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Russlands Wirtschaft am Wendepunkt

Mit dem Ende des russischen Kriegsbooms steigen die wirtschaftlichen Risiken für den Kreml

SWP-Aktuell 2024/A 59, 26.11.2024, 4 Seiten

doi:10.18449/2024A59

Forschungsgebiete

Die Militärausgaben Russlands werden 2025 erneut beträchtlich wachsen. Sowohl die Rüstungsproduktion als auch die Rekrutierung neuer Soldaten erfordern immer größere Anstrengungen. In Teilen der russischen Wirtschaft hat die hohe staatliche Nachfrage in den vergangenen zwei Jahren einen Kriegsboom ausgelöst. Die Einkommen sind stark gestiegen, und es herrscht Aufbruchstimmung. Aufgrund des Arbeits­kräftemangels und der westlichen Sanktionen ist das Wirtschaftswachstum im Laufe dieses Jahres jedoch zum Erliegen gekommen, während sich eine hartnäckige Infla­tion eingestellt hat. Die Zentralbank kämpft mit hohen Zinsen gegen die Preisspirale an, was die Wirtschaft bremst, die Inflation aber noch nicht dämpfen konnte. Mit Blick auf das Jahr 2025 trüben sich die Konjunkturaussichten weiter ein, wodurch Russland krisenanfälliger wird. Neue Sanktionen oder auch ein niedrigerer Ölpreis könnten eine Rezession in Gang setzen.

Am 21. November 2024 verabschiedete die rus­si­sche Staatsduma den föderalen Haus­halt für das kommende Jahr. Geplant ist, die Ausgaben für das Militär noch einmal deut­lich aufzustocken: Der Verteidigungshaushalt soll um ein Viertel auf 13,5 Billio­nen Rubel steigen. Nach aktu­ellem Wechsel­kurs ent­spricht das 130 Milli­arden Euro. Diese Zahl mag angesichts des Krieges in der Ukraine gering erscheinen, allerdings ist die Kauf­kraft der Ausgaben in Russland weitaus größer. Auf deutsche Verhältnisse übertragen, würde der russi­sche Vertei­digungsetat näherungsweise 350 Milliarden Euro umfassen.

Die gesamten Militärausgaben werden wie schon im Jahr 2024 zwischen 7 und 8% des russischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen, ein Rekord in der postsowjetischen Geschichte Russlands. Im letzten Haushalt vor der Vollinvasion im Jahr 2021 hatten die Militärausgaben noch bei 3,6% des BIP gelegen. Wie groß der Anteil des Krieges an den staatlichen Ausgaben tat­sächlich ist, lässt sich immer weniger trenn­scharf bestimmen. Der Angriff auf die Ukraine treibt auch die nichtmilitärischen Ausgaben in die Höhe, etwa im Gesundheitssystem oder für staatliche Baumaßnahmen in den besetzten ukrainischen Gebieten.

Zu Beginn der Vollinvasion im Jahr 2022 konnten die Mehrausgaben für den Krieg durch einen historischen Boom beim Energieexport finanziert werden. Seit 2023 sprudeln diese Einnahmen nicht mehr wie zuvor, weil die Preise auf internationalen Rohstoffmärkten gefallen sind und west­liche Sanktionen zu Einbußen führen. Des­halb verzeichnen die öffentlichen Kassen Defizite, die indes mit etwa 2% des BIP bis­lang für Russland nicht bedrohlich sind. Fehlbeträge in dieser Höhe können noch für mehrere Jahre aus dem Nationalen Wohlfahrtsfonds und durch Neuverschuldung finanziert werden.

Ab 2025 sollen Steuererhöhungen dafür sorgen, dass die öffentlichen Kassen trotz wachsender Militärausgaben strukturell aus­geglichen sind: Für Gutverdiener wird die Einkommensteuer, für Unternehmen die Gewinnsteuer erhöht. Zusätzliche Ein­nahmen bringen auch stark steigende Importgebühren für Autos und Lastwagen. Gleichzeitig fallen im kommenden Jahr die Sozialausgaben spürbar, aber nicht wegen Leistungskürzungen, sondern weil die Zahl der Rentner zurückgeht. Grund dafür sind die schrittweise Anhebung des Rentenalters und hohe Covid-Todeszahlen. Ob das Defizit der öffentlichen Kassen tat­sächlich schrumpft wie geplant, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden: Seit Beginn der Vollinvasion im Jahr 2022 waren die Aus­gaben stets merklich höher als vorgesehen.

