierten, mehrdimensionalen Missionen hin zu eher klassischen Formaten (Waffenstillstandsüberwachung etc.), aber auch politischen Missionen ausschlagen lassen. Bei lange anhaltenden und sich gleichzeitig verändernden bewaffneten Konflikten geht es oft zunächst darum, die weitere Ausbreitung von Gewalt und Unsicherheit einzudämmen.
Der Ukraine-Krieg birgt die Gefahr, die politische Aufmerksamkeit für die notwendige kritische Aufarbeitung ambitionierter vergangener Missionen wie in Afghanistan erheblich zu schmälern. Die Lehren aus diesen Einsätzen bleiben relevant für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, zum Beispiel mit Blick auf kohärentes ressortgemeinsames Handeln und die Wirksamkeit eines vernetzten Ansatzes. Ziele, Ergebnisse und Instrumente vergangener Einsätze zu analysieren kann Grundlage für Verbesserungen sein. So wurde das Instrument der Ertüchtigung mit Blick auf Stabilisierungskontexte konzipiert und nunmehr unter verteidigungspolitischen Vorzeichen in der Ukraine eingesetzt. Auch auf europäischer Ebene bildet Ertüchtigung seit Jahren einen Schwerpunkt der GSVP, doch die Bilanz der zivilen und militärischen GSVP-Missionen ist ernüchternd. Deshalb ist zu fragen, wo und wie die EU ihre Instrumente und Kapazitäten (Missionen, European Peace Facility etc.) des zivilen und militärischen Krisenmanagements weiterentwickeln und zukünftig effektiv einsetzen kann. Dieses Ziel erstreckt sich im Übrigen auch auf regionale Organisationen und deren Handlungsfähigkeit bei Krisenmanagement und Stabilisierung, insbesondere in Afrika, wo AU und Regionalorganisationen den Vorrang afrikanischer Lösungen einfordern, ihre Handlungsfähigkeit bislang aber begrenzt ist (vgl. Sahel). In naher Zukunft dürften sich gleichwohl Erwartungen an die EU rich-ten, sich im Rahmen der GSVP in internationalen Krisen zu engagieren, die wie jene in Gaza in ihrer Peripherie liegen. Die Forschung über Erfolg und Misserfolg externen Eingreifens kann Anhaltspunkte für realistische Zielsetzungen von Einsätzen und die Ausgestaltung der entsprechenden Mandate liefern. Wichtig bleibt zudem die Analyse der Ursachen von Fragilität, ihrer unterschiedlichen Ausprägungen und ihrer Folgen für die betroffenen Staaten wie auch für die internationale Politik.
Die Vielzahl globaler Krisen und die Zuspitzung des Systemwettbewerbs zwischen China und den USA werden die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung über die Mitte des Jahrzehnts hinaus prägen. Die Weltwirtschaft steht an einer Wegscheide: Während ein Entwicklungspfad zu einer Entflechtung der Wirtschaftsräume voneinander (Deglobalisierung) führt, verspricht ein anderer Pfad eine Fortsetzung bestehender Handels- und Finanzbeziehungen bei gleichzeitigen intensiven Bemühungen um geringere wirtschaftliche Verwundbarkeit (Technologie-»de-coupling«, -»de-risking«). Auf dem ersten Pfad drohen erhebliche Einschränkungen für Innovation, wirtschaftliche Kooperation und Wachstum, insbesondere für die stark exportorientierte deutsche Wirtschaft. Allerdings drohen auch auf dem zweiten Pfad weitere wirtschaftliche, außen- und sicherheitspolitische Spannungen und Konflikte, mit negativen Auswirkungen auf die Weltwirtschaft. Zu untersuchen ist, unter welchen Bedingungen Strategien, die einer Entflechtung westlicher Demokratien von Ländern wie Russland und China im Technologiebereich dienen, Handel und Investitionen in anderen Bereichen weiterhin zulassen. Wie lassen sich unter der Bedingung des US-China-Konflikts drängende globale Probleme (Klimawandel, nachhaltige Entwicklung, Migration, globale Gesundheit) lösen?
Zu beobachten ist, dass der Einfluss der westlichen Industriestaaten in der globalen Handelspolitik schwindet. Vor allem die BRICS-Gruppe erhält immer mehr Zulauf, wie die Aufnahmezusage an Iran, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten, Äthiopien und Argentinien als neue Mitglieder zeigt. Die BRICS streben ein nicht von den Interessen der westlichen Industrienationen bestimmtes globales Wirtschaftssystem an.
Neue disruptive Technologien wie die Anwendung Künstlicher Intelligenz läuten eine neue Phase wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Transformation ein. Die Ausgangslage vieler Staaten ist häufig noch durch die Überwindung der vorangehenden Krisen geprägt. Die Covid-19-Pandemie hat zu einem drastischen Anstieg der öffentlichen Verschuldung geführt und damit auch zu einer historisch hohen Inflation in vielen Volkswirtschaften beigetragen. Zentralbanken gehen bei der Bekämpfung der Inflation die Mittel aus, zumindest solange starke Zinssteigerungen aufgrund des anhaltenden Rezessionsrisikos ausgeschlossen werden. Das Ausmaß an globaler Verschuldung stellt ein Risiko für die Stabilität des globalen Finanzsystems dar und gefährdet zugleich die wirtschaftliche Entwicklung vieler Länder. Wirtschaftlich starke Länder wie die EU-Staaten sind durch den Abbau der Staatsverschuldung bei hoher Inflation und weiteren strukturellen Faktoren (steigende Energiepreise, Verteidigungsausgaben und Gesundheitskosten, Reformträgheit bei Sozial- und Rentensystemen, Investitionen in Infrastruktur und grüne Transformation etc.) herausgefordert. Für Schwellen- und Entwicklungsländer birgt die Verschuldung weitere Risiken wie Zahlungsausfall, Ausschluss von internationalen Kapitalmärkten und neue Rückschritte auf dem Weg zu Zielen nachhaltiger Entwicklung (SDGs).
