Im September 2024 soll beim Zukunftsgipfel der Vereinten Nationen der globale Digitalpakt verabschiedet werden. Der Pakt wird zentrale Themen der internationalen Digitalpolitik aufgreifen, vom Zugang zu digitalen Technologien bis hin zu regulatorischen Herausforderungen Künstlicher Intelligenz. Gleichzeitig soll der Pakt dazu dienen, die Rolle der VN in diesem Bereich neu zu bestimmen. Bislang bleibt aber vieles vage, und die Klärung strittiger Fragen wird in Folgeprozesse ausgelagert. Für die deutsche Politik geht es um viel, gilt es doch, das übergeordnete Ziel »Stärkung der VN« mit jenen Zielen für die internationale Digitalpolitik zu verbinden, welche gerade erst innerhalb der Regierung vereinbart wurden. Entscheidend dafür wird sein, Rückschritte bei Themen wie Menschenrechtsschutz und Nachhaltigkeitspolitik zu verhindern und Leitplanken für die Ausgestaltung des Folgeprozesses zu setzen.
Die internationale Digitalpolitik umfasst all jene Aktivitäten, die über das Geschehen in einzelnen Staaten hinaus zum Ziel haben, Macht über die Entwicklung und Nutzung digitaler Technologien zu gewinnen, zu erhalten und auszuüben. Staaten versuchen, mit Hilfe der Kontrolle über digitale Technologien Macht auch über ihre eigenen Grenzen hinaus zu projizieren. Zudem macht die enorme Konzentration wirtschaftlicher Macht in den Händen weniger großer Konzerne diese de facto ebenfalls zu Akteuren der internationalen Digitalpolitik. Einfluss auf die globale digitale Ordnung nehmen sie in erster Linie durch ihre Produkte und Dienstleistungen, die immer auch politische Wertvorstellungen verkörpern.
Die Vereinten Nationen (VN) spielen in der internationalen Digitalpolitik bisher eine eher überschaubare Rolle, obwohl sich immer deutlicher zeigt, dass digitale Technologien direkte und weitreichende Folgen für Kernthemen der VN haben: von neuen Herausforderungen für Friedenssicherung und den Schutz der Menschenrechte ebenso wie etwa Fragen nachhaltiger Entwicklung.
Es scheint, dass VN-Generalsekretär António Guterres sich dessen bewusst ist. Seit nun schon sechs Jahren treibt er einen Prozess voran, mit dem die Rolle der VN in der Gestaltung digitaler Technologien neu bestimmt werden soll. Beim Zukunftsgipfel der VN im September 2024 soll der sogenannte Global Digital Compact (GDC, zu Deutsch etwa globaler Digitalpakt) beschlossen werden.
Für die Bundesregierung bietet sich hier eine besondere Gelegenheit, im globalen Rahmen der VN die Erfüllung jener Ziele zu forcieren, die sie sich Anfang 2024 mit ihrer Strategie für die Internationale Digitalpolitik gesetzt hat. Zum einen betrifft dies substantielle Ziele, etwa Achtung, Schutz und Gewährleistung der Menschenrechte im digitalen Raum, die Beteiligung aller Stakeholder an der Internet-Governance oder den verantwortungsvollen Umgang mit Künstlicher Intelligenz (KI). Zum anderen wird es aber auch darauf ankommen, eine Antwort auf die grundsätzliche Frage zu finden, welche Rolle den Vereinten Nationen in diesem Bereich zukommen sollte.
Der politische Kontext
Die derzeitigen Verhandlungen über einen globalen Digitalpakt laufen vor dem Hintergrund sich verschärfender Konflikte über die globale digitale Ordnung. Mittlerweile ist allen Regierungen klar, welch weitreichende politische Bedeutung digitale Technologien haben. Sie werden als neues Machtinstrument verstanden, sowohl nach innen gegenüber der eigenen Bevölkerung als auch zwischen den Staaten. In mindestens viererlei Hinsicht fügen sie bestehenden Konflikten eine neue Dimension hinzu:
Erstens haben digitale Technologien große Bedeutung in der geopolitischen Auseinandersetzung zwischen den USA und China. Technische Überlegenheit gilt hier als Grundlage dafür, politische, wirtschaftliche und militärische Macht auch über die Grenzen des eigenen Landes hinaus zu entfalten (siehe SWP-Studie 1/2020).
