Abgesehen von einigen aufsehenerregenden, aber letztlich gescheiterten Infrastrukturprojekten und einem überraschenden Besuch des Eisbrechers Xuelong vor der grönländischen Hauptstadt Nuuk ist die Volksrepublik China in der Arktis lange Zeit vorsichtig und zurückhaltend im Schatten der arktischen Großmacht Russland aufgetreten. Erstmals zeigten im Juli und August 2024 weitere drei Eisbrecher – Xuelong 2, Ji Di und Zhong Shan Da Xue Ji Di – chinesische Präsenz in der Arktis. Peking signalisiert damit weitergehende Absichten: Der Bau eines schweren Eisbrechers soll eine ständige Präsenz im Nordpolarmeer ermöglichen. Ein bizarrer Höhepunkt dieser Entwicklung wurde erreicht, als die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA Novosti im Oktober 2024 titelte: »Die Arktis wird chinesisch«. Welche Ursachen und Implikationen hat diese arktische Wende Chinas?
Staats- und Parteichef Xi Jinping bekundete 2014 Chinas Ambition als »polare Großmacht«, nachdem die Volksrepublik im Jahr zuvor den Beobachterstatus beim Arktischen Rat erhalten hatte. Damals erklärte Xi, das Ziel, eine polare Macht zu werden, bilde eine wichtige Komponente, um eine maritime Großmacht zu werden. Dieser Anspruch spiegelt das Selbstbewusstsein der Volksrepublik und ihre globale Reichweite wider. China hat vielfältige, darunter strategische Interessen in Arktis und Antarktis. Im Rahmen der Belt and Road Initiative gilt das Nordpolarmeer – nach dem Landkorridor durch Zentralasien und dem indopazifischen Seeweg bis in das europäische Mittelmeer – als dritter Korridor der Seidenstraßen.
Wie bei anderen Bewerbern war das wissenschaftliche Engagement einer der Gründe, warum die Arktisstaaten im Jahr 2013 Chinas Zulassung als Beobachterstaat befürworteten. Diesem Argument zufolge will China durch Wissenschaft und Forschung eine Gelegenheit zur Kooperation eröffnen. Die Ankunft in der Arktis erscheint hier als einfache und unvermeidliche Folge wachsender weltweiter Interessen des Landes. Andere betonen, China sei schon länger in der Arktis aktiv, und erst das steigende Interesse der Weltgemeinschaft an China und der Arktis habe dies sichtbar gemacht. Die Interessen des Landes haben sich demnach weniger geändert als der Blick von außen. Realiter ist auch das aktuelle chinesische Investitionsniveau in der Arktis wenig spektakulär. Islands ehemaliger Präsident Ólafur Ragnar Grimsson (1996–2016) bemerkte dazu, mit Ausnahme der russischen Arktis, in der China zunehmend präsent sei, falle es sehr schwer, ein einziges Beispiel für große chinesische Investitionen zu finden. Ein Grund dafür ist, dass die meisten Arktisstaaten solche Projekte abgelehnt haben. Umso wichtiger ist deshalb die chinesisch-russische Kooperation in der Arktis, da sie eine aufstrebende Weltmacht mit dem größten Arktisakteur verbindet, der aber zusehends in die Rolle des Juniorpartners und damit in eine fatale Abhängigkeit gerät. Neben langfristigen Interessen liegt eine Hauptursache der arktischen Wende in Russlands Schwäche infolge seines Angriffskrieges.
China ist einer der wenigen Nutznießer des Krieges. Dieser lässt Russland in seiner Juniorrolle weiter schrumpfen, wie Putins devotes Verhalten bei Xis Besuch im März 2023 in Moskau offenbarte: Im Streben nach mehr Macht hat Putin sein Land geschwächt. Nun kann China im Austausch für die Unterstützung des Krieges Öl und Gas günstiger erwerben, sich besseren Zugang zu Bodenschätzen verschaffen und sensible russische Militärtechnologie aneignen. Zudem kann es eine freundlichere russische Haltung zu seinen Ordnungsvorstellungen ebenso erwarten wie zu seiner stetig wachsenden Präsenz in politisch sensiblen geografischen Räumen, etwa der Arktischen Zone der Russischen Föderation und der Nördlichen Seeroute (NSR).