Die Finanzkrisen vergangener Jahrzehnte (Globale Finanzkrise, Europäische Schuldenkrise, Argentinienkrise, Asienkrise) hatten gravierende Auswirkungen auf Finanzakteure und die Realwirtschaft, stellten jedoch den Fortbestand des offenen globalen Finanzsystems nicht grundlegend in Frage. Erstmals ist jedoch seit Ende des Kalten Krieges von einem möglichen Zerfall des globalen Finanzsystems in (zwei) Blöcke die Rede. Verflechtungen der Kapitalmärkte werden zunehmend unter dem Aspekt der Verwundbarkeit betrachtet (»weaponized inter-dependence«). Restriktionen wie Finanzsanktionen und Investitionsbeschränkungen bis hin zum Ausschluss bestimmter Akteure von internationalen Märkten und Zahlungssystemen drohen in den nächsten Jahren weiter zuzunehmen. Die geopolitischen Spannungen führen zu Unsicherheiten und erhöhen damit das Risiko von Marktversagen und Finanzkrisen. Es bleibt zu untersuchen, welche Folgewirkungen davon für globale Finanzmärkte ausgehen.
Zwar hat die US-Dollar-Hegemonie im internationalen Finanzsystem weiterhin Bestand. Aufgrund der Attraktivität ihrer Währung und des Zugangs zu Märkten können die USA weiterhin die an den US-Dollar gebundenen außenwirtschaftlichen Instrumente wie Sanktionen, Export- und Investitionskontrollen in den Dienst bestimmter außen- und sicherheitspolitischer Ziele stellen. Bisher bleibt Amerika der wichtigste Stabilitätsanker für internationale Finanzmärkte, wie die im Zuge der Insolvenz der Silicon Valley Bank von der Federal Reserve Bank an Notenbanken weltweit gewährten Swap-Kredite unterstreichen. Dennoch wird die Vormachtstellung der USA im globalen Finanzsystem durch den Zugang zu digitalen Währungen und Zahlungssystemen zunehmend herausgefordert. China, Russland und auch weitere − demokratische und nichtdemokratische − Staaten experimentieren mit der Einführung elektronischer Währungen, die durch die eigene Zentralbank gedeckt werden (Digitales Zentralbankgeld). Vor allem China hat großes Interesse daran, mit einer wettbewerbsfähigen digitalen Währung (CNY) seine Machtposition auszubauen, obgleich es durch eigenes Verhalten (z.B. Kapitalmarktkontrollen) maßgeblich dazu beiträgt, dass seine Währung nicht vollständig global handelbar ist. Mit CNY wären für China enorme Kosteneinsparungen verbunden, da Peking das teure Korrespondenzbankensystem umgehen könnte. China und andere bereits von den USA sanktionierte Staaten wie Russland und Iran zielen außerdem darauf ab, elektronische Zahlungskanäle außerhalb des Einflusses der US-Regierung zu schaffen, um US-Sanktionen weiter entgehen zu können. Es gilt zu untersuchen, inwieweit es den Vereinigten Staaten und der von ihnen geführten Allianz gelingt, Sanktionen gegenüber Russland durchzusetzen, auch gegenüber Akteuren aus Drittstaaten. Zudem ist zu klären, unter welchen Umständen und in welchem Ausmaß sich die Staaten der Sanktions-Koalition gegenüber Russland auch an Sanktionen gegenüber China beteiligen, etwa im Fall einer Zunahme der Aggression gegenüber Taiwan. Dazu gilt es auch, sich ein klares Bild möglicher wirtschaftlicher und politischer Kosten etwaiger Maßnahmen zu verschaffen. Insbesondere ist zu klären, zu welche Retorsionsmaßnahmen China fähig und willens wäre.
Für die EU besteht in Anbetracht der unsicheren geopolitischen Lage eine zentrale Herausforderung darin, teils unterschiedliche Interessen der Mitgliedstaaten abzuwägen und gemeinsame außenpolitische Positionen zu finden. Zu ihren außenwirtschaftlichen Instrumenten könnte in Zukunft auch ein globaler digitaler Euro zählen, mit dessen Hilfe sie schrittweise mehr monetäre Souveränität erreichen könnte. Es bleibt zu untersuchen, welche Maßnahmen für die EU notwendig werden, um den gemeinsamen Währungsraum zu stärken (Vertiefung der Bankenunion, Kapitalmarktunion) und die Attraktivität des Euro zu erhöhen.
