Kernziele der neuen EU-Kommission sind es, die geoökonomische Widerstandsfähigkeit zu erhöhen, die Dekarbonisierung voranzutreiben und die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Dafür ist die EU auf Schwellenländer wie Brasilien angewiesen. Doch während China sein Engagement in Brasilien ausgeweitet hat, verliert die EU an Einfluss, weil sie keine langfristige Strategie besitzt und nicht in der Lage ist, der selbstbewussten Position Brasiliens in einer zunehmend multipolaren Welt angemessen zu begegnen. Ihre strategische Agenda gerät dadurch immer mehr in Gefahr.
Auf der politischen und diskursiven Ebene werden Klimapolitik und Wettbewerbsfähigkeit seit einigen Jahren zunehmend verschränkt. Infolge der jüngsten Wahlen zum Europäischen Parlament und der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten wird sich dieser Trend weiter verschärfen. China dominiert mittlerweile große Teile der Produktions- und Lieferketten von Schlüsseltechnologien wie Solarpaneelen und Elektrofahrzeugen (EVs). Diese Entwicklung hat in der EU Befürchtungen vor einer zu großen Importabhängigkeit von China ausgelöst. Das gilt besonders im Hinblick auf Risiken für die Versorgungssicherheit, Störungen in den globalen Lieferketten und mögliche geopolitische Spannungen wie Handelskonflikte. Die europäische Industrie steckt in der Krise, die Wettbewerbsfähigkeit ist bedroht. Um im Wettstreit um Technologieführerschaft, Marktanteile grüner Technologien und Zugang zu kritischen Rohstoffen nicht weiter zurückzufallen, bemüht sich die EU verstärkt, ihre Lieferketten zu diversifizieren, und treibt zugleich die Dekarbonisierung voran.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat angekündigt, innerhalb der ersten 100 Tage ihrer neuen Kommission einen Clean Industrial Deal vorzulegen. Damit rückt die industriepolitische Flankierung der europäischen Klimapolitik weiter in den Mittelpunkt. In der vergangenen Legislaturperiode genoss die Klimapolitik mit dem European Green Deal (EGD) einen hohen Stellenwert. Nun aber lassen die Zusammensetzung der neuen Kommission und ihr politisches Programm erkennen, dass Wettbewerbsfähigkeit, wirtschaftliche Sicherheit und strategische Autonomie die EU-Agenda im politischen Zyklus 2024–2029 prägen werden. Dabei muss die Kommission mit ihren Initiativen, nicht nur wegen der Wahl Trumps, in einer geopolitischen Lage navigieren, die sich während der letzten fünf Jahre stark gewandelt hat, und dabei mit neuen Interessenkonflikten und Allianzen umgehen.
Schon in der letzten Legislaturperiode hat die EU konkrete Maßnahmen ergriffen, um ihre Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz zu steigern: Der Net Zero Industry Act und der Critical Raw Materials Act sollen die Abhängigkeit von Importen reduzieren und die heimische Produktion grüner Technologien ankurbeln. Die neue Kommission hat angekündigt, die Global-Gateway-Initiative (GG) aufzuwerten, um geoökonomische Interessen und strategische Autonomie der EU zu fördern. Gemeinsam mit den vorgesehenen Partnerschaften für sauberen Handel und Investitionen soll sie Dekarbonisierung und Diversifizierung der Lieferketten unterstützen, indem Infrastrukturprojekte in Ländern des Globalen Südens finanziert werden und die Versorgung mit Rohstoffen und grünen Technologien gesichert wird.
Für die Umsetzung ihrer Agenda ist die EU auf Partner angewiesen. Ihr Engagement will sie vor allem in Schwellenländern wie Brasilien erhöhen, die wegen ihres großen Einflusses und ihrer strategischen Bedeutung eine Schlüsselrolle in der sich wandelnden globalen Machtverteilung spielen und über wichtige Rohstoffe für grüne Technologien verfügen. Doch die Partnerschaftsstrategie der EU steht in Brasilien und anderen Ländern des Globalen Südens vor Herausforderungen, die eng mit der Abhängigkeit von China und den damit einhergehenden Sicherheitsbedenken verbunden sind: Während China sein Engagement in Brasilien und anderen Partnerländern der EU weiter ausdehnt, verliert die EU stetig an Einfluss. Das ist ein Resultat ihrer bisher unzureichenden und wenig entschlossenen Bemühungen, Partnerschaften strategisch zu gestalten und den im Wandel begriffenen geopolitischen Realitäten anzupassen.
