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Die EU zur Lebensversicherung machen

Deutsche Europapolitik in Zeiten des Umbruchs

SWP-Aktuell 2025/A 20, 25.04.2025, 8 Seiten

doi:10.18449/2025A20

Forschungsgebiete

Das internationale und europapolitische Umfeld Deutschlands verändert sich dras­tisch. Dies erfordert auch ein Umdenken in der deutschen Europapolitik. Für Deutsch­land wird die EU als schlagkräftige Handlungsgemeinschaft noch wichtiger. Sie sollte zu einer wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Lebensversicherung fortentwickelt werden. Im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD nehmen die künftigen Regierungs­parteien für Deutschland eine mit Pragmatismus praktizierte Führungsrolle in der Europapolitik in Anspruch. Um dieses Ansinnen mit Leben zu füllen und jene Schlüsselpolitiken voranzubringen, die für die Selbstbehauptung der Europäer zentral sind, sollte die Bundesregierung eine Führung anbieten, die sich durch eine verbesser­te europapolitische Koordination auszeichnet, in eine erweiterte Partnerschaftsstrategie eingebettet ist und die Handlungsfähigkeit der Union insgesamt stärkt.

Der Kollaps transatlantischer Gewissheiten in Verbindung mit der anhaltenden rus­si­schen Bedrohung verlangt von Deutschland und seinen transatlantisch sozialisierten Eliten ein prinzipielles Um­denken. Es sind die Europäische Union und die Zusam­men­arbeit mit Schlüsselpartnern, durch die künftig Sicherheit, Wohlstand und Freiheit gewährleistet und Solidarität zwischen Staaten und Gesellschaften hergestellt werden müssen.

Deutsche Europapolitik sollte nicht län­ger an einem Status quo festhalten, den es nicht mehr gibt, oder sich darin erschöp­fen, die EU zusammenzuhalten. Deutschland sollte sein Gewicht mit Nachdruck ein­bringen, um die EU zur Lebensversicherung für alle Mitgliedstaaten zu machen und so auch zum star­ken Partner für Nachbar­länder zu werden.

Das erfordert umfassende politische und finanzielle Investitionen zum Schutz der Sicherheit, der wirtschaftlichen Wett­bewerbs­fähigkeit und des europäischen Gesellschafts- und Demokratiemodells. Die EU ist der Grundstein für eine strategische Auto­nomie Europas – verstanden als die »Fähig­keit, eigene außen- und sicher­heits­politi­sche Prioritäten zu setzen und Ent­schei­dun­gen zu treffen, sowie die institu­tionellen, politi­schen und materiellen Vor­aussetzun­gen, um diese in Kooperation mit Dritten oder, falls nötig, eigenständig um­zusetzen« (so die Definition in SWP-Studie 2/2019). Es gilt, mehr in gemeinsame öffent­liche Güter zu investieren und den Rahmen für eine wettbewerbsfähige, moderne euro­päische Wirtschaft zu schaffen.

Zwar ist die EU für Deutschland schon lange die zentrale Plattform, um regionale und globale Regelwerke zu entwickeln und so seine Inter­essen weltweit zur Geltung zu bringen. Die Politikfelder, die hauptsächlich über die EU gestaltet werden, reichen von Handel und Außenwirtschaft über Klima und Umwelt, Energie- und Rohstoffsicherung, Gesundheit, Cybersicherheit, Künstliche Intelligenz (KI) und Digitalisierung bis hin zur klassischen Diplomatie und Konfliktregulierung. Doch geopolitische und macht­politische Strategien, die auf Drohungen, militärische Gewalt und territoriale Expansion setzen, fordern diesen kooperativen Multilateralismus bzw. die EU-Gemeinschaftsmethode mehr denn je heraus.

Die neue Bundesregierung umreißt in ihrem Koalitionsvertrag eine Europapolitik mit viel Pragmatismus, beachtlichem Füh­rungsanspruch und ohne große Vision. Ihre Leitlinie sind Selbstbehauptung und strate­gische Autonomie. Dass sie kaum rote Linien zieht, zeigt, dass sie sich den hierfür nötigen Handlungsspielraum erhalten will.

