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Chinas arktische Wende

Ursachen, Entwicklungen, Perspektiven

SWP-Aktuell 2024/A 68, 18.12.2024, 4 Seiten

doi:10.18449/2024A68

Forschungsgebiete

Abgesehen von einigen aufsehenerregenden, aber letztlich gescheiterten Infrastruktur­projekten und einem überraschenden Besuch des Eisbrechers Xuelong vor der grön­ländischen Hauptstadt Nuuk ist die Volksrepublik China in der Arktis lange Zeit vor­sichtig und zurückhaltend im Schat­ten der arktischen Großmacht Russland auf­getreten. Erstmals zeigten im Juli und August 2024 weitere drei Eisbrecher – Xuelong 2, Ji Di und Zhong Shan Da Xue Ji Di chinesische Präsenz in der Arktis. Peking signalisiert damit weitergehende Absichten: Der Bau eines schweren Eis­brechers soll eine ständige Präsenz im Nordpolarmeer ermöglichen. Ein bizarrer Höhe­punkt dieser Entwicklung wurde erreicht, als die staatliche russische Nach­richtenagentur RIA Novosti im Oktober 2024 titelte: »Die Arktis wird chinesisch«. Welche Ursachen und Implikationen hat diese arktische Wende Chinas?

Staats- und Parteichef Xi Jinping bekundete 2014 Chinas Ambition als »polare Großmacht«, nachdem die Volksrepublik im Jahr zuvor den Beobachterstatus beim Arktischen Rat erhalten hatte. Damals erklärte Xi, das Ziel, eine polare Macht zu werden, bilde eine wichtige Komponente, um eine mari­ti­me Großmacht zu werden. Dieser Anspruch spiegelt das Selbstbewusstsein der Volks­republik und ihre globale Reichweite wider. China hat viel­fältige, darunter strategische Interessen in Arktis und Antarktis. Im Rah­men der Belt and Road Initiative gilt das Nordpolarmeer – nach dem Landkorridor durch Zentral­asien und dem indopazifischen Seeweg bis in das europäische Mittelmeer – als dritter Korridor der Seidenstraßen.

Wie bei anderen Bewerbern war das wissenschaftliche Engagement einer der Gründe, warum die Arktisstaaten im Jahr 2013 Chinas Zulassung als Beob­achterstaat befürworteten. Diesem Argument zufolge will China durch Wissenschaft und For­schung eine Gelegenheit zur Koopera­tion eröffnen. Die Ankunft in der Arktis er­scheint hier als einfache und unvermeid­liche Folge wach­sender weltweiter Inter­essen des Landes. Andere betonen, China sei schon länger in der Arktis aktiv, und erst das steigende Interesse der Welt­gemeinschaft an China und der Arktis habe dies sichtbar gemacht. Die Inter­essen des Landes haben sich dem­nach weniger geändert als der Blick­ von außen. Realiter ist auch das aktuelle chi­ne­sische Investitionsniveau in der Arktis wenig spektakulär. Islands ehemaliger Prä­sident Ólafur Ragnar Grimsson (1996–2016) bemerkte dazu, mit Ausnahme der russi­schen Arktis, in der China zuneh­mend prä­sent sei, falle es sehr schwer, ein einziges Beispiel für große chi­nesische Investitionen zu finden. Ein Grund dafür ist, dass die meisten Ark­tisstaaten sol­che Projekte abgelehnt haben. Umso wich­tiger ist deshalb die chinesisch-russi­sche Kooperation in der Arktis, da sie eine auf­stre­bende Weltmacht mit dem größten Arktis­akteur verbindet, der aber zusehends in die Rolle des Juniorpartners und damit in eine fatale Abhängigkeit gerät. Neben lang­fristigen Interessen liegt eine Hauptursache der ark­ti­schen Wende in Russ­lands Schwä­che infolge seines Angriffs­krieges.

China ist einer der wenigen Nutznießer des Krieges. Dieser lässt Russ­land in seiner Junior­rolle weiter schrumpfen, wie Putins devotes Verhalten bei Xis Besuch im März 2023 in Moskau offenbarte: Im Streben nach mehr Macht hat Putin sein Land geschwächt. Nun kann China im Austausch für die Unter­stützung des Krieges Öl und Gas gün­sti­ger erwerben, sich besseren Zugang zu Boden­schätzen verschaffen und sensible russische Militärtechnologie aneignen. Zudem kann es eine freundlichere russische Haltung zu seinen Ordnungs­vorstellungen ebenso er­warten wie zu seiner stetig wach­senden Prä­senz in politisch sen­siblen geo­grafischen Räumen, etwa der Ark­tischen Zone der Rus­sischen Föderation und der Nördlichen Seeroute (NSR).