Zweitens verschärfen digitale Technologien die wirtschaftlichen Machtasymmetrien zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden. Diese Technologien werden großteils im globalen Norden entwickelt, sodass dort auch die entsprechende Wertschöpfung stattfindet. Immer lauter werden daher die Stimmen aus dem globalen Süden, die eine neue Form des Kolonialismus, nämlich eines digitalen, befürchten.
Drittens sind es nur einige wenige, aber außerordentlich mächtige Unternehmen, die den Digitalbereich beherrschen. Skalen- und Netzwerkeffekte haben eine derartige Konzentration von Marktmacht herbeigeführt, dass diese nun auch in politische Macht umschlägt. In vielen Ländern, nicht nur des globalen Südens, hat dies Diskussionen über »digitale Souveränität« befeuert.
Viertens schließlich offenbart sich im Wettstreit demokratischer und autokratischer Systeme nur allzu deutlich die Ambivalenz digitaler Technologien. Einerseits entstehen durch sie neue Partizipationsformen und Informationskanäle. Andererseits ermöglichen sie es, Überwachung, Repression und Desinformation auszuweiten und auf diese Weise demokratische Normen und Verfahren auszuhöhlen.
All diese Konflikte sind von erheblichen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Staaten geprägt, die sowohl unmittelbare materielle Interessen als auch Wert- und Ordnungsvorstellungen betreffen. Entsprechend ernüchternd ist die Bilanz bisheriger Bemühungen der VN. Langjährige Debatten etwa über »verantwortungsvolles Staatenhandeln im Cyberspace« brachten bis jetzt nur sehr allgemeine Handlungsempfehlungen hervor. Verhandlungen über die Regulierung autonomer Waffensysteme endeten ergebnislos. Und die seit zwei Jahren laufenden Verhandlungen über eine Cybercrime-Konvention drohen aufgrund massiver Differenzen unter den Staaten zu scheitern. Schon dieser kurze Überblick veranschaulicht, dass die Einigung auf einen umfassenden Digitalpakt im Kreis aller Mitgliedstaaten der VN eine äußerst anspruchsvolle politische Aufgabe ist.
Der Weg bis zum Zero Draft
Anfang April 2024 wurde ein erster Entwurf (Zero Draft) für einen globalen Digitalpakt vorgelegt. Nach öffentlichen Diskussionen und ersten Verhandlungen zwischen den Staaten gibt es nun eine überarbeitete Fassung. Dem Entwurf vorausgegangen war eine Reihe von Dokumenten, die in unterschiedlichem Maße Spuren im Entwurf hinterlassen haben:
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Im Jahr 2018 setzte VN-Generalsekretär Guterres ein High-level Panel on Digital Cooperation ein, das unter der Leitung von Melinda Gates und des chinesischen Internet-Unternehmers Jack Ma einen Bericht mit dem Titel »The Age of Digital Interdependence« erarbeitete.
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Die darin enthaltenen Vorschläge bildeten die Grundlage für die von Guterres im Juni 2020 präsentierte Roadmap for Digital Cooperation.
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Im Januar 2021 schuf Guterres den in der Roadmap vorgesehenen Posten eines Sondergesandten für Technologie (Envoy on Technology). Seit Juli 2022 bekleidet der indische Diplomat Amandeep Singh Gill diese Position.
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Im September 2021 unterbreitete der Generalsekretär in seiner Zukunftsvision für die VN, Our Common Agenda, einen Vorschlag für einen High-level Track zu digitalen Technologien, schon damals mit dem Ziel eines globalen Pakts.
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Im Oktober 2022 wurden Schweden und Ruanda zu Verantwortlichen für die Organisation des Verfahrens (Ko-Fazilitatoren) zur Vorbereitung des GDC ernannt. Sie organisierten einen breit angelegten Beratungs- und Konsultationsprozess, in dem sowohl Staaten als auch nichtstaatliche Stakeholder in mehreren Phasen schriftliche und mündliche Beiträge einreichten. Als Beitrag zu den Beratungen publizierte das Büro des Generalsekretärs im Mai 2023 einen Policy Brief mit Vorschlägen für Prinzipien, Ziele und Maßnahmen in einem Global Digital Compact. Die Ko-Fazilitatoren wiederum legten im September 2023 ein Issue Paper vor, in dem sie die Themen bündelten, die bis dahin in den Diskussionen aufgekommen waren. Im Oktober 2023 übernahmen Sambia und Schweden die Rolle als Ko-Fazilitatoren für die Erarbeitung des ersten Entwurfs. Parallel zu den Konsultationen über den globalen Digitalpakt liefen innerhalb der VN Prozesse zum Thema KI. In der Generalversammlung wurde nicht zuletzt auf Betreiben der USA über eine Resolution zu KI verhandelt. Sie erhielt den Titel »Seizing the opportunities of safe, secure and trustworthy artificial intelligence systems for sustainable development« (A/RES/78/265) und wurde im März 2024 ohne Abstimmung angenommen. Im Oktober 2023 setzte Guterres außerdem ein High-level Advisory Body on Artifical Intelligence ein, dessen Empfehlungen in den GDC einfließen.