Tektonische Veränderungen innerhalb der EU

Zur Bewertung dieses Führungsanspruchs gehört ein Blick auf die neuen Kräfte­verhältnisse in der EU. Die Verteilung von Macht und Einfluss innerhalb der Gemeinschaft hat sich zuun­gun­sten des klassischen Kraftzentrums, ins­besondere des deutsch-französischen Duos und deutscher Gestal­tungsfähigkeit, ver­ändert. Hatte die Ost­erweiterung der EU zunächst eine neue Peripherie im Osten geschaffen, die Finanz­krise das deutsche Ge­wicht verstärkt und die südlichen Euro-Staaten geschwächt und hatte der Brexit auf den ersten Blick dem deutsch-franzö­sischen Paar mehr relative Stärke zukommen las­sen, so hat sich das Verhältnis zwi­schen Zentrum und Rändern zwischenzeitlich neu sortiert. Dies hat vor allem mit drei Entwicklungen zu tun:

Neue politische Mehrheiten in Europa

Erstens ist das Erstarken »europaskeptischer« oder national-souveränistischer Strömungen mittlerweile ein Phänomen, das den poli­tischen Alltag in der EU als Ganzes prägt. Heute sind in 24 von 27 EU-Staaten (allen außer Irland, Malta und Slowenien) Rechts­außen-Parteien in nationalen Parlamenten vertreten. Zwei nationale Regierungen werden von Rechtsaußen-Parteien toleriert (Frankreich, Schweden), in dreien sind sie als Junior-Partner beteiligt (Finnland, Kroa­tien, Slowakei) und in fünf führen sie die Regierung an (Belgien, Italien, Niederlande, Tschechien, Ungarn). Darunter praktizieren einige einen moderat-konstruktiven Kurs nach dem Muster der national-konservativen Fraktion »Europäische Konservative und Reformer« (EKR) im Europäischen Parlament (EP), andere sind klar auf Anti-EU-Kurs, wie ihn die Fraktion »Patrioten für Europa« ver­folgt (siehe SWP-Aktuell 8/2024).

Anders betrachtet: Auch wenn Rechtsaußen-Parteien keinen Block bilden, kom­men viele Entscheidungen der EU nur noch mit ihrer Zustimmung zustande. Sie sind bei Beschlüssen und Gesetzgebungsverfahren mit qualifizierter Mehrheit ebenfalls eine relevante Größe, wenn auch noch ohne Sperrminorität. Im EP gibt es nicht nur eine rechnerische Mehrheit von Rechtsaußen- und Mitte-rechts-Parteien. Sie stimmten in der aktuellen Legislaturperiode auch schon drei­mal gemeinsam ab.

Die neuen Mehrheitsverhältnisse bringen die Europäische Volkspartei (EVP) in eine zentrale Stellung. Im Europäischen Rat ge­hören elf Staats- und Regierungschefs zur EVP-Parteienfamilie (Deutschland nicht mit­gerechnet); in der EU-Kommission sind der EVP 13 von 27 Mitgliedern zuzurechnen. Im Parlament kann die EVP zwischen zwei Mehrheitsoptionen (nach links oder nach rechts) wählen.

Neue Trennlinien und Koalitionen

Zweitens hat der Krieg in der Ukraine neue Trennlinien, aber auch Kooperationsdynamiken geschaffen. Im Schatten der russi­schen Bedrohung, die aber nach wie vor unterschiedlich empfunden wird, wurden mehrere Mitgliedstaaten zu sicherheits- und verteidigungspolitischen Taktgebern.

Dabei ergaben sich neue Zentren und Koalitionen: etwa ein nordöstliches, sicher­heitspolitisch motiviertes Konglomerat im weiteren Ostseeraum (Polen, nordisch-balti­sche Staaten), aber auch eine lockere wirt­schafts- und handelspolitische Interessen­koalition östlicher und südlicher Mitgliedstaaten unter Einschluss Frankreichs. Der noch weiter verstärkte Fokus auf Sicherheit und Verteidigung infolge des Wegbrechens der transatlantischen Partnerschaft wird diese Verschiebung der Kräfteverhältnisse verstärken. Ausgaben für Verteidigung, die Stärke der Rüstungsindustrie und militärische Fähigkeiten – etwa die französischen Nuklearkräfte – werden zu einem wich­tigeren Machtfaktor in der EU.