Brasilien im Spannungsfeld der globalen Machtdynamik
Die Kombination aus wirtschaftlicher Bedeutung, regionaler Führungsrolle und Zugang zu für die Dekarbonisierung entscheidenden Rohstoffen macht Brasilien zu einem gefragten Partner in der sich verändernden Weltordnung. Für die nächsten drei Jahre spielt das Land zudem eine zentrale Rolle bei der Gestaltung der globalen Klimakooperation: als Ausrichter der COP30, die 2025 in Belém stattfinden soll, aber auch als G20-Vorsitz 2024 und BRICS-Vorsitz 2025. Sowohl die EU als auch China sind deshalb bestrebt, ihre Beziehungen mit Brasilien zu vertiefen. Das bleibt nicht ohne Folgen für Brasiliens strategische Entscheidungen und politische Prioritäten. Das Land ist ein selbstbewusster Akteur, der aktiv die globale Ordnung zu prägen versucht und seine strategische Position und seine Handelsbeziehungen nutzt, um wirtschaftliche und technologische Vorteile für die eigene grüne Transformation zu sichern.
In Brasilien wird die EU als verlässlicher Partner für ausländische Direktinvestitionen, die Förderung gemeinsamer Werte wie Demokratie und Menschenrechte sowie für die klimapolitische Zusammenarbeit geschätzt. Von intensiverer politischer Kooperation mit China erhofft sich die brasilianische Regierung in erster Linie Investitionen in die Bereiche Infrastruktur und Industrie, welche EU und USA bisher nur begrenzt abdeckten. Auch verspricht sich Brasilien davon, seine Position bei der Gestaltung der Global Governance in einer multipolaren Welt zu stärken und den Einfluss des Globalen Südens im internationalen System zu vergrößern. Zugleich wird aber in Brasilien – auch in der Regierung – kontrovers diskutiert, inwieweit die ökonomische Abhängigkeit von China und die politische Nähe zu ihm langfristig strategisch vorteilhaft sind. Während das Außenministerium befürchtet, die prochinesische Rhetorik des Staatspräsidenten könne Brasiliens Blockfreiheit gefährden, unterstützt besonders die starke Lobby des exportierenden Agrobusiness mehr Annäherung an China.
Chinas wachsender Einfluss
China hat seine Präsenz in Brasilien seit der Jahrtausendwende massiv ausgebaut und ist bestrebt, seinen diplomatischen, wirtschaftlichen und militärischen Einfluss im Rahmen der »Süd-Süd-Kooperation« weiter zu vergrößern. Dazu setzt die Volksrepublik vermehrt »Soft Power« ein, etwa mit der Lieferung von Impfstoffen während der Covid-19-Pandemie. Nach einer Phase der brasilianischen Zurückhaltung unter den Präsidenten Michel Temer (2016–2018) und Jair Bolsonaro (2019–2022) steht Luiz Inácio Lula da Silva der Kooperation mit China wieder deutlich offener gegenüber.
In der BRICS-Gruppe und anderen Formaten setzen sich China und Brasilien für Reformen in internationalen Institutionen wie der Weltbank ein und drängen auf eine stärkere eigene Vertretung und mehr Mitsprache. Brasilien wirbt gemeinsam mit China für einen Sechs-Punkte-Plan zur Beendigung des Ukraine-Kriegs, was in den USA und der EU auf scharfe Kritik stößt. Auch ein umfassendes Freihandelsabkommen zwischen den Mercosur-Staaten und China hat Lula ins Gespräch gebracht. Nachdem Brasilien jahrelang abgelehnt hatte, der chinesischen Belt and Road Initiative (BRI) beizutreten, unter anderem aus Sorge, sich von Partnern wie der EU und den USA zu isolieren, schien ein Beitritt noch im Jahr 2024 wahrscheinlicher denn je. Auch wenn Lula, anders als von vielen erwartet, kurz vor dem Besuch von Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping erklärt hat, nicht beitreten zu wollen, drücken seine jüngsten Äußerungen zur BRI eine gewisse Anerkennung für den wachsenden globalen Einfluss Chinas und Unterstützung für dessen globale Vision aus. Insgesamt bleibt die Position Brasiliens ambivalent, was etwa an der klaren Ablehnung des Beitritts vonseiten des Außenministeriums deutlich wird.