Der Unsicherheit auf globalen Finanzmärkten ging eine seit Jahren wachsende Unsicherheit im internationalen Handel voraus. Unilaterales Handeln mächtiger Akteure wie China und die Vereinigten Staaten haben Zweifel an der Zukunft der offenen globalen Handelsordnung genährt. Hoffnungen auf eine Reform der Welthandelsorganisation (WTO), als Hüterin der Regeln, bleiben schon seit längerem unerfüllt. Es ist jedoch zu untersuchen, unter welchen Bedingungen die für die nächste Generalversammlung der WTO im Frühjahr 2024 angekündigte intensive Reformdebatte konkrete Erfolge zeitigen kann. Ein entscheidendes Hindernis liegt in der Zuspitzung des Konflikts zwischen den USA und China. Kommt es zwischen den beiden Machtpolen zu keiner Einigung in zentralen Fragen (Einhaltung des Verbots staatlich unterstützter Überproduktion, des Verbots wettbewerbsverzerrender Subventionen, des Diebstahls geistigen Eigentums und des erzwungenen Technologie-Transfers), droht ein Zerfall der globalen Handelsordnung. Zu untersuchen ist, wie insbesondere private Akteure mit dem drohenden Paradigmenwechsel umgehen. Welche Strategien wählen international vernetzte Unternehmen, um neue Risiken zu minimieren? Für die EU stellt sich insbesondere die Frage, wie sie ihre Handelsbeziehungen zu China künftig gestalten soll. In welchen Umfang und in welchen Bereichen wird es notwendig sein, dass die EU und die Mitgliedstaaten privaten Akteuren mit staatlicher Förderung (Subventionen) unter die Arme greifen, auch um die eigene Versorgung mit wichtigen Gütern gewährleisten zu können?
In China hat die Kontrolle über private Unternehmen zugenommen (Teil der zivil-militärischen Fusion). Mit umfassenden staatlichen Förderprogrammen, die es an seiner industriepolitischen Strategie (Made in China 2025) ausrichtet und die zu erheblichen Überkapazitäten geführt haben, hat China in der Vergangenheit bereits gegen Handelsregeln verstoßen. Zu untersuchen ist, inwiefern China diese Politik fortsetzen und eine Einigung auf neue globale Handelsregeln (z.B. notwendige Reformen der Regeln zu digitalem Handel) untergraben könnte. Für die EU stellt sich insbesondere die Frage, ob China den zuletzt eingeschlagenen Weg der Retaliationsmaßnahmen gegen einzelne Mitgliedstaaten (z.B. Litauen) sowie gegen einzelne Personen (Europaabgeordnete oder aus Think Tanks) fortsetzt. Die EU besitzt inzwischen neue Schutzinstrumente (z.B. Anti Coercion Instrument, International Procurement Instrument), deren Einsatz und Wirksamkeit gegebenenfalls zu analysieren und deren Fortentwicklung zu überlegen wären.
In den USA hat sich in Regierungskreisen ein parteiübergreifender Konsens gegen eine liberale Handelspolitik etabliert. Freihandelsabkommen haben derzeit keine Aussicht auf Erfolg. Die Biden-Regierung hält an einer Vielzahl der von Donald Trump eingeführten Einfuhrzölle und -quoten fest und fügt weitere Restriktionen gegenüber China hinzu. Grund dafür ist die Sorge, dass bestimmte technologische Entwicklungen in China eine »Bedrohung der nationalen Sicherheit« der Vereinigten Staaten bedeuten. In Washington wird nun eine Strategie eng zugeschnittener Export- und Investitionskontrollen (»small yard, high fence«-Ansatz) verfolgt, die eine militärische Nutzung bestimmter Spitzentechnologien (Halbleiter, KI, Quan-tencomputer) an den strategischen Rivalen verhindern soll. Zu untersuchen ist, ob es bei dem engen Zuschnitt von US-Exportkontrollen bleibt und welche Erwartungen sich an enge Partner wie die EU richten, vergleichbare Technologiekontrollen gegenüber China einzurichten. Werden diese mittelfristig zu einem Eigentor, da sie das chinesische Autonomiestreben in kritischen Bereichen verstärken? Auch die volkswirtschaftlichen und politischen Folgekosten gilt es zu berücksichtigen.
In China und in den USA werden staatliche Subventionsbemühungen in den nächsten Jahren noch zunehmen. Die EU und andere leistungsstarke Wirtschaftszentren haben inzwischen mit eigenen industriepolitischen Konzepten (Green European Industrial Plan, Chips Act) reagiert. Zu untersuchen sind die Auswirkung neuer Subventionsmaßnahmen und weiterer staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft, sowohl auf den eigenen Wirtschaftsraum wie auch auf andere Länder (Verteilungseffekte).
Ein wichtiger Bereich der Forschung bleibt in den nächsten Jahren die Handelspolitik von »Mittelmächten« wie Japan, Korea, Indien, Brasilien, Großbritannien, Kanada, Mexiko, Australien und den ASEAN-Staaten. Diese Staaten – bei all ihrer Diversität und ihren unterschiedlichen Interessen – haben das gemeinsame Interesse an dem Fortbestehen, möglichst auch einer Reform der WTO. Sie sind auf multilateralen Handel angewiesen. Es bleibt daher zu untersuchen, wie sie auf multilateraler und bilateraler Ebene handelspolitisch agieren und inwieweit sich ihre Interessen mit denen der EU in gemeinsamen Initiativen vereinen lassen.