Zentrale Verhandlungsgegenstände
Der Text des GDC in der zurzeit aktuellen Fassung vom 26. Juni 2024 setzt für die VN fünf übergreifende Ziele, denen jeweils Verpflichtungen und Handlungsempfehlungen zugeordnet sind. So soll der GDC dazu beitragen, (1) die digitale Spaltung (»digital divide«) beim Zugang zu Technologien zu überwinden, (2) eine inklusivere Form der digitalen Wirtschaft zu befördern, (3) auch im digitalen Raum die Menschenrechte zur Geltung zu bringen, (4) international einen gerechteren Umgang mit Daten und einen interoperablen Datenaustausch zu ermöglichen und schließlich (5) die internationale Governance von »emerging technologies« wie KI zu stärken. Der Entwurf endet mit einem Abschnitt zum Folgeprozess.
Der GDC umfasst also eine Vielzahl von Themen. Ohne alle Facetten abzudecken, werden im Folgenden einige besonders wichtige Verhandlungsgegenstände hervorgehoben.
Viele vage Ziele, wenige konkrete Festlegungen
Die Struktur des GDC ist darauf ausgerichtet, dass die Staaten sich auf geeignete Maßnahmen verpflichten, um die genannten fünf Ziele zu erreichen. Bei allen Maßnahmen ist zudem ausgewiesen, wie diese zugleich helfen sollen, konkrete Ziele nachhaltiger Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) zu erfüllen.
Es werden also Staaten sein, die einen Großteil der Umsetzung tragen müssen. Hinzu kommen einige Aufträge an einzelne Arbeitseinheiten des VN-Systems. Hier zeigt sich ein grundsätzliches Spannungsverhältnis. Damit der GDC Wirkung entfalten kann, müssen möglichst konkrete Festlegungen getroffen werden. Doch je konkreter sie sind, umso heftigere Kontroversen lösen sie aus.
Positiv hervorzuheben ist das klare und umfassende Bekenntnis zu den Menschenrechten (Abschnitt 22). Die Aktivitäten der VN sollen hier durch einen neuen Digital Human Rights Advisory Service verstärkt werden, der beim Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) (Abschnitt 24) angesiedelt sein soll. In der neuesten Fassung ist zudem das Vorhaben aufgeführt, gemeinsam mit relevanten Stakeholdern Methoden zur Messung genderspezifischer digitaler Gewalt zu erarbeiten (Abschnitt 30 (e)).
Auch bei der Frage des Zugangs zu digitalen Technologien finden sich einige konkrete Festlegungen. Dieser Punkt ist gerade für die Länder des globalen Südens von großer Bedeutung. Die Staaten sollen sich verpflichten, bis zum Jahr 2030 alle Schulen weltweit mit dem Internet zu verbinden. Verknüpft wird diese Festlegung mit dem Verweis auf bestehende einschlägige Aktivitäten im VN-System (Abschnitt 11 (d)).
Deutlich unschärfer erscheinen indes die Konturen des weiteren Vorgehens, wenn es darum geht, die digitale Spaltung beim Zugang zu digitalen Technologien zu überwinden. So heißt es lediglich, dass bis 2030 zunächst eine Verständigung erreicht werden soll, welche qualitativen und quantitativen Indikatoren für Konnektivität den Maßnahmen zugrunde gelegt werden sollen (Abschnitt 11 (a)). Angesichts der Dringlichkeit des Themas und bereits geleisteter umfangreicher Vorarbeiten besteht das Risiko, dass mindestens fünf weitere Jahre keine wesentlichen Fortschritte erreicht werden.
An vielen weiteren Stellen bleibt der Entwurf ebenfalls vage oder lässt erkennen, dass die notwendige Klärung diverser Punkte in die Zukunft verschoben wurde. Besonders auffällig ist dies etwa in den Abschnitten zu digitalen öffentlichen Gütern, zu einer inklusiveren Digitalwirtschaft oder zur Daten-Governance. Gerade bei dem letzten Aspekt zeigt sich exemplarisch, wie schwierig die Verhandlungen sind: So hat der Bezug auf das von der G7 über mehrere Jahre entwickelte Konzept Data Free Flow With Trust schon die ersten Beratungen nicht überstanden und ist in der neuen Fassung des Entwurfs nicht mehr enthalten. Das Konzept war zwar ausgereift, aber nicht mehrheitsfähig. Stattdessen wurde die Einigung über gemeinsame Normen in einen weiteren Beratungsprozess ausgelagert, der bis 2030 dauern soll.