Chinas Arktisdiplomatie
Peking hat die diplomatische Präsenz in Ländern des Nordens seit 2014 sichtbar verstärkt; in Reykjavik verfügt die Volksrepublik über die größte aller Botschaften. Im Weißbuch zur Arktis, in dem sich China als »Near Arctic State« bezeichnet, werden die Grundlagen arktischer Ordnungspolitik wie Arktischer Rat, Seerechtsübereinkommen und Polarkodex betont. Sie dienen als Ansatzpunkte weiterreichender Ambitionen.
Peking sieht die Arktis als geopolitisch wichtigen Raum, der langfristig an Bedeutung gewinnt. Dort kann Peking ähnlich wie im Pazifik seine globalen Ambitionen und die Akzeptanz neuer Normen testen. Manchen gilt China als »aktivster Beobachterstaat« im Arktischen Rat. Da die Arktis nicht so reglementiert ist wie die Antarktis, bildet sie eine gute Probebühne. Allerdings trifft der Ansatz zur Arktis (Internationalisieren) vs. Südchinesisches Meer (Nationalisieren) auf den Widerstand der Arktisstaaten. Auch sind Versuche, Grundstücke in Finnland, Seehäfen in Schweden oder Flughäfen auf Grönland zu erwerben, und damit verbundene Infrastrukturprojekte allesamt gescheitert. Während chinesische Direktinvestitionen in Russland steigen, bleiben sie in der nichtrussischen Arktis auf niedrigem Niveau. Jedoch versuchen China nahestehende Personen weiter, Land in der Arktis zu kaufen, zuletzt im Juni 2024 im Søre Fagerfjord, südlich Longyearbyen auf dem Svalbard-Archipel. Oslo verhinderte dies wegen sicherheitspolitischer Bedenken. Viele solcher misslungenen Unterfangen sind belegt, während es in China eine »lebendige Debatte« über den Nutzen solcher Erwerbungen gibt. Eine militärische Nutzung widerspräche auch dem erklärten Ziel »friedliche Entwicklung«.
Die prekäre Balance zwischen Arktisstaaten und einer aufstrebenden Großmacht zeigt sich auch in der Wissenschaftsdiplomatie. Während Arktisstaaten mittels Forschungszusammenarbeit die Volksrepublik konfliktfrei integrieren und sozialisieren möchten, ist China bestrebt, seine Position als eigenständiger Akteur auszubauen, ohne Befürchtungen in den Arktisstaaten auszulösen. Seit 2004 wird eine Forschungsstation in Ny-Ålesund auf Svalbard unterhalten. 2018 eröffneten Island und China die gemeinsame Forschungsstation China-Nordic Arctic Research Center (CNARC) in Karhóll. Dort betreiben sie das China-Iceland Arctic Science Observatory (CIAO). Der Vorschlag für ein ähnliches Projekt in Grönland wurde von Dänemark aus Sicherheitsgründen abgelehnt. Chinesische Investitionen in teure Forschungsinfrastruktur wurden nicht nur in Island gern genommen. Sie schaffen Präsenz und bauen Vertrauen auf. Beides benötigt China, um Einfluss zu gewinnen. Chinesische Aktivitäten werden aber inzwischen auch in Island kritischer gesehen, denn Chinas wissenschaftliche Präsenz ist nicht zweckfrei. Sie dient im Sinne der Strategie zivil-militärischer Fusion weitergehenden militärischen Ambitionen, etwa in Form ozeanographischer und hydroakustischer Untersuchungen ähnlich wie früher im Südchinesischen Meer.