Die politische Annäherung zwischen China und Brasilien geht mit der Intensivierung der Handelsbeziehungen einher. Zwar ist die EU immer noch der größte ausländische Investor (stock) in vielen Sektoren der brasilianischen Wirtschaft und zweitwichtigste Handelspartner Brasiliens. Doch der Handel zwischen Brasilien und China und die chinesischen Investitionen in Brasilien (flow) stiegen zuletzt stark an. Die Volksrepublik ist zu einem relevanten Kreditgeber geworden. Schon 2009 war China zum bedeutendsten Handelspartner Brasiliens avanciert. Dieser Aufstieg hatte eine Reprimarisierung der brasilianischen Exportpalette, also eine verstärkte Orientierung auf Güter des Primären Sektors zur Folge. Auf China entfallen 28 Prozent des gesamten brasilianischen Handels und 31 Prozent der Exporte, einschließlich 73 Prozent aller exportierten Sojabohnen. Brasilien exportiert hauptsächlich unverarbeitete Rohstoffe und Agrarerzeugnisse wie Soja und mineralische Produkte nach China und importiert von dort vor allem Endprodukte wie EVs und Elektronik. Inzwischen ist Brasilien der wichtigste Exportmarkt für chinesische EVs. Im Laufe des Jahres 2023 stieg der Wert der chinesischen EV-Exporte nach Brasilien auf das Achtzehnfache. Chinesische EVs machten in diesem Zeitraum 92 Prozent der gesamten EV-Importe Brasiliens aus.
Brasilien ist derzeit Chinas Hauptempfänger ausländischer Direktinvestitionen in Lateinamerika. Sie stiegen im Jahr 2023 im Vergleich zum Vorjahr um 33 Prozent auf 1,73 Milliarden Dollar. Damit ist Brasilien weltweit das neuntbeliebteste Ziel für chinesische Direktinvestitionen. China hat in den letzten Jahren eine weitreichende Investitionsstrategie verfolgt, um seine Position als führender Anbieter grüner Technologien weiter auszubauen. In keinen anderen Wirtschaftsbereich Brasiliens investieren chinesische Unternehmen so intensiv wie in den Stromsektor (39 Prozent). Um seinen steigenden Energiebedarf zu decken, seine Energieversorgung zu diversifizieren und die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu reduzieren, investiert China zunehmend in erneuerbare Energien in Brasilien und anderen Ländern Lateinamerikas. Als weltweit größter Investor in erneuerbare Energien beteiligt sich China bereits seit 2010 an der Energiewende Brasiliens. Nach einem Rückgang im Jahr 2020 wuchs der Anteil der Projekte zu erneuerbarer Energie von Jahr zu Jahr, bis er 2023 einen Rekordwert von 72 Prozent erreichte. In jenem Jahr unterzeichneten Lula und Xi eine gemeinsame Erklärung, künftig die bilaterale Zusammenarbeit zu grünen Technologien, wie erneuerbare Energien und Elektromobilität, zu verbreiten, zu vertiefen und zu diversifizieren. Anfang 2024 schloss Chinas State Grid Corporation mit Brasilien einen Konzessionsvertrag mit einer Laufzeit von 30 Jahren, der den Bau einer 1.500 km langen Übertragungsleitung im Nordosten Brasiliens vorsieht. Das 3,6-Milliarden-Dollar-Projekt soll die Integration erneuerbarer Energiequellen wie Wind- und Solarenergie in das brasilianische Stromnetz vorantreiben.