Internet-Governance
Digitale Technologien sind mehr als das Internet, aber in einer sich stetig weiter vernetzenden Welt wird das Internet immer wichtiger. Die Verhandlungen über den GDC sind vor dem Hintergrund der Institutionen der globalen Internet-Governance zu betrachten, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat.
Prägend war dabei lange die Idee einer Multistakeholder-Governance, bei der alle relevanten Beteiligten auf Augenhöhe zusammenfinden sollen, um gemeinsame Lösungen für die Gestaltung und Weiterentwicklung des Internets zu finden. Nach der bis heute einschlägigen Definition des Weltgipfels zur Informationsgesellschaft (World Summit on the Information Society, WSIS) von 2005 zählen hierzu neben Staaten private Unternehmen, zwischenstaatliche und internationale Organisationen, die Zivilgesellschaft, die Wissenschaft und technische Expert:innen. Diese Idee hat auch Eingang in das VN-System gefunden. In Gestalt des Internet Governance Forum (IGF) wurde dort ein Multistakeholder-Format etabliert, das nun schon seit fast zwanzig Jahren existiert. Immer wieder wird allerdings diskutiert, ob das IGF den gesetzten Zielen gerecht wird. Sein aktuelles Mandat läuft 2025 aus.
Im Entwurf des GDC wird das IGF wohlwollend erwähnt. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der GDC auch dazu dienen soll, die Machtverhältnisse in der internationalen Digitalpolitik neu zu sortieren. Wenn Staaten sich in einem Pakt auf gemeinsame Ziele verpflichten, ist es nicht verwunderlich, dass ihre Interessen im Mittelpunkt stehen. Doch lässt sich der GDC auch so lesen, dass Staaten damit ihre Rolle gegenüber anderen Akteuren aufwerten wollen.
Besonders deutlich wird das mit Blick auf das IGF. Hieß es zuvor, alle Stakeholder sollten auf Augenhöhe zusammenkommen, schafft der GDC nun eine klare Hierarchie. So wird dem IGF nahegelegt, jährlich darüber zu diskutieren, welchen Beitrag es im Sinne der Ziele des GDC leisten kann. Zugespitzt bedeutet dies, dass die Staaten die Ziele vorgeben und das IGF sich auf Fragen der Umsetzung beschränken soll.
Dieser Versuch einer fundamentalen Umgestaltung der Strukturen der globalen Internet-Governance birgt Risiken: Einerseits droht er das vielfältige zivilgesellschaftliche Engagement in diesem Bereich zu ersticken. Entsprechend laut ertönen die Warnungen zivilgesellschaftlicher Akteure, weil sie das Multistakeholder-Modell prinzipiell in Frage gestellt sehen. Andererseits ist nicht zu erkennen, was der Pakt in der vorliegenden Form den großen Technologieunternehmen entgegensetzen könnte. Im Verhältnis zu diesen extrem einflussreichen Stakeholdern droht die angepeilte Machtverschiebung ins Leere zu laufen.
Künstliche Intelligenz und neue Technologien
Die Entwicklung Künstlicher Intelligenz verläuft derzeit enorm dynamisch und erfährt beträchtliche politische Aufmerksamkeit. In Anbetracht dessen enthält der GDC einen ausführlichen Abschnitt zu KI und zu deren globaler Governance. Doch auch hier ist ein Konsens derzeit anscheinend nur dadurch zu erreichen, dass auf möglichst vage Formulierungen ausgewichen wird. So soll KI-Governance »balanced« und »inclusive« sein sowie einem risikobasierten (»risk-based«) Ansatz folgen. Risiken von KI sollen beurteilt, angegangen und reduziert werden (Abschnitt 49 und 50). Begrüßt werden außerdem bestehende Bemühungen, KI »safe, secure and trustworthy« zu gestalten (Abschnitt 49 und 57). All diese Attribute sind nicht per se problematisch. Aber sie lassen so viel Raum für Interpretation, dass kein gemeinsames Ziel erkennbar wird.
Überdies wurde der aktuellen Textfassung eine Beschränkung auf den nichtmilitärischen Bereich hinzugefügt. Ausgeklammert ist damit die besonders heikle Frage der Nutzung von KI für militärische Zwecke (Abschnitt 49).