Kriegsboom stößt an Grenzen

Die erheblich gestiegene Nachfrage nach Rüs­tung und anderen Kriegsgütern hat in vielen russischen Regionen einen kräf­tigen Aufschwung bewirkt. Russlands Indus­trieproduktion legte im Vergleich zum Vorkriegsjahr 2021 deutlich zu. Die Aus­weitung entfiel dabei fast ausschließlich auf Sektoren, die mit der Rüstungs­industrie verbunden sind. Rüstungsgüter werden nicht separat erfasst, sondern Kate­gorien wie »Sonstige Metallerzeugnisse« zugeordnet, deren Produktion sich seit 2021 fast verdreifacht hat.

In der russischen Rüstungsindustrie laufen die entscheidenden Fertigungslinien inzwischen rund um die Uhr. Das erklärt den Großteil des Produktionsanstiegs. Nach Angaben des russischen Vizepremiers Denis Manturow haben die russischen Rüstungskonzerne dafür seit 2023 rund 520.000 Arbei­­ter neu eingestellt, wobei weitere 160.000 Stellen unbesetzt sind.

Im Laufe des Jahres 2024 aber ist die Pro­duktion laut offizieller Sta­tis­tik lang­samer gewachsen. Der Mangel an Facharbeitern dürfte ein wesentlicher Grund dafür sein. Außer­dem ist der Bau neuer Anlagen zeit­aufwendig und wird durch westliche Sank­tionen zumindest erschwert, weil sich spezialisierte Maschinen nicht mehr ohne Weiteres importieren lassen.

Selbst die gestiegene Produktion reicht in manchen Bereichen nicht aus, um den Materialverschleiß an der Front zu ersetzen. Das zwingt Russland, Waf­fen aus Iran und Nordkorea zu importieren (siehe SWP-Aktu­ell 53/2024). Außerdem kann die russische Rüstungsindustrie bei einigen Systemen nur deshalb hohe Stück­zahlen liefern, weil sie sich an den großen Altbeständen aus Sowjetzeiten bedient. Nur rund 20% der produzierten Panzerfahrzeuge sind von Grund auf neu hergestellt. Damit zehrt Russland noch heute von den Staatsausgaben längst ver­gangener Jahre, um seinen Krieg gegen die Ukraine führen zu können.

Auch die Rekrutierung neuer Soldaten hat sich nach offiziellen Angaben verlangsamt und ist wesentlich teurer geworden. Laut russischem Verteidigungsministerium wur­den 2023 insgesamt 540.000 Solda­ten neu rekrutiert. Von Januar bis Juli 2024 kamen laut dem Stellvertretenden Vor­sitzenden des russischen Sicherheitsrates, Dmitri Med­we­dew, noch einmal 190.000 Rekruten hinzu. Diese Zahlen lassen sich kaum über­prüfen, werden aber von Indi­zien wie den Budgetausgaben für die Rekru­tierung gestützt.

Abgesehen von der Teilmobilmachung im Herbst 2022 versucht die russische Regierung, die Rekrutierung größtenteils auf freiwilliger Basis und durch üppige Geld­­prämien zu erreichen, auch wenn Zwang oder Druck lokal eine Rolle spielen können (siehe SWP-Aktuell 26/2024). Noch finden sich genügend Freiwillige, um die personellen Verluste an der Front zumindest zahlen­mäßig auszugleichen.

Die Bonuszahlungen für Neulinge sind allerdings im Laufe des Jahres 2024 in den meisten Regionen exorbitant gestiegen. Das deutet auf Probleme bei der An­werbung hin. Beispielsweise erhalten Rekruten in der Region Nischni Nowgorod bei Unterschrift einen regionalen Bonus von 2,6 Millionen Rubel (25.000 Euro bzw. 68.000 Euro nach Kaufkraftparität). Das ist ein Vielfaches des durchschnittlichen Monatsgehalts, das in der Region bei 66.000 Rubel liegt. Anfang 2024 hatte sich der Bonus für Rekruten noch auf 50.000 Rubel belaufen, bevor er im März auf 500.000 Rubel und im April auf eine Mil­lion Rubel erhöht wurde.