Drittens haben sich im Zuge des Umbaus von Industrien, der klimaorientierten Trans­formation und glo­baler Handelskonflikte strukturelle ökonomische Rahmenbedingungen verändert. Deutschland, das gerade im Kontext der Finanzkrise und danach seine ökonomische Stärke gestalterisch nutzen konnte, muss sich nun mit Ländern aus dem Osten (Polen und andere ostmittel- und südosteuropäische Staaten) oder dem Süden (Spanien) auseinandersetzen, die gestützt auf resiliente und wachstums­stärkere Ökonomien mehr politische Mit­sprache einfordern.

Von der rabiaten und sich ständig ändern­den Zollpolitik des US-Präsidenten sind die EU-Staaten unterschiedlich stark betrof­fen. Deutschland gehört hier zu den Mit­gliedern mit den größten Vulnerabilitäten und muss daher in vielen Hauptstädten frühzeitig Überzeugungsarbeit leisten, um politische Unterstützung für eventuelle Gegenmaßnahmen zu sichern. Der techno­logische Wandel bedroht auch europäische und deutsche Schlüsselindustrien. Er ver­stärkt die Un­sicherheit darüber, welche wirtschafts- und industriepolitischen Inter­essen in der EU noch geteilt werden. Jeden­falls verblassen die scharfen Trennlinien zwischen ordoliberalen und etatistisch orien­tierten Staaten.

Zusammengenommen führen diese drei Trends dazu, dass sich jenseits von Deutsch­land bzw. von Deutschland und Frankreich, die sich ihrerseits dem Vorwurf der Füh­rungsschwäche und Selbstbezogenheit aus­gesetzt sehen, die Gestaltungsoptionen er­weitern.

Gleichzeitig eröffnen sich durch die Un­gewissheiten in Bezug auf das transatlan­tische Verhältnis und aufgrund von welt­anschaulichen Parametern neue Einflussmöglichkeiten für externe Akteure. Denn die USA bleiben zwar Partner der EU, wer­den aber zunehmend auch zu deren Rivalen und Gegner. Souveränistische und natio­nalistische Regie­run­gen verspüren eine ideo­logische Nähe zur jetzigen US-Adminis­tration. Europäische Staaten, die bisher pri­mär auf die Nato und US-Sicherheits­garan­tien gesetzt haben, könnten bei gezielten Spaltungsversuchen und trans­aktionalen Angeboten der Trump-Administration die jahrzehntelang gewachsene verteidigungspolitische Verquickung mit den USA neuen EU‑Initiativen für eine eigenständigere Ver­teidigungspolitik vorziehen. China bietet sich mehr denn je als Alternative zur hege­monialen US-Ordnung an und versucht, seinen wirtschaftlichen Einfluss weiter in vielen Branchen und durch Investitionen in Verkehrs- und andere Infrastrukturen aus­zuweiten. Russland wiederum kann nicht nur auf antiwestliche Strömungen weltweit setzen, sondern auch auf einige wenige europäische Staats- und Regierungschefs, die – mit Blick auf die Annäherung zwi­schen Washington und Moskau – eben­falls eine »Normalisierung« des Wirtschafts­austauschs anstreben.

Thematisch flexible Partner­schaften für europapolitische Interessen

Deutschlands aktuelle europapolitische Kern­interessen bestehen vornehmlich darin, die Widerstands- und Verteidigungskraft der EU zu verbessern, die Wettbewerbs­fähigkeit der deutschen Industrie und Wirt­schaft bzw. der europäischen Volkswirtschaf­ten zu erhöhen, Deutschlands Han­delsinteressen als Exportnation abzusichern und Kontrolle über Migrationsströme zu gewinnen. Um diese Inter­essen zu verfol­gen, muss Deutschland Füh­rung anbieten und neue Koalitionen für Vorstöße, auch risikobehaftete, schmieden, anstatt primär reaktiv einen mutmaßlichen europapoliti­schen Konsens zu organisieren.

Im volatilen auswärtigen wie innereuropäischen Umfeld erfordert dies ambitionierte, agilere und thematisch fokussierte Part­ner­schaftsstrategien. Deutschland muss wei­terhin in alle Richtungen anschlussfähig blei­ben, im Zweifel aber Wirkung und vor­wärtsgerichtete Koalitionen (»Coalitions of the willing«) priorisieren. Funktionale Fort­schritte haben Vorrang gegenüber EU-weitem maximalen Zusammenhalt.