Weiterhin bleibt die Versorgungssicherheit mit erheblichen Risiken verbunden. Bereits die Corona-Krise legte das Augenmerk vieler Staaten auf resiliente Lieferketten mit einem Fokus auf die eigene Versorgung: Neben humanitär essenziellen Gütern wie Medizinprodukten und Nahrungsmitteln stehen Rohstoffe und relevante Vorleistungen für die Weiterverarbeitung im Zentrum vieler weltweit neu etablierter wirtschaftspolitischer Schutzmaßnahmen. Laut WTO zeigen sich dabei eine Vielzahl mengenmäßiger Handelsbeschränkungen – etwa Exportrestriktionen bei Agrarrohstoffen und Düngerkomponenten –, aber zugleich auch Handelsöffnungen und Zulieferdiversifizierung. Mit einem stärker geostrategischen Herangehen an (außen-)wirt-schaftliche Fragen verbindet sich die Suche nach politisch stabilen Zulieferländern gerade für Güter und Dienstleistungen, die für die eigene Wirtschaft und die Gesellschaft als essenziell verstanden werden. Neben den USA verfolgen nunmehr auch die weiteren G7-Staaten explizit Ziele wie wirtschaftliche Souveränität und nationale Sicherheit. Gerade Länder des globalen Südens sind von Nahrungsmittelknappheit aufgrund von Lieferengpässen und Preissteigerungen betroffen. Sie streben deshalb nach Diversifizierung der Zulieferungen und Importsubstitution durch Eigenproduktion. Bei der weiteren Analyse stellen sich insbesondere zwei Fragen: (1) Wie wirken sich unterschiedliche Maßnahmen zum Schutz der nationalen Sicherheit oder Versorgungssicherheit auf die Nahrungssicherheit verschiedener Länder aus? (2) Inwieweit nutzen Staaten möglicherweise die Frage der nationalen (Ernährungs-)Sicherheit aus, um politisch motivierte Exportstopps zu rechtfertigen?
In diesem Zusammenhang ist auch die Prävention von Gesundheitskrisen und die Stärkung der Resilienz von Gesundheitssystemen relevant. Die Schaffung einer robusten und regelbasierten globalen und europäischen Gesundheitsarchitektur, so bei den Verhandlungen über einen Pandemievertrag im Rahmen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), ist aufgrund wachsender geopolitischer Spannungen und systemischer Rivalität gefährdet. Die Mitgliedstaaten der EU sind häufig von wenigen Zulieferern abhängig, und einzelne Staaten nutzen den Export von Arzneimitteln und Schutzausrüstung als politisches Instrument. Wie kann die EU den Aufbau resilienter Gesundheitssysteme in Ländern des globalen Südens fördern und zu einer gerechteren Verteilung von Gesundheitsgütern in Krisenzeiten beitragen? Welche Schritte zu einer Europäischen Gesundheitsunion sind erreichbar, in der verbindliche Regeln für alle Mitgliedstaaten gelten?
Die europäischen Volkswirtschaften werden weiterhin mit ungelösten Problemen der Vergangenheit zu kämpfen haben, wie Überschuldung, schwierige demografische Lage, Ungleichgewichte auf dem Arbeitsmarkt und die angeschlagene Wettbewerbsfähigkeit. Hinzu kommen neue Herausforderungen wie die Energietransformation, der Klimawandel, die Digitalisierung und die Überprüfung und Neuausrichtung der Lieferketten aufgrund geopolitischer Faktoren. Diese Herausforderungen werden die Volkswirtschaften und öffentlichen Haushalte der EU-Mitgliedstaaten in unterschiedlichem Maße belasten.
Der NextGenerationFund wird Ende 2026 auslaufen und im Anschluss evaluiert werden. Dabei wird auch die Frage nach neuen schuldenfinanzierten europäischen Ausgabenprogrammen beantwortet werden müssen. Die Frage bezieht sich ferner auf die Finanzierung des grünen Übergangs und die Vermeidung übermäßiger Kosten für einzelne Wirtschaftssektoren, die sich negativ auf die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen auswirken würden. Wie kann es der EU angesichts des prognostizierten schwachen Wirtschaftswachstums und entsprechend geringerer Haushaltsmittel gelingen, die grüne Transformation voranzutreiben (Green Finance)? Inwieweit kann beispielsweise der Einsatz privater Finanzierungsinstrumente dazu beitragen, dass notwendige Ausgaben und Investitionen getätigt werden?
Die Inflation wird für die europäischen Volkswirtschaften in den nächsten Jahren eine zentrale Herausforderung bleiben. Der IWF prognostiziert, dass die durchschnittliche Inflation in der EU bis 2026 allmählich auf 2,1 Prozent sinken wird, was eine Lockerung der Geldpolitik bedeuten könnte, die sich positiv auf die Wirtschaftstätigkeit auswirken würde. Dominieren werden bis dahin jedoch die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen der Inflation, die vor allem durch hohe Energie- und Lebensmittelpreise angetrieben wird. Zu untersuchen sind insbesondere auch die sozialen Auswirkungen.
Die angespannte soziale Lage in einigen europäischen Ländern, insbesondere in Frankreich, wird die Durchführung der notwendigen Strukturreformen erschweren. Die Wirtschaftsmodelle der Mitgliedstaaten werden durch die Überalterung der Bevölkerung, die Belastungen für die Gesundheits- und Rentensysteme sowie durch den Arbeitskräftemangel immer mehr unter Druck geraten. Der Einsatz Künstlicher Intelligenz, Automatisierung und die Entwicklung digitaler Plattformen werden sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf verschiedene Wirtschaftszweige und den Arbeitsmarkt haben.