Wirtschaft überhitzt

Die enormen Ausgaben für den Krieg haben zu einem starken Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage geführt. Der rus­si­sche Finanzminister schätzt den Nachfrageimpuls in den Jahren 2022 bis 2024 auf insgesamt 10% des jährlichen BIP. Das sorg­te für hohe Wachstumsraten: 2023 stieg die Wirtschaftsleistung um 3,6%. In erster Linie ist das Wachstum mit den zwei Millionen neuen Jobs zu erklären, die seit Beginn der Vollinvasion geschaffen wurden, zum größten Teil in der Rüstungsindustrie und bei der Armee.

Doch die Grenzen dieses Wachstums­modells sind erreicht: Die Arbeitslosigkeit liegt mit 2,4% auf einem historischen Tiefst­stand, und es herrscht akuter Arbeits­kräftemangel. Zwar erwartet die russische Zentralbank auch für 2024 einen BIP-Zu­wachs von 3,5–4%. Allerdings geht der Großteil davon auf den statistischen Basis­effekt zurück, zeigt also eher die Dyna­mik des Vorjahres und nicht die aktuelle Situa­tion. Seit Anfang 2024 ist die russische Wirtschaft kaum noch gewachsen. Früh­indikatoren wie der S&P-Einkaufsmanager­index für die russische Industrie ließen bereits im September 2024 auf einen Rück­gang der Produktion schließen – zum ersten Mal seit 2022.

Der Arbeitskräftemangel wird durch die russische Demographie verschärft. Jedes Jahr schrumpft die Bevölkerung in der Altersgruppe von 20 bis 65 Jahren um rund eine Million Menschen. Die graduelle An­hebung des Rentenalters kann diesen Trend nur teil­weise kompensieren. Hinzu kommt, dass die Arbeitsmigration nach Russland seit Beginn der Vollinvasion auf den nied­rigsten Stand seit zehn Jahren gefallen ist. Das liegt auch an den zunehmenden Schi­kanen und Berufsverboten, mit denen Migranten in Russland konfrontiert sind.

Für die meisten Beschäftigten in Russland ist der Mangel an Arbeitskräften erst einmal eine gute Nachricht, denn er hat die Einkommen rapide ansteigen lassen. Die durchschnittlichen Gehälter stiegen 2024 um 19% gegenüber dem Vorjahr. In der Rüstungsindustrie werden diese Zu­wächse teilweise noch merklich übertroffen: So erhöhte Russlands größter Panzerhersteller Uralwagonsawod die Gehälter im Mai um 12% und im August erneut um 28%.

Die steigenden Löhne sorgen für Optimismus in der russischen Bevölkerung. In den vergangenen Jahren wurde deutlich mehr für Konsumgüter ausgegeben. Doch auch die Preise klettern immer weiter: Im Oktober 2024 lag die saisonbereinigte Kern­inflationsrate annualisiert bei 9,7%. Mit­verantwortlich für die Inflation sind die westlichen Sank­tionen. Sie ver­teuern die Einfuhr nach Russland, weil Logistik und Abwicklung interna­tio­naler Zahlungen komplizierter geworden sind. Zugleich fallen die Export­­einnahmen bei Erdöl, Kohle und Gas, was den Rubel schwächt und so die Einfuhrpreise weiter erhöht.

Um die Preissteigerungen in den Griff zu bekommen, hat die russische Zentralbank den Leitzins schrittweise von 7,5% im Juli 2023 auf 21% im November 2024 angehoben, dem höchsten Niveau seit 25 Jahren. Das bringt immer stärkeren Gegenwind für die Wirtschaft, weil es die Zinskosten der Unternehmen in die Höhe treibt und die Nachfrage senkt. Besonders die Bauindu­strie steht vor einem tiefen Fall: Zum einen sind die Hypo­thekenzinsen auf über 30% gestiegen. Zum anderen wurden im Sommer 2024 staatliche Subventionen für Wohnungskredite zusammengestrichen.