E5+1 in der Sicherheitspolitik

In der Sicherheitspolitik geht es darum, mög­lichst zügig rüstungsindustrielle Kapazitä­ten zu generieren, militärische Fähigkeiten aufzubauen und nach außen – sei es gegen­über Russland oder den USA – Krisen­reak­tionsfähigkeit, Glaubwürdigkeit und Ge­schlossenheit zu demonstrieren. Die Gruppe der fünf europäischen »Schwergewichte« (Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Polen) plus die EU-Außenvertretung, ergänzt um Großbritannien, weist hierfür die nötige normative Breite und das vertei­digungspolitische, rüstungsindustrielle und militärische Potential auf. Das Format der E5+1/Weimar Plus sollte auf Ebene der Staats- und Regierungschefs ad hoc und in­formell tagen, um Entscheidungen schnell auf den Weg zu bringen. Die Gruppe könn­te auch wie die E3 bei den Verhand­lungen über eine Atomvereinbarung mit Iran ins Spiel kommen, wenn sie eine treuhände­rische Rolle für die Europäer wahrnimmt.

Die E5+1 wären nützlich als ein Format zur Abstimmung über große Linien und diplomatische Initiativen. Dies gilt ins­beson­dere im Hinblick auf die Konsolidierung einer europäischen Position in der Nato. Das E5+1-Format sollte allerdings nicht zur Dauernebenstelle des Europäischen Rats oder zu einem Direktorat wer­den. Die Dis­kus­sion über einen euro­päischen Sicherheitsrat wird aber Fahrt auf­nehmen. Daran sollte sich Deutschland zwar ergebnisoffen beteiligen; besser als eine pri­mär institutionelle Debatte wäre aus deut­scher Sicht jedoch zunächst eine pragmatische Nutzung des E5+1-Formats, zu dem je nach Bedarf und Fokus andere europäische Staaten hinzustoßen könnten.

Für die Umsetzung von Schlussfolgerungen oder Beschlüssen der Regierungen ist das EU-System fast immer unabdingbar. Auch deshalb sind die EU-Spitzen, die Hohe Vertreterin, die Kom­missionspräsidentin und der Präsident des Europäischen Rats an Treffen und Prozessen der E5+1 zu betei­ligen. Kleinere Staaten oder deren Fürsprecher (z. B. Repräsentanten der Nordic-Baltic Eight) sollten immer dann hinzukommen, wenn dies in der Sache begründet ist. Da­mit wird auch nach außen ein Signal der Ein­bindung gesendet. Deutschland kann inner­halb dieses Formats allein initiativ werden oder gemeinsam mit Frankreich bzw. Polen oder mit beiden (Wei­marer Dreieck) eine Taktgeberrolle ein­nehmen.

Wettbewerbspartnerschaften in der Wirtschaftspolitik

In der europäischen Wirtschaftspolitik ist der Weg, der durch den Kompass für Wett­bewerbsfähigkeit grob vorgegeben ist, kon­sequent weiterzuverfolgen. Hinsichtlich von Fragen der Wettbewerbsfähigkeit sollte Deutschland Allianzen mit Mitgliedstaaten suchen, denen an der Stärkung klassischer Indus­triezweige gelegen und mit denen die deutsche Wirtschaft eng verbunden ist (Ostmitteleuropa, Rumänien). Parallel wäre eine intensive Abstimmung mit Ländern an­zu­streben, die offen für eine aktive Indus­trie­politik sind, etwa Frankreich und Italien (Neufassung des deutsch-französischen Manifests für Industriepolitik und der tri­lateralen Ab­stimmung Deutschland-Frank­reich-Italien). Ein dritter Strang sind Part­ner­schaften mit Ländern, die hohe Innovations­potentiale besitzen (nordeuropäische Län­der, baltische Staaten, Niederlande, Irland bzw. generell »Neue Hanse«). Mit Blick auf die Verhandlungen zum Mehrjährigen Finanz­rahmen (MFR) sollte frühzeitig ein Inter­essenabgleich mit »frugalen« Ländern aus Nordeuropa, mit den Niederlanden und Österreich gesucht werden.