Die Probleme mit der Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen wird die Frage aufwerfen, inwieweit sich die EZB weiter an der Stabilisierung des Schuldenmarktes des Euroraums und an den wichtigen Projekten beteiligt, die sich aus den EU-Prioritäten ergeben: die grüne Ausrichtung der Geldpolitik und der digitale Euro, dessen Umsetzungsphase für Ende 2023 geplant ist. Zu untersuchen ist, inwieweit die EU-Mitgliedstaaten und -Institutionen die angestrebten weiteren Regulierungsprozesse im Binnenmarkt in seinen Schlüsselbereichen – insbesondere das Projekt der Kapitalmarktunion, die Regulierung digitaler und grüner Aktiva, staatliche Beihilfen und Fusionskontrolle sowie der Verbraucherschutz – erreichen können.
Die Handelspolitik der EU ist zunehmend von der Suche nach einer Balance zwischen Binnenfokussierung – im Sinne von Versorgungssicherung und stärkerer autonomer Positionierung – und einer stärkeren Außenorientierung – etwa durch intensivere Partnersuche – gekennzeichnet. Zudem verfolgt sie weiterhin Ziele nachhaltiger Entwicklung, auch durch verstärkt unilaterale handels- und außenwirtschaftliche Maßnahmen. Das Spannungsfeld kam bereits in der Handelsstrategie 2021 im Begriff der »offenen, strategischen Autonomie« zum Ausdruck. Zu untersuchen ist, ob und wie sich der Charakter von EU-Abkommen ändert, etwa um bei verschärften Nachhaltigkeitsforderungen aus den Mitgliedstaaten attraktiv für unterschiedliche Partner zu bleiben. Die Fortsetzung der Russlandsanktionen und wirtschaftliche Stabilisierung der Ukraine kommen als zentrale neue Herausforderung für die EU hinzu. Das hat zu einem weitgehenden »de-coupling« der Handels-, Investitions- und Energiebeziehungen zwischen Russland und der EU geführt. Allerdings hat sich gezeigt, dass viele der beschlossenen Maßnahmen eher längerfristig wirken und Russlands Wirtschaftskrise zunächst deutlich milder als erwartet ausfiel. Moskau profitierte von außergewöhnlich hohen Einnahmen aus dem Export von Öl und Gas. Angesichts der Umgehung von Sanktionen wird die Forschung über die Durchsetzbarkeit und Wirksamkeit von Sanktionsregimen weiter an Bedeutung gewinnen. Zusätzlich zu bereits beschlossenen Maßnahmen mit Blick auf Russland werden sich die EU-Mitgliedstaaten voraussichtlich auf eine Richtlinie zur strafrechtlichen Verfolgung von Sanktionsumgehungen einigen, Ergänzend könnte die Europäische Staatsanwaltschaft neue Kompetenzen für dieses Deliktfeld erhalten.
Die Kosten für den Wiederaufbau der Ukraine wurden bereits nach dem ersten Kriegsjahr von der Weltbank auf über 400 Milliarden Euro geschätzt. Gleichzeitig ist die Ukraine mit dem Zusammenbruch der eigenen Wirtschaft und hohen laufenden Kriegskosten konfrontiert. Das Land wird deshalb langfristig auf westliche Unterstützung angewiesen sein, um Schäden an der (kritischen) Infrastruktur zu beheben, die wirtschaftliche Erholung zu ermöglichen und die vom Krieg zerstörten Städte wieder aufzubauen. Die EU hat eine Geberkoordinierungsplattform für die Ukraine, die G7-Staaten und mögliche internationale Geberorganisationen eingerichtet. Die Bundesregierung treibt eine Vernetzungs-Plattform Wiederaufbau Ukraine voran. Offen ist, wie die langfristige Finanzierung des Wiederaufbaus über die Unterstützung mit Waffen und kurzfristigen Finanzhilfen hinaus gewährleistet werden kann. Zu untersuchen ist, ob mit steigenden Kosten die Ukraine-Unterstützung in Europa schwindet und wie lange sie in den USA angesichts wachsender innenpolitischer Widerstände andauert.
Die Folgen des Ukraine-Kriegs und die zunehmende Systemrivalität zwischen USA und China prägen auch die internationale Energiepolitik. Sie beschleunigen einige bereits sichtbare Trends und zeigen neue auf. Erstens bestimmen Geopolitik, Industriepolitik und (staatlich subventionierte) Energiepolitik inzwischen maßgeblich die internationalen Energiemärkte. Sie beeinflussen nicht nur globale Öl- und Gasmärkte, sondern insbesondere den Ausbau erneuerbarer Energien und deren Infrastruktur. Zweitens liegt der Fokus wieder auf fossiler Versorgungssicherheit und verfestigt Unterschiede in den Transformationspfaden. Während fossile Energieproduzenten auf eine pragmatische, graduelle und additive Transition setzen, gilt es in Europa, das Zieldreieck aus Nachhaltigkeit, Versorgungssicherheit und Wettbewerbsfähigkeit neu zu tarieren und trotzdem an Dekarbonisierungszielen festzuhalten. Im globalen Süden hingegen sind Versorgungslücken infolge des Ukraine-Kriegs zu einem hinderlichen Faktor in der Energietransformation geworden. Drittens prägten zwar vor dem Ukraine-Krieg die Klimapolitik sowie eine gerechte Energieversorgung die internationale Debatte um die Abkehr von fossilen Energieträgern, seit dem Krieg wird jedoch die Frage nach der Resilienz, Diversifizierung, Abhängigkeitsreduzierung und Sicherung zukünftiger grüner Energieversorgung verstärkt im Fokus stehen. Der Aufbau des Wasserstoffmarkts gewinnt dabei rasant an Bedeutung, insbesondere für Deutschland und Europa.