Diese Investitionen sind integraler Bestandteil von Chinas geoökonomischer Strategie. Sie hat zum Ziel, wirtschaftliche Netzwerke und politische Allianzen zu schaffen, die seine Vision einer multipolaren, an seinen Interessen ausgerichteten Weltordnung unterstützen.
Implikationen der brasilianisch-chinesischen Annäherung
Das ökonomische Ungleichgewicht zwischen China und Brasilien und dessen mittlerweile sehr große handelspolitische Abhängigkeit sind ein Problem für das Land. Mit gezielten Maßnahmen hat die brasilianische Regierung auf den enormen Anstieg der Importe aus China der letzten Monate reagiert, um chinesische Unternehmen zur Produktion vor Ort zu bewegen und die lokale Wertschöpfung zu steigern. Zu diesen Maßnahmen gehörten Untersuchungen angeblichen Dumpings chinesischer Industrieprodukte sowie höhere Zölle auf EVs.
Chinas wachsendes Engagement in Brasilien ist ein Balanceakt für das südamerikanische Land, das traditionell nach außenpolitischer Autonomie und nach Äquidistanz zu China und sogenannten westlichen Staaten strebt. Zudem hat die Vertiefung der brasilianisch-chinesischen Beziehungen weitreichende Implikationen über das bilaterale Verhältnis hinaus: Sie spiegelt die Veränderungen in der geopolitischen Machtdynamik wider und stellt die postkoloniale Weltordnung, deren multilaterale Einrichtungen historisch von den Industrieländern dominiert sind, immer mehr in Frage.
Schwindender Einfluss der EU
Während China sein Engagement in Brasilien stetig ausgeweitet hat, war die EU bisher nicht imstande, sich an die zunehmend multipolare Welt anzupassen und der kräftigeren Stimme sowie größeren Macht und Handlungsfähigkeit Brasiliens und anderer Länder des Globalen Südens angemessen und über eine symbolische Anerkennung hinaus zu begegnen. Lange hat die brasilianische Diplomatie versucht, engere Beziehungen zur EU aufzubauen, um ein Gegengewicht zur bis in die frühen 1990er Jahre währenden Hegemonie der Vereinigten Staaten zu schaffen. Doch trotz starker kultureller und historischer Bindungen sowie gemeinsamer Normen und Werte wie Demokratie und Menschenrechte hat Brüssel versäumt, den Beziehungen zu Brasilien den notwendigen Stellenwert einzuräumen. Im Rahmen des 2007 unterzeichneten strategischen Partnerschaftsabkommens betrachtet die EU Brasilien zwar als einen ihrer wichtigsten Partner in internationalen Foren. Aber die bislang auf kurzfristige und intervallhafte Aktivitäten rund um Gipfeltreffen beschränkten diplomatischen Bemühungen sowie die häufig eurozentrische Herangehensweise der EU haben bewirkt, dass sich der Aufbau einer für beide Seiten vorteilhaften und nachhaltigen Partnerschaft auf Augenhöhe schwierig gestaltete.
Derweil Brasiliens Handel mit China floriert, hat die EU die Erwartungen Brasiliens nicht erfüllt: Weder hat sie ausreichend dazu beigetragen, die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit dem Mercosur abzuschließen, noch ist es ihr gelungen, die politischen Beziehungen maßgeblich zu vertiefen. Unter anderem mangels nachhaltiger Fortschritte bei der interregionalen Handelsagenda wandte sich Brasilien immer häufiger an China. Eine Rolle dabei spielen auch die anhaltende wirtschaftliche Stagnation der EU und der Verlust der Führungsposition bei Schlüsseltechnologien wie erneuerbaren Energien.