Auch bei Fragen der Handelspolitik und der internationalen Wirtschaftspolitik wird sich Deutschland nicht auf dauerhafte Mehr­heitskoalitionen stützen können. Spal­tungsversuche von außen (etwa seitens der USA), unterschiedliche Interessen (Ex­port­abhängigkeit gegenüber China und anderen Märkten) oder abweichende Inter­pretatio­nen der internationalen Ordnung (Ungarn, Slowakei) werden es auch hier unvermeidlich machen, punktuelle und temporäre Partnerschaften zu suchen. Ungeachtet ihres ökonomischen Kerns wird die EU ihre Handels- und Wirtschaftspolitik in einem globalen Umfeld in Teilen geopolitisieren und versicherheitlichen müssen. Deutschland sollte diesen Kurs nicht nur qua Wirt­schaftsmacht mitbestimmen, sondern auch politisch gestalten.

Asyl- und Migrationspolitik stabilisieren

In der europäischen Migrationspolitik ist die Dynamik unübersichtlich. Hier gelten schon lange keine klaren Trennlinien mehr zwischen nördlich-nordwestlichen und süd-süd­östlichen Mitgliedstaaten. Auch seit der Verab­schiedung des Pakts für Migration und Asyl haben diverse Koalitionen, an­geführt oder inspiriert von Staaten wie Italien, Dänemark, Polen oder Griechenland, zahlreiche neue Vorschläge und Initiativen eingebracht. Deutschland sollte dagegen als Stabilitätsanker fungieren und die Umsetzung bereits be­schlossener Maß­nahmen zur besseren Migrationssteuerung priorisieren.

Diese Position bleibt herausfordernd. Differenzen bei der Umsetzung einer ver­schärf­ten Migrations- und Asylpolitik werden fortbestehen, insbesondere mit Blick auf Zurückweisungen an Binnen­grenzen und auf weitere restriktive Ent­wicklungen auf EU-Ebene, wie die Einrichtung von Rückkehrzentren in Drittstaaten oder die Suspendierung von Asylanträgen an EU-Außengrenzen. Das essentielle Inter­esse Deutschlands an einer stabilen und funktionierenden Schengenzone steht an erster Stelle. Gleichzeitig ist mehr Druck auf andere EU-Staaten dahingehend aus­zuüben, dass sie das geltende Recht, auch in Fragen der Verantwortungsteilung für Schutzsuchende, stringent ausüben. Eine verhältnismäßige Verschärfung und Ver­tiefung der EU-Rückführungspolitik kann hier dazu genutzt werden, zu mehr inner­europäischer Kooperation zurückzufinden, insbesondere mit Italien.

Kooperationsstrategien

Der Transfer von Zuständigkeiten und Ver­tragsänderungen sind für Deutschland kein Tabu, wenn dadurch Handlungsfähigkeit und Legitimität der EU gestärkt werden kann. Viele Mitgliedstaaten lehnen die Ent­wicklung der EU zur Politischen Union generell ab. Sie werden aber, anders als Großbritannien, nicht (freiwillig) austreten. Deutschland wird also auch auf »schwierige Partner« individuell zugehen müssen. Die Zusammenarbeit mit solchen »non-like-minded states« erfordert ein differenziertes Vorgehen. Ungeachtet dessen kann die fall­weise Einbindung »Andersdenkender« aber auch deren Drang minimieren, Koalitionen oder Blöcke gegen Deutschland zu bilden. Hier sollte die Bundesregierung die Diffe­renzen zwischen verschiedenen Rechts­außen-Parteien nutzen, auch indem weiter­hin eine klare Linie zu radikalen Anti-EU-Parteien gezogen wird.

Darüber hinaus bleibt die Daueraufgabe, kleinere Mitgliedstaaten an- und einzubinden. Die neue Relevanz von Sicherheit in der europäischen Politik geht oft einher mit der Prävalenz verteidigungspolitisch, rüs­tungswirtschaftlich oder militärisch starker, also größerer Staaten. Deutschland kann durch das Zugehen auf kleine Partner gerade in dieser Frage nicht nur Einheit stiften, son­dern auch seine Glaubwürdigkeit er­höhen und seine Führungschancen ver­bessern. Hierfür müssen bilaterale Dialog­formate gefestigt und europa- und sicher­heitspolitisch eingerahmt werden.