Insgesamt wird die Landkarte der neuen Energiewelt maßgeblich von China und den USA geprägt. Die Neukartierung entlang der Energiezukunftstechnologien (Strom, Wasserstoff, Batterien und deren Lieferketten) birgt Chancen und Risiken, insbesondere für den globalen Süden (vor allem Afrika), während sie den Osten und den postsowjetischen Raum zunehmend marginalisiert. Aufgrund der Abkehr von Russland und dem Aufbau der Wasserstoffökonomie müssen sich wiederum Deutschland und die EU häufiger mit autoritären Staaten als Energiepartnern auseinandersetzen. Abzuwägen sind Resilienz und Autarkie versus Abhängigkeiten und Partnerschaften. Gleichzeitig trifft die Schockwelle der Energiekrise die europäische Industrie, was die (geopolitische) Handlungsfähigkeit Europas zunehmend einzuschränken droht. Betroffen sind traditionelle Industrien, wie die Chemie- und die Stahlbranche, aber auch neue Wertschöpfungsketten wie jene für Wasserstoff und Batterien. Es gilt daher generell zu beobachten, inwieweit die Heterogenität und Fragmentierung der Energiesysteme und die Herausbildung hegemonialer Energieräume und -strukturen zunimmt. Unter diesen sich dynamisch verändernden Bedingungen stellen sich mehrere Fragen: Welche Auswirkungen haben volatile fossile Energiemärkte auf die Transformationsprozesse in anderen Weltregionen? Wie lässt sich eine Balance zwischen zeitkritischen Investitionen in die Infrastruktur, Steigerung der Energieeffizienz und ausreichender Versorgung finden? Wie können Deutschland und die EU trotz der Energiekrise ihre Technologieführerschaft bewahren und Schlüsselindustrien erhalten?
Der internationale Klimaprozess tritt 2024 in eine wichtige Phase ein: bei der 28. Vertragsstaatenkonferenz (COP 28) der VN-Klimarahmenkonvention (UNFCCC) im Dezember 2023 in Dubai wird der erste Global Stocktake (GST) zur Ermittlung des kollektiven Fortschritts bezüglich der Ziele des Pariser Abkommens abgeschlossen. Die bis 2025 einzureichenden nachgeschärften nationalen Beiträge sowie der im Rahmen des GST mögliche Beschluss eines »Sofortprogramms« müssten dann die aktuell bestehende massive Ambitions- und Umsetzungslücke schließen und dabei den Prinzipien der »just transition« gerecht werden. Eine Voraussetzung wird die Mobilisierung zusätzlicher Ressourcen sein, zum Beispiel im Rahmen multilateraler Klimapartnerschaften wie der Just Energy Transition Partnerships (JETPs) oder durch den neuen Loss and Damage Fund. Die Neuausrichtung der Klimafinanzierung nach 2025 wird maßgeblich von Fortschritten bei der Reform der internationalen Entwicklungsfinanzierung und Finanzarchitektur bestimmt werden, die auch die Verschuldungskrise und hohe Kapitalkosten in vielen Entwicklungsländern adressiert. Insbesondere mit Blick auf China wird entscheidend sein, wie die im Pariser Abkommen festgelegte gemeinsame, aber differenzierte Verantwortung zwischen Entwicklungs- und Industrieländern in Zukunft ausbuchstabiert wird. Somit gilt es zu untersuchen, wie plausible Szenarien für die Entwicklung der internationalen Klimapolitik bis 2030 aussehen werden.
Da zur Einhaltung der Klimaziele neben rascher und umfassender Reduktion der Treibhausgasemissionen mittlerweile auch die Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre (»carbon dioxide removal«, CDR) notwendig ist, nehmen die Ausarbeitung entsprechender Regulierungen, der Ausbau des Schutzes natürlicher Senken sowie der Fortschritt bei neuartigen CDR-Methoden an Bedeutung zu. Auch die Entwicklung im Bereich Carbon Capture and Storage (CCS) und der Kontroverse um die Rolle von CCS bei der Transformation des Energiesektors gerade für Länder, die reich an fossilen Ressourcen sind, werden in den nächsten Jahren zentrale Forschungsfelder sein. Richtungsweisende Diskussionen zu Themen wie dem Ausstieg aus fossilen Energien, CCS oder Maßnahmen wie CBAM und die Rolle von Handels- und Subventionspolitik bei der Etablierung grüner Industrien und Märkte werden in den G-Formaten erwartet. Brasilien hat 2024 die G20-Präsidentschaft und 2025 die COP-Präsidentschaft inne und wird damit in der internationalen Klimadiplomatie eine Schlüsselrolle einnehmen.
Wichtige Forschungsfragen sind in dem Zusammenhang: Welche Kooperationsformate ermöglichen angesichts multipler Krisen und systemischer Rivalität international noch klimapolitische Fortschritte? Wie können die in der deutschen Klimaaußenpolitik-Strategie umrissenen Beiträge Deutschlands in diesem Kontext möglichst wirkungsvoll umgesetzt werden?