Spätestens mit den Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hat die Kommission von der Leyen erkannt, wie notwendig starke Partnerschaften mit Ländern des Globalen Südens sind. Seither sucht sie aktiv nach Möglichkeiten, die politischen und ökonomischen Beziehungen mit Brasilien zu vertiefen, um einseitige Abhängigkeit zu reduzieren, ihre Resilienz zu steigern und globale Bündnisse zur Bewältigung globaler Krisen wie den Klimawandel zu schmieden. 2023 reiste von der Leyen als erste EU-Kommissionspräsidentin seit zehn Jahren nach Brasilien. Sie kündigte an, im Rahmen der GG-Initiative, die als geoökonomische und geopolitische Antwort der EU auf die chinesische BRI präsentiert wird, zwei Milliarden Euro in die Produktion von grünem Wasserstoff und die Förderung der Energieeffizienz der Industrie zu investieren. Von der Leyen versprach zudem, 430 Millionen Euro bereitzustellen, um die brasilianische Regierung dabei zu unterstützen, die illegale Abholzung bis 2030 zu beenden.
GG bleibt diskursive Antwort auf Chinas Einfluss
Doch das Potential der GG-Initiative, die EU in Brasilien und anderen Ländern des Globalen Südens neu zu positionieren, stößt auf Grenzen, besonders im Hinblick auf Finanzierung und Umsetzungsgeschwindigkeit. Mit einem angekündigten Budget von 300 Milliarden Euro (bis 2027) wirkt die Infrastruktur-Initiative bescheiden gegenüber Chinas BRI (geschätzt über 1 Billion US-Dollar). China investiert systematisch in Großprojekte wie Hafenausbauten und Stromnetze. Die EU hat bislang nur eine begrenzte Zahl von weniger umfangreichen Projekten offiziell angekündigt. Unklar bleibt, ob damit die inkludierten privaten Investitionen in der angedachten Höhe von rund 135 Milliarden Euro mobilisiert werden können. Komplexe Genehmigungsprozesse und hohe bürokratische Hürden hemmen die Umsetzung, erst recht im Vergleich zu konkurrierenden Programmen wie der BRI. Chinesische Infrastrukturinvestitionen bieten oft schnelle und unbürokratische Finanzierung an. Dagegen wird der Anspruch der EU, hohe Standards für Transparenz, Nachhaltigkeit und Menschenrechte zu setzen, in Brasilien als überkomplex empfunden und verzögert häufig die Umsetzung.
Der Ansatz der GG-Initiative in Brasilien scheint noch zu fragmentiert, was sowohl die Effektivität der Projekte als auch den geostrategischen Charakter der Initiative insgesamt in Frage stellt. Besonders problematisch ist, dass die EU ihre Maßnahmen vorrangig an den Zielen der eigenen politischen Agenda ausrichtet und nur unzureichend auf Brasiliens Prioritäten und spezifische sozioökonomische Bedingungen eingeht. China hingegen verfolgt eine pragmatischere Strategie, in deren Vordergrund ebenfalls eigene Interessen stehen. Zugleich folgt die chinesische Strategie einer entschieden marktwirtschaftlichen Logik und ist durch ein umfassenderes Verständnis für Erwartungen und Bedürfnisse des Partnerlands gekennzeichnet. Der eurozentristische Ansatz der EU, welcher sich mit dem stärkeren Fokus auf Wettbewerbsfähigkeit zu festigen droht, birgt das Risiko, langfristig ihre Glaubwürdigkeit als attraktiver und fairer Partner zu untergraben.
Schließlich finden die Logik der geopolitischen Rivalität und die narrative Rahmung von GG als Gegenmodell zu Chinas Aktivitäten in Brasilien kaum Resonanz. Brasilien hat eine klare Präferenz für eine multipolare globale Ordnung und für eine Diversifizierung seiner Partnerschaften. GG erscheint bislang eher als diskursive Antwort auf den Wettbewerb mit China, mit der die EU ambitionierte Standards setzen möchte, ohne jedoch die notwendigen finanziellen Mittel sowie eine effiziente und kohärente Umsetzung sicherzustellen.