Flankierung durch starke EU‑Institutionen und nationale Koordination

Eine handlungsfähige EU benötigt starke Institutionen. Diese schützen auch – vor allem da, wo nicht Einstimmigkeit herrscht – vor politischen Krisen einzelner Mit­gliedstaaten. Dabei gilt es gleicher­maßen anzuerkennen, dass die Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten gerade in der aktuellen Drucksituation nicht nur einen großen Integrationssprung hin zu einem föderalen Bundesstaat ablehnt, sondern auch Ver­tragsänderungen. Politische Ziele, die im Koalitionsvertrag niedergelegt sind, wie die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen (siehe SWP-Aktuell 24/2024) oder institutio­nelle Reformen zur Vorbereitung der nächsten Erweiterung, bleiben langfristige Projekte. Ohnehin fügen sich die Positionen der neuen Regierung zur EU-Erweiterung in den pragmatisch-gradualistischen Gesamtduktus ein. Berlin setzt vor allem auf die faktische Integration auch vor der Vollmitgliedschaft. Im Zuge der Krisen der letzten Jahre hat sich das EU-System auch ohne Vertrags­änderungen fortentwickelt, ein Aspekt, den Deutschland in seiner Europa­politik in Rechnung stellen sollte (siehe SWP-Studie 11/2024). Der Europäische Rat ist zum politischen Zentrum der EU ge­worden. Entweder gelingt den 27 dort die konsensuale Beschlussfassung oder diese scheitert bzw. wird auf die lange Bank ge­schoben. Wie der Bundeskanzler im Euro­päischen Rat auftritt, welchen Ton er setzt und welche Inhalte er vertritt, bestimmt zu einem großen Teil, wie die deutsche Euro­pa­politik von den Peers in Brüssel und der Öffentlichkeit wahrgenommen wird.

Europapolitische Koordinierung stärken

Die neue Bundesregierung will die europa­politische Koordinierung verbessern. Der Chef des Bundeskanzleramts soll wöchentlich ein »EU-Monitoring« in der Runde der beamteten Staatssekretäre abhalten, um Ressortkonflikte über EU-Vorhaben früh­zeitig zu identifizieren und zu entschärfen. Übergreifende Themen wie der MFR oder die neuen rüstungspolitischen Initiativen der EU sollten direkt im Kabinett besprochen werden. Dies ist mindestens so wichtig wie die Fortentwicklung des Bundessicherheitsrats zum nationalen Sicherheitsrat.

Denn das Phänomen des »German Vote«, also die Enthaltung aufgrund koalitions­interner und ressortbedingter Differenzen, aber auch das späte Ändern von Verhandlungspositionen infolge interner Streitig­keiten, hat nicht nur deutschen Interessen in Brüs­sel geschadet. Als ein Akteur, an dem sich viele seiner Partner orientieren, hat Deutschland da­mit die Beschluss­fassung in – bedeutenden – Einzelfällen stark erschwert. Der Chef des Bundes­kanzleramts müsste als Oberkoordinator der EU-Dossiers eng mit dem Sherpa des Bundeskanzlers zusammenarbeiten, der die Sitzungen des Europäischen Rats und etwa der G7 vorbereitet. Dieser wäre auch ein zentraler Gesprächspartner für die Sherpas der anderen EU-Regierungschefs. In enger Abstimmung mit der ständigen Vertretung in Brüssel sollten die Koordinatoren der deutschen Europapolitik koalitionsinterne Differenzen somit früh ausräumen und auch gemeinsam mit Partnern Initiativen ergreifen (oder verhindern).

Führung mit der EU-Kommission

Die Kommission von der Leyen II ist mit einem Machtzuwachs an den Start gegan­gen, der sich aus den Krisen der letzten Dekaden und der relativen Schwäche des deutsch-französischen Tandems speist. Zugleich ist das Misstrauen vieler Mitgliedstaaten gegenüber der Kommission ge­wachsen. Grundlegende Reformen des EU‑Haushalts, neue Fonds für die Verteidigungspolitik und Befugnisse zur Mittel­verteilung und Ausgabenkontrolle könnten die Stellung der Kommission gegenüber den Mitgliedstaaten noch verstärken.