Welche Beiträge können nichtstaatliche Akteure – trotz oder gerade wegen des geopolitisch angespannten Umfelds – zu globaler Kooperation leisten und in welchen Strukturen bzw. Prozessen ist es aussichtsreich, klimapolitische Ziele voranzutreiben?
In den Jahren 2024 bis 2026 befinden wir uns in der Mitte der 2019 von der VN-Generalversammlung ausgerufenen »Dekade der Umsetzung« der Agenda 2030 und der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs). Die Daten der vorliegenden Fortschrittsberichte zeigen, dass die Zielerreichung nicht nur gefährdet ist, sondern in vielen Bereichen Entwicklungen sogar rückläufig sind. Ihren Anteil daran haben die Pandemie, Naturkatastrophen und Konflikte, vor allem der russische Angriffskrieg mit all seinen Folgen; mitverantwortlich sind aber auch nationale Fehlentscheidungen. Im September 2023 haben die Staats- und Regierungschefs auf dem SDG-Gipfel vereinbart, überarbeitete nationale Strategien vorzulegen, wie sie die SDGs schneller erreichen wollen. Parallel soll die multilaterale Unterstützung hochgefahren werden, vor allem in der Form von Finanzierung, aber auch durch mehr Digitalisierung, Bildung, Prävention – Themen, die beim 2024er VN-Zukunftsgipfel behandelt werden. Das jährlich tagende VN-Hochrangige Politische Forum für nachhaltige Entwicklung wird all das nachhalten müssen; seine Arbeitsmethoden sollen Anfang 2024 erneut auf den Prüfstand.
Die durch die Covid-Pandemie stark angetriebene globale Verschuldung belastet insbesondere Schwellen- und Entwicklungsländer. Es bleibt zu untersuchen, ob sich die enorme Schuldenlast im Verhältnis zur Wirtschaftskraft dieser Länder zu größeren regionalen oder sogar überregionalen Finanzkrisen auswächst. Gut zwei Dutzend dieser Länder sehen einer »ver-lorenen Dekade« mit hoher Verschuldung und Inflation, niedrigem Wachstum, hoher Arbeitslosigkeit, fehlenden Investitionen und Entwicklungsperspektiven entgegen. Gleichzeitig stehen ärmere Länder vor wachsenden Herausforderungen, die mit der umwelt- und klimapolitischen Transformation ihrer Volkswirtschaften verbunden sind. Für die notwendigen Investitionen in die Infrastruktur, den Umbau des Energiesystems und im weiteren Sinne auch für die Umsetzung der Ziele nachhaltiger Entwicklung stehen ihnen jedoch bisher keine ausreichenden finanziellen Mittel zur Verfügung. Hier bleibt zu untersuchen, inwiefern insbesondere die verschiedenen Gläubiger-Staaten (Pariser-Club-Mitglieder, China) bereit sind, ärmere Länder bei einem Abbau der Schuldenlast zu unterstützen. Wie kann in einzelnen Fällen eine geordnete Schuldenumstrukturierung gelingen, auch um eine Ausbreitung auf andere Länder zu verhindern? In wieweit kann eine Reform der internationalen Finanzinfrastruktur, insbesondere die Modernisierung der Förderinstrumente der Weltbank, dazu beitragen, insbesondere den ärmsten Ländern, »grüne« Infrastrukturinvestitionen zu ermöglichen und auch private Investitionen anzustoßen (Green Finance)?
Deutschland und die EU werden mit starker Zuwanderung rechnen müssen, der demografisch bedingte Arbeitskräftemangel wird sich weiter verschärfen, und die Integration der Zugewanderten wird zusätzliche Anstrengungen verlangen. Im europäischen und internationalen Kontext steht die Bundesregierung vor Veränderungen, die die Entwicklung neuer Politikansätze erfordern.
Erstens steht Deutschland mit seiner bislang offenen Migrationspolitik zunehmend im Gegensatz zu restriktiven Entwicklungen in anderen EU-Mitgliedstaaten. Es ist zu erwarten, dass vor allem EU-Staaten mit starken populistischen und xenophoben Kräften noch intensiver darauf hinwirken wollen, die Zuwanderung zu reduzieren und das Asylrecht weiter einzuschränken. Gleichzeitig nimmt die Konkurrenz unter den Mitgliedstaaten um dringend benötigte Arbeitskräfte zu. Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) bleibt eine zentrale Herausforderung. Trotz des Kompromisses vom Juni 2023 sind die Kontroversen um die Verantwortungsteilung und die Seenotrettung nicht beigelegt. Zu fragen ist, ob und wie das von der EU-Kommission im September 2020 vorgeschlagene Asyl- und Migrationspaket realisiert werden kann, das auf einen Ausgleich zwischen restriktiven und menschenrechts-orientierten Regelungen zielt und nicht einseitig auf Abschottung setzt. Im Umgang mit den aus der Ukraine Geflüchteten und deren temporärem Schutzstatus gibt es aufgrund der ungleichmäßigen Betroffenheit der EU-Staaten höchst unterschiedliche nationale Interessenlagen. Auch hier sind europäische Lösungen nicht ohne eine hinreichende Berücksichtigung der Position Deutschlands vorstellbar.