Die Inflation in Russland lässt sich bis­lang von der abkühlenden Konjunktur nicht beeindrucken und bleibt un­verändert hoch. Deswegen denkt die Zentralbank über weitere Zinsanhebungen nach. Mit Blick auf das kommende Jahr wird in Russ­land immer häufiger das Szenario einer Stagflation diskutiert – also hoher Infla­tionsraten bei wirtschaftlicher Stag­nation.

Angeschlagen ins neue Jahr

Mit abkühlender Konjunktur dürfte auch der Anstieg der Einkommen in Russ­land erst einmal vorüber sein. Allerdings bleiben Arbeitskräfte weiterhin knapp und die Arbeitslosigkeit gering. Nach drei Jahren mit kräftigen Lohnzuwächsen wird deshalb eine Kon­junkturflaute die russische Bevöl­kerung im Durchschnitt nicht hart treffen, auch wenn Preissteigerungen bei Lebensmitteln Unmut erzeugen. Aufgrund der hohen Zinsen ist indes mit einer Welle von Unternehmensinsolvenzen zu rechnen. Außer­dem könnten verschuldete Haushalte im kommenden Jahr in große finanzielle Schwie­rigkeiten geraten.

Darüber hinaus ist zu erwarten, dass die Bilanz des russischen Staats­haushalts spür­bar schlechter ausfällt als geplant. Die Ein­nahmenschätzungen basie­ren auf den Pro­gnosen des Sommers und gehen von 2,5% Wachstum im Jahr 2025 aus. Zur­zeit rech­net die Zentralbank nur noch mit 0,5–1,5%. Gleichzeitig las­sen die hohen Zinsen die Ausgaben steigen, da ein großer Teil der Staatsschulden vari­abel verzinst ist. Aus diesem Grund wird das Finanzministerium versuchen, mehr Ausgaben im nichtmili­tärischen Bereich zu kürzen und Inves­titio­nen in die Zukunft zu verschieben.

Auch wenn die wirtschaftlichen Probleme den Optimismus in der russischen Bevöl­kerung bremsen und poli­tische Ziel­konflikte in der Regierung verursachen könnten, ist die Kriegsführung davon nicht unmittelbar betroffen. Hier sind vor allem der Erfolg der Rekrutierung und die physi­schen Möglichkeiten der Rüstungsindustrie entscheidend. Letztere hängen unter ande­rem von den Restbeständen sowjetischer Panzerfahrzeuge ab. Je nach Waffengattung sind diese Bestände erheblich geschrumpft. Bei einigen Waffensystemen dürfte es schon 2025 schwieriger werden, die Pro­duktionsmengen aufrechtzuerhalten. Um den Krieg in der gleichen Intensität weiter­führen zu können, müsste Russland die Produktionskapazitäten noch einmal deut­lich erhöhen.

Wie groß die wirtschaftlichen Schwierigkeiten für Russland 2025 tatsächlich werden, hängt außerdem vom Ölpreis ab. Ein Ein­bruch der Exporterlöse würde die Situation beträchtlich verschärfen. Die Zentralbank könnte ihn kaum abfe­dern, weil der Groß­teil der Währungsreserven durch Sanktionen eingefroren ist. Damit wären eine starke Rubelabwertung, ein neuer Schub für die Inflation und eine Rezession unausweichlich.

Die wirtschaftliche Situation macht Russland 2025 auch anfälliger für neue Sanktio­nen. Angesichts des gut versorgten Ölmarktes bietet sich bei den russischen Ölexporten eine Verschärfung der Maßnahmen an. Zudem könnten die Sanktionen auf weitere wichtige russische Export­güter wie Flüssiggas oder Dünge­mittel ausgeweitet werden. Für Russlands Kriegs­maschine bleibt darüber hinaus der Zugang zu importierten Dual-Use-Gütern und Maschinen ausschlaggebend. Über Dritt­länder, allen voran China, bezieht Russland nach wie vor große Mengen west­licher Kom­ponenten, die es für die eigene Rüstungsproduktion braucht. Deshalb sollte noch mehr Druck auf diese Staaten und die betei­ligten Unternehmen ausgeübt werden.

Dr. Janis Kluge ist Stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

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