Chinas Arktisdiplomatie

Peking hat die diplomatische Präsenz in Län­dern des Nordens seit 2014 sichtbar ver­stärkt; in Reykjavik verfügt die Volksrepu­blik über die größte aller Botschaften. Im Weißbuch zur Arktis, in dem sich China als »Near Arctic State« bezeichnet, werden die Grundlagen arktischer Ordnungspolitik wie Arktischer Rat, Seerechtsübereinkommen und Polarkodex betont. Sie dienen als An­satz­punkte weiterreichender Ambitionen.

Peking sieht die Arktis als geopolitisch wichtigen Raum, der langfristig an Bedeu­tung gewinnt. Dort kann Peking ähnlich wie im Pazifik seine globalen Ambitionen und die Akzeptanz neuer Normen testen. Manchen gilt China als »aktivster Beob­ach­ter­staat« im Arktischen Rat. Da die Arktis nicht so reglementiert ist wie die Antarktis, bildet sie eine gute Probebühne. Allerdings trifft der Ansatz zur Arktis (Internationalisieren) vs. Südchinesisches Meer (Nationa­lisieren) auf den Widerstand der Arktis­staaten. Auch sind Versuche, Grundstücke in Finnland, Seehäfen in Schweden oder Flughäfen auf Grönland zu erwerben, und damit verbundene Infrastrukturprojekte allesamt gescheitert. Während chinesische Direktinvestitionen in Russland stei­gen, bleiben sie in der nichtrussischen Arktis auf niedrigem Niveau. Jedoch versuchen China nahestehende Personen weiter, Land in der Arktis zu kaufen, zu­letzt im Juni 2024 im Søre Fagerfjord, südlich Longyearbyen auf dem Svalbard-Archipel. Oslo verhinderte dies wegen sicherheits­politischer Bedenken. Viele solcher misslungenen Unterfangen sind belegt, während es in China eine »lebendige Debatte« über den Nutzen solcher Erwerbungen gibt. Eine mili­tärische Nut­zung widerspräche auch dem erklärten Ziel »friedliche Entwicklung«.

Die prekäre Balance zwischen Arktisstaaten und einer aufstrebenden Großmacht zeigt sich auch in der Wissenschaftsdiplomatie. Während Arktisstaaten mittels For­schungs­zusammenarbeit die Volksrepublik konfliktfrei integrieren und sozialisieren möchten, ist China bestrebt, seine Position als eigenständiger Akteur auszubauen, ohne Befürchtungen in den Arktisstaaten auszulösen. Seit 2004 wird eine Forschungs­station in Ny-Ålesund auf Svalbard unter­halten. 2018 eröffneten Island und China die gemeinsame Forschungsstation China-Nordic Arctic Research Center (CNARC) in Karhóll. Dort betreiben sie das China-Ice­land Arctic Science Observatory (CIAO). Der Vorschlag für ein ähnliches Projekt in Grön­land wurde von Dänemark aus Sicherheitsgründen abgelehnt. Chinesische Investitionen in teure Forschungsinfrastruktur wur­den nicht nur in Island gern genom­men. Sie schaffen Präsenz und bauen Ver­trauen auf. Beides benötigt China, um Einfluss zu gewinnen. Chinesische Aktivi­täten werden aber inzwischen auch in Island kritischer gesehen, denn Chinas wissenschaftliche Präsenz ist nicht zweck­frei. Sie dient im Sinne der Strategie zivil-militärischer Fusion weitergehenden mili­tärischen Ambitionen, etwa in Form ozeano­graphischer und hydro­akustischer Untersuchungen ähn­lich wie früher im Südchinesischen Meer.