Was Aufgaben angeht, bei denen die Kommission EU-intern als neutraler Schieds­richter auftritt, sollte Deutschland aber darauf drängen, entsprechende Vorgänge innerhalb der Kommission möglichst von der zunehmenden Politisierung ihrer Füh­rung abzuschirmen. Dies betrifft unter anderem die Einleitung und konsequente Durchführung von Vertragsverletzungs­verfahren. Gleichzeitig ist auch die Zusam­menarbeit mit dem Europäischen Parlament komplexer geworden. Dessen wechselnde Mehrheiten schaffen nun mehr Unsicherheiten, bieten aber bei Gesetzgebungs- und Haushaltsverhandlungen, etwa zur Stär­kung der Wettbewerbsfähigkeit, auch Spiel­räume zur Bildung neuer Koalitionen.

Vor allem die großen Entscheidungen zu zentralen Vorhaben – in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit, die Klima- und die Migrationspolitik – sollten unter deutscher Mitführung umsichtig und früh vorbereitet werden, um die Kommission an einen robusten Konsens unter den Mitgliedstaaten rückzubinden und ihre Arbeit stärker zu legitimieren. Die Kommission sollte ins­besondere darauf hinarbeiten, dass ihre Vor­schläge im Rat und im EP stabile Mehr­heiten ohne radikale und Anti-EU-Parteien finden. Als Mitglied des Europäischen Rats kann die Kommissionspräsidentin früh­zeitig in einen solchen politischen Konsens eingebunden werden und Hinweise auf die betreffende Grundrichtung erhalten.

Die Bundesregierung sollte der Präsidentin auch signalisieren, dass die mit Doppel­hut ausgestattete Hohe Vertreterin Kaja Kallas umso wirkungsvoller nach außen auftreten und im Namen der 27 sprechen kann, je stärker ihre Rolle im Innern ist. Da­her müssen die Dossiers für das Aus­wärtige Handeln bei ihr zusammenlaufen. Auch im Hinblick auf Ratspräsident António Costa muss eine pragmatische und für Außen­stehende einsichtige Rolle als Vertreter der EU auf oberster Ebene gefunden werden, wenn das Format E5+1 ins Spiel kommt, also etwa gegenüber den USA und bei den Verhandlungen mit der Ukraine.

Für einen pragmatischen, aber beherzten Funktionalismus

Für die EU bricht mit dem Ende der Pax Ame­ricana (siehe SWP-Studie 3/2025) eine neue Zeitrechnung an. Es ist ein essentielles deutsches Interesse, die EU zur zentralen Lebensversicherung für Sicherheit, wirt­schaftliche Wettbewerbsfähigkeit und auch für den Schutz der nationalen Verfassungs­ordnung fortzuentwickeln. Das muss zügig und nach Politikfeldern differenziert ge­schehen.

Deutschland hat die bestehenden Institutionen, Verfahren und Politikfelder der EU in beträchtlichem Maße mitgestaltet. Sie reflektieren traditionelle deutsche Präferenzen und sind das Ergebnis eines stetigen deutschen Engagements im Rahmen von Vertragsänderungen und Erweiterungen der EU. Deutschland hat auf diesem Weg viel erreicht und viel zu verlieren. Deshalb tritt es oft als Status-quo-Macht auf, die den Besitzstand verteidigt und sich um den Zu­sammenhalt, das heißt die Funktionsfähigkeit der EU sorgt. So stützte die Bundes­regierung bei den Brexit-Verhandlungen konsequent die Linie von EU-Unterhändler Michel Barnier und wehrte Londons Strate­gie des Rosinenpickens ab. In der Staatsschuldenkrise blieb Berlin unnachgiebig gegenüber Forderungen nach gemeinsamer Verschuldung.

Doch Deutschland war und ist kein Musterschüler. Es verletzt EU-Regeln und geht eigene Wege, wenn es seine Wirtschaftsmacht erlaubt (»Doppel-Wumms«) oder wenn Entscheidungen in die Kategorie nationaler Staatsräson (Gaza-Krieg) fallen. Zudem begünstigt die Tatsache, dass inner­halb der Union ohne oder gegen Deutschland effektiv nur wenig vorankommt, eine zögerliche und passive Haltung Berlins.