Zweitens werden sich in globaler Hinsicht die politischen Kräfteverhältnisse zwischen Herkunfts-, Transit- und Aufnahmeländern weiter verschieben. Einige Herkunftsländer werden an Verhandlungsmacht gegenüber Deutschland und der EU gewinnen, weil sie über international begehrte Fachkräfte verfügen oder weil sie in der Lage sind, irreguläre Migrationsbewegungen in Richtung EU zu unterbinden. Der Umgang mit Herkunfts- und Transitstaaten erfordert eine aktive Migrationsaußenpolitik – insbesondere im Hinblick auf autoritäre Regime, die Flucht und Migration zu instrumentalisieren versuchen und dabei erhebliche Verhandlungsmacht und Erpressungspotential erreichen können. In diesem Zusammenhang wird sich die Bundesregierung insbesondere damit auseinandersetzen müssen, wie wirkungsvolle und nachhaltige bilaterale Migrationspartnerschaften und Abkommen zur Arbeitskräfteanwerbung gestaltet werden können, in welcher Verbindung diese zu den entsprechenden EU-Instrumenten stehen und welche Rolle dabei die in Drittstaaten wie Ghana und Marokko geplanten Zentren für Migration und Entwicklung spielen können.
Drittens drohen eine Schwächung des globalen Flüchtlingsschutzes und eine Stagnation bei der Verbesserung der internationalen Standards für die Arbeitsmigration. Mit welchen Kooperationsansätzen und Instrumenten könnte die Bundesregierung diesen Entwicklungen entgegenwirken, und in welchen Bereichen und was sind prioritäre Bereiche?
Viertens werden – neben Gewalt und Fragilität – die Auswirkungen des Klimawandels immer wichtigere Triebkräfte für das weltweite Wanderungsgeschehen. Zusätzliche Investitionen in eine vorausschauende Krisenfrüherkennung können die Vorbereitung auf und den Umgang mit künftigen Fluchtbewegungen unterstützen. Ein wichtiges Ziel wäre, migrations- und klimapolitische Maßnahmen künftig enger aufeinander abzustimmen. Unter welchen Bedingungen können Evakuierungen und Umsiedelungen angemessene Maßnahmen zum Umgang mit klimawandelbedingter Vertreibung darstellen und wie sind diese entwicklungsorientiert und menschenrechtskonform zu begleiten?
Fünftens steigt mit der Komplexität der Aufgaben in der Migrationsaußenpolitik die Notwendigkeit einer ressortübergreifenden Zusammenarbeit, insbesondere wenn die Ausgestaltung der Asyl- und Migrationspolitik den Ansprüchen einer menschenrechtlich orientierten Außen- und Entwicklungspolitik genügen soll. Welche Ministerien müssten regelmäßig eingebunden werden, und inwiefern kann die Arbeit des neu geschaffenen Sonderbevollmächtigten der Bundesregierung für Migrationsabkommen zu ressortkohärentem Handeln beitragen?
ASAP | Act in Support of Ammunition Production |
ASEAN | Association of Southeast Asian Nations |
AU | Afrikanische Union |
AUKUS | Australia, United Kingdom, United States |
AVV | Atomwaffenverbotsvertrag |
BRI | Belt and Road Initiative |
BRICS | Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika |
BWÜ | Übereinkommen über das Verbot bakteriologischer, biologischer und toxischer Waffen |
CBAM | Carbon Border Adjustment Mechanism |
CCS | Carbon Capture and Storage |
CDR | carbon dioxide removal |
CIR | Cyber- und Informationsraum |
COP 28 | 28. Vertragsstaatenkonferenz |
CPTPP | Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership |
CWÜ | Chemiewaffen-Übereinkommen |
EDIP | European Defence Investment Programme |
EDIRPA | European Defence Industry Reinforcement through common Procurement Act |
EP | Europäisches Parlament |
EPG | Europäische Politische Gemeinschaft |
ESSI | European Sky Shield Initiative |
EU | Europäische Union |
EUMA | EU Mission in Armenia |
EVP | Europäische Volkspartei |
EZB | Europäische Zentralbank |
FCAS | Future Combat Air System |
G7 | Gruppe der Sieben (die sieben führenden westlichen Industriestaaten) |
G20 | Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer |
GDI | Global Development Initiative |
GEAS | Gemeinsames Europäisches Asylsystem |
GST | Global Stocktake |
GSVP | Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik |
IGAD | Intergovernmental Authority on Development |
INF | Intermediate-Range Nuclear Forces |
IS | »Islamischer Staat« |
IWF | Internationaler Währungsfonds |
JCPoA | Joint Comprehensive Plan of Action |
JETPs | Just Energy Transition Partnerships |
KI | Künstliche Intelligenz |
KPCh | Kommunistische Partei Chinas |
KSE | (Vertrag über) Konventionelle Streitkräfte in Europa |
MGCS | Main Ground Combat System |
Nato | North Atlantic Treaty Organization |
NVV | Nichtverbreitungsvertrag |
OECD | Organisation for Economic Co-operation and Development |
OK | organisierte Kriminalität |
OSZE | Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa |
P5 | Permanent Five (die fünf ständigen Mitglieder im VN-Sicherheitsrat) |
PiS | Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit; Polen) |
RCEP | Regional Comprehensive Economic Partnership Agreement |
SDG | Sustainable Development Goal |
UNFCCC | United Nations Framework Convention on Climate Change (VN-Klimarahmenkonvention) |
VAE | Vereinigte Arabische Emirate |
VK | Vereinigtes Königreich |
VN | Vereinte Nationen |
WHO | World Health Organization |
WTO | World Trade Organization |