Sino-russische Kooperation

Als Xi die Belt and Road Initiative im Okto­ber 2013 vorstellte, hatte dieses Projekt zwei namensgebende Aspekte: Ein Gürtel soll den eurasischen Kontinent umschließen, und eine (Wasser-)Straße erstreckt sich vom Indischen Ozean über den Suezkanal bis nach Europa. Die weiterführende polare Route soll die nationale Versorgungs­sicher­heit durch fossile Energie aus der russischen Arktis erhöhen, da fast 80 Prozent der Öl­importe über die Straße von Malakka erfol­gen. Der Seeweg durch das Nordpolarmeer ermöglicht Transitverkehr, ohne dass Schiffe diese Meerenge passieren müssen, die im Konfliktfall von den USA blockiert werden kann. Das gilt indes auch für die Beringstraße. Daher handelt es sich eher um eine Diversifizierung geo­strategischer Abhängigkeiten. Russland fungiert in Chinas Pro­jekt vorrangig als williger Rohstofflieferant und Empfänger wertvoller Investitionen, für die es hohe Ansprüche erfüllen muss.

Die Einkünfte aus chinesischen Energieimporten reichen dem Kreml aber offenkundig nicht. Zusätzlich setzt Russland alte, arktisuntaugliche Tanker ein, um Sanktionen zu umgehen. Rund 80 Prozent des russischen Rohölexports werden von Putins »Schattenflotte« transportiert. Nachdem die Schiffe Öl oder Gas aufgenommen haben, verschwindet meist ihre Spur, indem ent­weder auf See umgeladen wird oder Trans­ponder ausgeschaltet werden. Ein erstes Unglück ereig­nete sich im Juli 2024, als die Ceres I mit einem anderen Tanker im Süd­chinesischen Meer kollidierte, offenbar aufgrund einer fal­schen Standortangabe.

China erhält nicht nur mehr Zu­gang, sondern sogar teilweise die Kon­trolle über die Nördliche Seeroute. Während des Staats­besuchs in Peking im März 2023 wurde fest­gelegt, eine gemeinsame Dachorganisation für den Schiffsverkehr in der NSR zu schaf­fen. Die zwischen chinesischer Küstenwache und russischem Grenz­schutz im April 2023 in Murmansk vereinbarte Zusammenarbeit in der NSR basiert auf die­ser Grundlage; im Murmansk-Memo­ran­dum werden gemeinsame Anstren­gungen im Kampf gegen Terrorismus, ille­gale Migration, Schmuggel und illegale Fischerei genannt. Die erste gemeinsame Patrouille in der NSR fand im Oktober 2024 statt. Chinas Küstenwache er­klärte, diese erste Operation habe »effek­tiv den Umfang des maritimen Ein­satzes der Küstenwache erweitert, die Fähigkeit der Schiffe zur Durchführung von Missionen in unbekannten Gewässern gründlich getestet und die aktive Beteiligung an der internationalen und regionalen Meeres­politik stark unterstützt«. Wenn immer mehr chinesische Schiffe die NSR nutzen, handelt es sich dann um eine internationale Wasserstraße, die auch anderen offensteht? Ihre Öffnung wirft viele, für Russland weder an­genehme noch einfache Fragen auf und rela­tiviert den früheren nationalistisch gepräg­ten Herr­schaftsanspruch. Hinzu kommt die Öffnung der pazifischen Arktis für kommer­zielle chi­nesische Aktivitäten im Heimat­hafen der russischen Pazifikflotte in Wladi­wostok, die als Torwächter der NSR fungiert.

Arktis sicherheitspolitisch

In Chinas Arktis-Weißbuch werden Begriffe mili­tärischer Sicherheit nicht erwähnt. Als Parteiarmee sind die Streit­kräfte jedoch inte­graler Bestandteil der Ambitionen, die China als »polare Großmacht« hegt.

Die Fähigkeit zur maritimen Macht­­projektion vor der nordamerikanischen Küste demonstrierten fünf Kriegsschiffe, als sie erstmals im September 2015 US-Gewäs­ser in der Zwölf-Meilen-Zone vor Alaska durchquerten – die erste »Freedom of Navigation«-Operation in der chinesischen Geschichte. Im selben Jahr besuchte ein Flotteneinsatzkommando zum ersten Mal Däne­mark, Finnland und Schweden. Seit 2021 kreuzen immer wieder chinesische Kriegs­schiffe vor Alaska. Im September 2022 operierten drei Kriegsschiffe mit fünf russi­schen Schiffen knapp 160 Kilometer ent­fernt von Kiska, einer Aleuten-Insel. Dar­unter befand sich der Lenkwaffenzerstörer vom Typ 055 Nanchang, der mit bis zu 112 Marschflugkörpern oder hyperschallschnellen Anti­schiffs­raketen bewaffnet ist. Nord­amerika ist kein Sanktuarium mehr, und eine solche Aktion wird als Angriffs­option erkannt.