Sino-russische Kooperation
Als Xi die Belt and Road Initiative im Oktober 2013 vorstellte, hatte dieses Projekt zwei namensgebende Aspekte: Ein Gürtel soll den eurasischen Kontinent umschließen, und eine (Wasser-)Straße erstreckt sich vom Indischen Ozean über den Suezkanal bis nach Europa. Die weiterführende polare Route soll die nationale Versorgungssicherheit durch fossile Energie aus der russischen Arktis erhöhen, da fast 80 Prozent der Ölimporte über die Straße von Malakka erfolgen. Der Seeweg durch das Nordpolarmeer ermöglicht Transitverkehr, ohne dass Schiffe diese Meerenge passieren müssen, die im Konfliktfall von den USA blockiert werden kann. Das gilt indes auch für die Beringstraße. Daher handelt es sich eher um eine Diversifizierung geostrategischer Abhängigkeiten. Russland fungiert in Chinas Projekt vorrangig als williger Rohstofflieferant und Empfänger wertvoller Investitionen, für die es hohe Ansprüche erfüllen muss.
Die Einkünfte aus chinesischen Energieimporten reichen dem Kreml aber offenkundig nicht. Zusätzlich setzt Russland alte, arktisuntaugliche Tanker ein, um Sanktionen zu umgehen. Rund 80 Prozent des russischen Rohölexports werden von Putins »Schattenflotte« transportiert. Nachdem die Schiffe Öl oder Gas aufgenommen haben, verschwindet meist ihre Spur, indem entweder auf See umgeladen wird oder Transponder ausgeschaltet werden. Ein erstes Unglück ereignete sich im Juli 2024, als die Ceres I mit einem anderen Tanker im Südchinesischen Meer kollidierte, offenbar aufgrund einer falschen Standortangabe.
China erhält nicht nur mehr Zugang, sondern sogar teilweise die Kontrolle über die Nördliche Seeroute. Während des Staatsbesuchs in Peking im März 2023 wurde festgelegt, eine gemeinsame Dachorganisation für den Schiffsverkehr in der NSR zu schaffen. Die zwischen chinesischer Küstenwache und russischem Grenzschutz im April 2023 in Murmansk vereinbarte Zusammenarbeit in der NSR basiert auf dieser Grundlage; im Murmansk-Memorandum werden gemeinsame Anstrengungen im Kampf gegen Terrorismus, illegale Migration, Schmuggel und illegale Fischerei genannt. Die erste gemeinsame Patrouille in der NSR fand im Oktober 2024 statt. Chinas Küstenwache erklärte, diese erste Operation habe »effektiv den Umfang des maritimen Einsatzes der Küstenwache erweitert, die Fähigkeit der Schiffe zur Durchführung von Missionen in unbekannten Gewässern gründlich getestet und die aktive Beteiligung an der internationalen und regionalen Meerespolitik stark unterstützt«. Wenn immer mehr chinesische Schiffe die NSR nutzen, handelt es sich dann um eine internationale Wasserstraße, die auch anderen offensteht? Ihre Öffnung wirft viele, für Russland weder angenehme noch einfache Fragen auf und relativiert den früheren nationalistisch geprägten Herrschaftsanspruch. Hinzu kommt die Öffnung der pazifischen Arktis für kommerzielle chinesische Aktivitäten im Heimathafen der russischen Pazifikflotte in Wladiwostok, die als Torwächter der NSR fungiert.
Arktis sicherheitspolitisch
In Chinas Arktis-Weißbuch werden Begriffe militärischer Sicherheit nicht erwähnt. Als Parteiarmee sind die Streitkräfte jedoch integraler Bestandteil der Ambitionen, die China als »polare Großmacht« hegt.
Die Fähigkeit zur maritimen Machtprojektion vor der nordamerikanischen Küste demonstrierten fünf Kriegsschiffe, als sie erstmals im September 2015 US-Gewässer in der Zwölf-Meilen-Zone vor Alaska durchquerten – die erste »Freedom of Navigation«-Operation in der chinesischen Geschichte. Im selben Jahr besuchte ein Flotteneinsatzkommando zum ersten Mal Dänemark, Finnland und Schweden. Seit 2021 kreuzen immer wieder chinesische Kriegsschiffe vor Alaska. Im September 2022 operierten drei Kriegsschiffe mit fünf russischen Schiffen knapp 160 Kilometer entfernt von Kiska, einer Aleuten-Insel. Darunter befand sich der Lenkwaffenzerstörer vom Typ 055 Nanchang, der mit bis zu 112 Marschflugkörpern oder hyperschallschnellen Antischiffsraketen bewaffnet ist. Nordamerika ist kein Sanktuarium mehr, und eine solche Aktion wird als Angriffsoption erkannt.