Komplexe Finanzierungsstrukturen
Für Partnerländer wie Brasilien ist die Komplexität der europäischen Finanzierungsinstrumente und -akteure nach wie vor schwer zu überblicken. Die »Team Europe«-Initiative, die eigentlich die Koordination unter ihren Akteuren stärken soll, konnte dies bisher nicht auflösen. Vor allem im Vergleich zu China sind die Entscheidungs- und Umsetzungsprozesse aufgrund der zahlreichen Finanzierungsstrukturen häufig sehr lang. Im Rahmen der GG existiert noch keine umfassende Zusammenschau über den Umfang des finanziellen Engagements der EU und ihrer Mitgliedstaaten in Brasilien. In Einzelfällen sind Informationen über finanzielle Ambitionen und den Stand der Umsetzung auf Projektebene verfügbar, aber nicht in standardisierter, zusammengefasster Form. Das fragmentierte Bild europäischer Investitionen in Brasilien und anderen lateinamerikanischen Staaten erschwert es, ihre Gesamtwirkung zu bestimmen.
Auch China stellt Daten zur Finanzierung von Projekten in Brasilien nicht transparent zur Verfügung. Dennoch könnte man gerade von der EU erwarten, dass sie Investitionen gebündelt auswertet. Der Mangel an aggregierten Daten beeinträchtigt auch die strategische Kommunikation: Ohne klare Darstellung der Summen und Wirkungsbereiche europäischer Investitionen in Brasilien fällt es schwer, deren Mehrwert gegenüber chinesischen Initiativen überzeugend zu präsentieren. Das schwächt die EU darin, ihre Rolle als starker Partner in globalen Investitionsfragen zu behaupten, und schmälert die Möglichkeiten, ihre Prinzipien Nachhaltigkeit, Transparenz und wertebasierte Zusammenarbeit als attraktives Unterscheidungsmerkmal hervorzuheben. Das Potential, europäischen Kooperationsangeboten durch strategische Kommunikation mehr Glaubwürdigkeit und Durchschlagskraft zu verleihen, wird bisher nicht ausgeschöpft.
Unzureichende außenpolitische Flankierung des EGD
Brasilien und andere Partner nehmen die Klimadiplomatie der EU aktuell als wenig kooperativ wahr. Statt Knowhow und klimafreundliche Technologien zu teilen, setze die EU auf Druck und »unilaterale Handelsmaßnahmen«, so die Kritik Brasiliens. Die EU hat die externe Dimension des European Green Deal bisher weitgehend vernachlässigt. Daher haben internationale Auswirkungen europäischer Klimaschutzinstrumente wie des CO2-Grenzausgleichsmechanismus (Carbon Border Adjustment Mechanism, CBAM) heftige diplomatische Verwerfungen erzeugt, mit weitreichenden Folgen für das globale Ansehen und die Soft Power der EU. Brasilien gehört zu den schärfsten Gegnern des CBAM und wehrt sich geschlossen mit seinen BRICS+-Partnern dagegen. Der CBAM sei »diskriminierend«, gefährde ohne finanzielle Unterstützung und flexible Gestaltung die wirtschaftliche Entwicklung außerhalb der EU und behindere die globalen Bemühungen um weniger Treibhausgasemissionen eher, statt sie zu fördern.
Auch die Verordnung der EU für entwaldungsfreie Produkte (EU-Regulation on Deforestation-free Products, EUDR) hat diplomatische Spannungen mit Brasilien verursacht. Die Verordnung, die fast ein Drittel der brasilianischen Exporte in die EU betreffen könnte, ist einer der Hauptstreitpunkte in den Verhandlungen zum Mercosur-Abkommen. Brasilien und andere Partnerländer kritisieren die EUDR als protektionistische Maßnahme, die nationale Gesetze zur Bekämpfung der Entwaldung ignoriere und Länder mit Waldressourcen benachteilige. Nachdem Brasilien die EU offiziell aufgefordert hatte, die EUDR nicht wie geplant umzusetzen, hat das Europäische Parlament im November insistiert, die eigentlich bereits beschlossenen Vorschriften bis 2025 auszusetzen und inhaltlich zu ändern.
Die fehlende außenpolitische Flankierung des EGD und der daraus resultierende Widerstand gegen einzelne Maßnahmen wie den CBAM und die EUDR erschweren seine Umsetzung. Darüber hinaus untergraben sie das Vertrauen in die EU als Vorreiter und fairen Vermittler. Mit dem unter Trump bevorstehenden Ausstieg der USA aus dem Pariser Klimaabkommen könnte sich diese Kritik in multi- und plurilateralen Foren noch stärker allein auf die EU richten. Das würde die Bedingungen für EU-Klimadiplomatie in den Klimaverhandlungen verschlechtern und sie auch insgesamt außenpolitisch schwächen.