Prioritäten für eine proaktive deutsche Europapolitik

Will Deutschland wieder eine Führungsrolle in der EU spielen, sollte die Bundesregierung in Brüssel mit klaren politischen Posi­tionen auftreten. In der von schnellen Um­brüchen geprägten Welt ist eine Europa­politik gefragt, die Handlungswillen, Hand­lungsfähigkeit und Handlungsschnelligkeit vereint. Dazu drei zentrale Empfehlungen:

Erstens kommt Handlungswille dadurch zum Ausdruck, dass sich Bundeskanzler und Regierungsspitzen anhaltend für das EU-Geschehen interessieren und unzweifel­haft gemeinsame Positionen vertreten. Die Bundesregierung will die Ressort-Abstim­mung zu den anliegenden Dos­siers deutlich verbessern. Das neu vom Chef des Bundeskanzleramts zu moderierende »EU-Moni­toring« sollte dazu genutzt werden, um bei wichtigen und/oder übergreifenden Dossiers im Fall der Fälle auf Kabinettsebene früh interne Differenzen auszuräumen und klare Standpunkte der deutschen Europa­politik festzulegen, ohne dabei das Ressort­prinzip in Frage zu stellen. Durch eine ko­härente und berechenbare Positionierung kann Deutschland Orientierung und Füh­rung bieten und verlorene Glaubwürdigkeit in der EU zurückgewinnen.

Zweitens benötigt Deutschland zur europapolitischen Handlungsfähigkeit eine neue Partnerschaftsstrategie. Die Bundes­regie­rung sollte thematisch flexible, agile und effektive Koalitionen bilden, anstatt primär auf den Zusammenhalt und den kleinsten gemeinsamen Nenner zu setzen. Beispiele hierfür sind das E5+1-Format in der Sicherheits- und Ver­tei­digungspolitik sowie unterschiedliche Wirtschaftspartner­schaften, zum Beispiel mit Ostmitteleuropa, Frankreich und Italien sowie inno­vations­starken Ländern, etwa aus Nordeuropa. Deutschland sollte proaktiv Partnerschaften für einzelne Politikfelder schmieden, um kon­krete Fortschritte zu erzielen. Vor allem im Hinblick auf das Themenfeld Sicherheit muss die Koordination zwischen den Mit­gliedstaaten und – im Rahmen ihrer Zu­ständigkeiten – mit den EU-Organen in­ten­siviert und gleichzeitig sorgsam ausbalan­ciert werden. Gemischte Vorgehensweisen werden gerade in der Anlaufphase und im Zuge der anstehenden kritischen Verhandlungen zur Ausgestaltung einer weniger fra­gilen »Nachkriegszeit« vorherrschen. Dies verlangt von Deutschland außergewöhnlich viel Flexibilität und Kreativität.

Drittens braucht es Handlungstempo. Und dies setzt den Willen voraus, jenseits der Einstimmigkeit Entscheidungen zu suchen. In funktionalen Feldern ist die klassische Gemeinschafts­methode zur Ver­tiefung der EU mit Mehrheitsbeschlüssen zu priorisieren. Das gilt etwa in Bezug auf das Projekt Kapitalmarktunion, das wegen seiner rasant wachsenden sicherheitspolitischen Bedeutung schneller Fortschritte be­darf. Ebenso werden Industrie- und Techno­logiepolitik – auch unter stärkerer Ein­beziehung privater Akteure – zu einem dauerhaften und in­stitutionalisierten Be­standteil der europäischen Sicherheits­politik. Die Bundesregierung sollte selbst Ideen für eine umfassende Reform der Ein­nahmen- und Ausgabenseite des EU-Haus­halts, ein Kerninteresse Deutschlands, ein­bringen. Größere Investitionen in die Ver­tei­digungsfähigkeit und in eine bessere Infrastruktur sollten für Wachstums­impulse genutzt werden, die der europäischen Wirt­schaft zugutekommen. Bei Blockaden sollte Deutschland bereit sein, mit dem Instrument der Verstärkten Zusammenarbeit in Gruppen voranzuschreiten.

Insgesamt betrachtet muss Deutschland unter schwierigeren Rahmenbedingungen sein politisches Kapital, seine Führungskraft und sein Geld in diese vielschichtigen Auf­gaben investieren und die EU zur Lebensversicherung machen. Insofern sollte sich die deutsche Europapolitik in der nächsten Legislaturperiode an einem prag­matischen, aber beherzten Funktio­nalismus orientieren, der stets das Leitbild strate­gischer Autonomie im Visier hat.

Dr. Raphael Bossong ist Stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa. Dr. Kai-Olaf Lang ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa. Dr. Barbara Lippert ist die Forschungsdirektorin der SWP. Dr. Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa.

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