Besondere Aufmerksamkeit gilt der chi­nesisch-russischen Militärkooperation. Allerdings sind die bilateralen Beziehungen auf ziviler und militärischer Ebene so eng wie widersprüchlich. Für das chinesische Militär sind Russlands Streitkräfte seit Sow­jetzeiten eine wichtige Quelle in puncto Erfahrung mit Doktrinen, Operationen sowie militärisch nutzbaren Technologien. Sie verfügen noch über einen Vorsprung, den sie in der jahrzehntelangen Beschäftigung mit den USA als potentiellem Gegner gewonnen haben.

Ein US-Studienteam stellte 2023 fest, dass sich zwar die politischen und militärischen Konsultationsmechanismen ent­wickelt hätten, die militärisch-technische Zusammenarbeit und gemeinsame mili­tärische Aktivitäten aber nicht erweitert worden seien. Zu gemeinsamen Projekten zählen ein konventionelles U-Boot, tak­ti­sche Raketen und russische Unterstützung in der Entwicklung eines Frühwarnsystems für Raketenstarts. Abgesehen von Flugzeug­triebwerken kann China alle Rüstungs­güter inzwischen selbst produzieren. Die chine­sisch-russische Kooperation befindet sich damit auf niedrigerem Niveau als jene zwi­schen transatlantischen Partnern.

Chinesische und russische Langstreckenbomber patrouillierten im Juli 2024 im Nord­polarmeer nahe dem US-Bundesstaat Alaska. Zwei russische strategische Bomber vom Typ Tu-95 und zwei chinesische Bom­ber vom Typ Xian H-6 waren dazu vom rus­sischen Flughafen Anadyr in Tschukotka gestartet und unternahmen Patrouillen­flüge über der Tschuktschensee, der Bering­see und dem Nordpazifik. Schon Jahre zuvor war spekuliert worden, dass bei einer Ver­tiefung des bilateralen Verhältnisses solche gemeinsamen Patrouillen entlang der Küste Alaskas denkbar wären.

Außerdem erwartet die US-Marine »zu­neh­mende Einsätze der chinesischen Marine in, unter und über arktischen Gewässern«. Peking könnte mit Unterseebooten im ark­tisch-nordatlantischen Raum seine Position als globale Militärmacht ab­sichern und die USA aus der Arktis heraus direkt bedrohen. Dies würde jedoch nicht nur an der russi­schen Vormachtstellung rütteln, sondern könnte auch für Russland bedenk­liche mili­tärische Gegenmaßnahmen der USA hervor­rufen.

Perspektiven

Die Öffnung der pazifischen Arktis für chi­ne­sische Aktivitäten schafft politisch-ideo­logisch eine weitere Front gegen den Wes­ten und soll wirtschaftliche Vorgaben des Kremls erfüllen. Für die USA wirft sie sicher­heitspolitische Fragen hinsichtlich der Aleuten und der nordpazifischen See­route durch die Beringstraße auf. Sie tan­giert auch Japan aufgrund der russischen Stützpunkte auf den Kurilen-Inseln, die in den letzten Jahren stärker bewaffnet wur­den. Die NSR wird also vorerst keine zen­trale Handelsmagistrale, sondern prekäre Tankerroute eines fossilen Imperiums sein, das stetig weitere Konflikte generiert.

Atlantische und pazifische Arktis sind zu­nehmend durch unterschiedliche Kon­flikte und Eskalationsgefahren verbunden. Nordkoreas Unterstützung für Russland soll Defizite ausgleichen, bringt aber China in eine schwierige Lage, weil sie die Annäherung nordasiatischer Staaten an die Nato verstärkt. Die Arktis bietet den USA einen »Raum der Möglichkeiten«, auch zu neuer Kooperation. Der »ICE Pact«, eine im Juli 2024 initiierte trilaterale Partnerschaft zwischen den USA, Kanada und Finnland, eröffnet den USA durch Bau und Erwerb von Eisbrechern die Chance auf mehr Präsenz in der Arktis.

Dr. Michael Paul ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.

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