Fehlende strategische Vision für die Zusammenarbeit
Die Ankündigungen der EU, ihr Engagement in Brasilien zu steigern, erscheinen primär geopolitisch motiviert und sind als Versuch zu verstehen, dem wachsenden Einfluss Chinas entgegenzuwirken. Der Partnerschaftsansatz, der statt reaktiven Handelns eine proaktive, langfristige und ausreichend finanzierte Strategie vorsieht, geht noch nicht weit genug. Eine strategische Vision europäischer Ziele und Interessen in der Kooperation mit Brasilien, abseits von der Konkurrenz mit China, bleibt diffus und unzureichend kommuniziert. Das schränkt Wirksamkeit und Glaubwürdigkeit des EU-Engagements stark ein. Erschwerend kommt hinzu, dass die Allianzen der EU-Mitgliedstaaten mit Brasilien vielfältig und ihre Interessen dort nicht immer deckungsgleich sind. Aus brasilianischer Sicht bleibt der Mehrwert der Zusammenarbeit mit der EU oft unklar. Daher richtet sich das Interesse Brasiliens zuvorderst auf bilaterale Beziehungen zu den EU-Mitgliedstaaten und deren meist als vielversprechender gesehene individuelle Kooperationsangebote.
Die strategischen Interessen der EU sind gefährdet
Der Ansehens- und Einflussverlust der EU in einer multipolaren Welt limitiert zusehends ihren Handlungsspielraum in Schwellenländern wie Brasilien und droht ihren Anspruch, globale Standards und Normen zu gestalten, langfristig zu konterkarieren. Schon jetzt steht dieser in Brasilien in Frage: Die EU wird als krisengeschüttelter Akteur dargestellt, dessen Strahlkraft schwindet. Ohne starke Präsenz in und belastbare Partnerschaften mit Schlüsselstaaten wie Brasilien wird es der EU immer schwerer fallen, ihre geoökonomische Widerstandsfähigkeit zu erhöhen, die Dekarbonisierung zu forcieren und im Wettbewerb um Marktanteile und technologische Führerschaft mitzuhalten.
Empfehlungen für die Legislaturperiode 2024–2029
Die EU sollte ihre diplomatischen Bemühungen gegenüber Brasilien intensivieren. Nötig sind eine aufmerksame und kontinuierliche Diplomatie sowie eine klare Definition und Priorisierung der strategischen EU-Interessen in Brasilien und anderen Ländern des Globalen Südens. Dabei sollte die EU auf Chinas wachsende Präsenz nicht bloß reagieren, sondern eine proaktive und kohärente Partnerschaftsstrategie verfolgen, deren Kern die Beziehungen zu Brasilien bilden und die auf gegenseitigem Vertrauen und einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe basiert. Dies erfordert ein umfassendes Verständnis und mehr Berücksichtigung der spezifischen politischen, ökonomischen und sozialen Prioritäten und Interessen des Partnerlands. Im Fall Brasiliens bedeutet das vor allem, die Zusammenarbeit in der Klima- und Energiepolitik vorrangig an sozioökonomischen Aspekten wie der Beseitigung von sozialer Ungleichheit, Armut und Hunger auszurichten sowie die lokale Wertschöpfung zu fördern.
Während die EU weiterhin eine normative Führungsrolle beansprucht, haben Partner wie Brasilien oft eigene Interpretationen ähnlicher Normen. Schlüsselfaktoren für einen erfolgreichen Dialog sind daher ein ausgeprägtes Bewusstsein für Unterschiede und Gemeinsamkeiten sowie eine Offenheit für gegenseitiges Lernen. Entscheidend ist ein horizontaler Ansatz, mit dem sich Grundsätze der Kooperation gemeinsam entwickeln lassen, um beidseitig vorteilhafte Partnerschaften zu etablieren. Das schließt ein, Stärken und Erfolge der Partnerländer anzuerkennen, etwa Brasiliens Führungsrolle bei Biokraftstoffen.