Besondere Aufmerksamkeit gilt der chinesisch-russischen Militärkooperation. Allerdings sind die bilateralen Beziehungen auf ziviler und militärischer Ebene so eng wie widersprüchlich. Für das chinesische Militär sind Russlands Streitkräfte seit Sowjetzeiten eine wichtige Quelle in puncto Erfahrung mit Doktrinen, Operationen sowie militärisch nutzbaren Technologien. Sie verfügen noch über einen Vorsprung, den sie in der jahrzehntelangen Beschäftigung mit den USA als potentiellem Gegner gewonnen haben.
Ein US-Studienteam stellte 2023 fest, dass sich zwar die politischen und militärischen Konsultationsmechanismen entwickelt hätten, die militärisch-technische Zusammenarbeit und gemeinsame militärische Aktivitäten aber nicht erweitert worden seien. Zu gemeinsamen Projekten zählen ein konventionelles U-Boot, taktische Raketen und russische Unterstützung in der Entwicklung eines Frühwarnsystems für Raketenstarts. Abgesehen von Flugzeugtriebwerken kann China alle Rüstungsgüter inzwischen selbst produzieren. Die chinesisch-russische Kooperation befindet sich damit auf niedrigerem Niveau als jene zwischen transatlantischen Partnern.
Chinesische und russische Langstreckenbomber patrouillierten im Juli 2024 im Nordpolarmeer nahe dem US-Bundesstaat Alaska. Zwei russische strategische Bomber vom Typ Tu-95 und zwei chinesische Bomber vom Typ Xian H-6 waren dazu vom russischen Flughafen Anadyr in Tschukotka gestartet und unternahmen Patrouillenflüge über der Tschuktschensee, der Beringsee und dem Nordpazifik. Schon Jahre zuvor war spekuliert worden, dass bei einer Vertiefung des bilateralen Verhältnisses solche gemeinsamen Patrouillen entlang der Küste Alaskas denkbar wären.
Außerdem erwartet die US-Marine »zunehmende Einsätze der chinesischen Marine in, unter und über arktischen Gewässern«. Peking könnte mit Unterseebooten im arktisch-nordatlantischen Raum seine Position als globale Militärmacht absichern und die USA aus der Arktis heraus direkt bedrohen. Dies würde jedoch nicht nur an der russischen Vormachtstellung rütteln, sondern könnte auch für Russland bedenkliche militärische Gegenmaßnahmen der USA hervorrufen.
Perspektiven
Die Öffnung der pazifischen Arktis für chinesische Aktivitäten schafft politisch-ideologisch eine weitere Front gegen den Westen und soll wirtschaftliche Vorgaben des Kremls erfüllen. Für die USA wirft sie sicherheitspolitische Fragen hinsichtlich der Aleuten und der nordpazifischen Seeroute durch die Beringstraße auf. Sie tangiert auch Japan aufgrund der russischen Stützpunkte auf den Kurilen-Inseln, die in den letzten Jahren stärker bewaffnet wurden. Die NSR wird also vorerst keine zentrale Handelsmagistrale, sondern prekäre Tankerroute eines fossilen Imperiums sein, das stetig weitere Konflikte generiert.
Atlantische und pazifische Arktis sind zunehmend durch unterschiedliche Konflikte und Eskalationsgefahren verbunden. Nordkoreas Unterstützung für Russland soll Defizite ausgleichen, bringt aber China in eine schwierige Lage, weil sie die Annäherung nordasiatischer Staaten an die Nato verstärkt. Die Arktis bietet den USA einen »Raum der Möglichkeiten«, auch zu neuer Kooperation. Der »ICE Pact«, eine im Juli 2024 initiierte trilaterale Partnerschaft zwischen den USA, Kanada und Finnland, eröffnet den USA durch Bau und Erwerb von Eisbrechern die Chance auf mehr Präsenz in der Arktis.
Dr. Michael Paul ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
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DOI: 10.18449/2024A68