Um die politische Agenda der neuen Kommission erfolgreich umzusetzen, ist es essentiell, den EGD vermehrt außenpolitisch zu flankieren. Die externe Dimension des EGD sollte systematisch und strategisch weiterentwickelt werden, damit die Umsetzung nicht gefährdet und weitere diplomatische Verwerfungen mit wichtigen Partnerländern wie Brasilien vermieden werden. Dabei steht die neue Kommission vor der Herausforderung, alle bestehenden internationalen Klimapolitikinstrumente mehr auf die Ziele des EGD auszurichten.
Gerade im Hinblick auf den stärker wettbewerbspolitischen Fokus der Kommission könnte die GG-Initiative strategischer eingesetzt werden, um den Widerstand gegen CBAM oder EUDR zu verringern. Dafür muss sie sinnvoller in die entstehende industrielle und wirtschaftliche Sicherheitsstrategie der EU integriert werden und einer für Brasilien und die EU vorteilhaften Agenda dienen. Eine GG-Initiative, die dazu beiträgt, die Entwicklungs-, Klima-, Handels- und Investitionsagenda der EU besser mit Brasiliens Interessen und Prioritäten zu verbinden, könnte das Vertrauen in die EU als Vorreiter und fairen Vermittler wiederherstellen.
Zusätzlich sollte die EU ihre Finanzierungskanäle und -strukturen effektiver koordinieren und Komplexität abbauen. Hilfreich wäre, eine Länderplattform zu schaffen, welche die brasilianische Regierung mit relevanten EU-Akteuren zusammenbringt. Sie könnte einen ganzheitlichen Überblick über die verschiedenen Finanzierungskanäle gewährleisten, Lücken sowie Synergien identifizieren, und den Zugang zu Finanzierung erleichtern. Für Brasilien könnte dies in der Energiezusammenarbeit erprobt werden.
Begleitend zu diesen Maßnahmen sollte die Gesamtwirkung europäischer Finanzierung strategischer kommuniziert werden. Der Aufbau einer öffentlich zugänglichen Datenbank, welche die EU-Investitionen und die ihrer Mitgliedstaaten in relevanten Sektoren Brasiliens und anderer Partnerländer erfasst, wäre ein geeignetes Mittel, um den positiven europäischen Beitrag sichtbar und die Gesamtwirkung der Investitionen mit Initiativen wie der chinesischen BRI vergleichbar zu machen. Dies ist gerade im Kontext aufkommender Handels- und diplomatischer Konflikte um Maßnahmen wie dem CBAM wichtig, um die Glaubwürdigkeit und Attraktivität der EU als Partner in Brasilien zu erhöhen und die von der EU angestrebte Führungsrolle im Klimaschutz zu untermauern. Bedeutsamer wird strategische Kommunikation auch deshalb, weil China seit den US-Wahlen das Narrativ der globalen Klimaführung energischer für sich zu beanspruchen versucht. Das künftige Ringen um dieses Narrativ zeichnete sich bereits bei der COP29 in Baku ab.
In Europa steht ein neuer politischer Zyklus bevor, mit neuen Mandaten für das Europäische Parlament und die Europäische Kommission. Das eröffnet die Chance, eine integrierte Agenda zu formulieren, welche die Klimaziele mit geoökonomischer Widerstandsfähigkeit und Handelsinteressen verbindet, ohne die nationalen Ziele und entwicklungspolitischen Implikationen für Partnerländer wie Brasilien aus dem Blick zu verlieren. Notwendig sind klar kommunizierte Prioritäten und Angebote, ein kontinuierliches politisches Engagement auf Augenhöhe, zusätzliche finanzielle Ressourcen und eine stärker außenpolitische Flankierung des EGD. Nur so lässt sich verhindern, dass die EU in einer zunehmend multipolaren Welt weiter an Einfluss verliert.
Jule Könneke ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Globale Fragen und leitet das Projekt »Deutsche Klimadiplomatie im Kontext des European Green Deal«. Die Autorin dankt Paul Bochtler für die Unterstützung bei der Auswertung der Daten.
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DOI: 10.18449/2024A62