Auch wenn die Ziele nur ungenau bestimmt wurden, enthält der Teil zu KI drei Ansätze zu neuen Formaten der Kooperation. Der erste, nämlich der Vorschlag für ein International Scientific Panel on AI, beruht auf Forderungen aus den letzten Jahren, für Künstliche Intelligenz ein ähnliches Forum zu schaffen wie im Klimabereich das International Panel on Climate Change (IPCC). Das Panel soll jährliche Berichte erstellen, doch hier sind ebenfalls wesentliche Fragen zu Aufgaben, Zusammensetzung, Funktionsweise und Finanzierung des Panels ungeklärt und werden in einen separaten Prozess ausgelagert (Abschnitt 54 und 55). Mit der eindeutigen Beschränkung auf KI wurde eine Chance vertan: Hatte der erste Entwurf noch die Befassung mit weiteren »emerging technologies« vorgesehen, wurde diese Erweiterung mittlerweile gestrichen. Dies birgt die Gefahr, mit viel Aufwand ein Gremium zu schaffen, das schon für den nächsten Schritt der technologischen Entwicklung kein Mandat mehr hat.
Auch beim zweiten Vorschlag für eine neue Institution deutet sich in der Entwicklung vom Zero Draft bis zur aktuellen Version ein Rückschritt an: Hieß es in der ersten Fassung noch, jährlich solle ein Dialog »aller relevanten Stakeholder« stattfinden, wurde diese Passage in der aktuellen Version durch einen Dialog »aller Mitgliedstaaten« ersetzt. Wie in der Internet-Governance wird auch hier das Multistakeholder-Modell nachdrücklich in Frage gestellt.
Drittens schließlich soll ein neuer Fonds dazu dienen, Maßnahmen zum Kapazitätsaufbau zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele und für die Beseitigung von Ungleichheiten im Zugang zu KI zu finanzieren (Abschnitt 62). Er soll neue Ressourcen aus öffentlichen, privaten und philanthropischen Quellen generieren. Die erste Fassung des Textes enthielt noch einen Zielwert des Fonds von 100 Millionen US-Dollar. Diese Zahl wurde in der neuesten Version gestrichen. Stattdessen soll der Generalsekretär Konsultationen anregen und binnen zwölf Monaten über den Stand des Fonds berichten. Folglich ist unklar, inwiefern es überhaupt gelingen kann, substantielle Finanzmittel einzuwerben. Zum Vergleich: Allein Amazon und Microsoft haben in diesem Jahr schon über 40 Milliarden US-Dollar in KI-Projekte und Datenzentren investiert.
Follow-up- und Review-Prozess
Viele Teile des GDC sind Aufträge für die Zukunft, von der Spezifizierung noch allgemein gehaltener Ziele über den Aufbau neuer Institutionen bis hin zur Umsetzung in nationale Gesetze und Regierungsprogramme. Die Ausgestaltung des Follow-up- und Review-Prozesses ist daher entscheidend für die tatsächliche Wirksamkeit des GDC.
Bei der Gestaltung des Review-Prozesses haben sich die Ko-Fazilitatoren nach eigener Aussage und erkennbar am Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration (GCM) orientiert, der 2018 verabschiedet wurde. Dementsprechend sieht der Entwurf für den GDC ein High-level Review of the Global Digital Compact vor, das erstmals im Rahmen der 82. Generalversammlung stattfinden soll (Abschnitt 75), also ab September 2027. Alle wesentlichen Fragen zur Ausgestaltung dieses Treffens sollen in einem weiteren Prozess geklärt werden, der im Rahmen der 80. Generalversammlung ab 2025 beginnen soll.
In den institutionellen Vorkehrungen kommt dem VN-Generalsekretär die Hauptrolle zu. Gemäß dem Entwurf des GDC soll er einen Umsetzungsplan sowie im Jahr 2026 einen Bericht über die Fortschritte bei der Umsetzung des Digitalpakts vorlegen (Abschnitt 76). Geplant ist außerdem, unter dem Generalsekretariat ein Büro einzurichten, das alle Prozesse im VN-System koordinieren soll. Das Büro soll auch die Aktivitäten des Büros des Sondergesandten für Technologie integrieren und seine Tätigkeit damit verstetigen.
Grundfragen zum Verhältnis der Prozesse in New York und der Multistakeholder-Prozesse rund um das IGF und den Weltgipfel zur Informationsgesellschaft in Genf werden jedoch ausgeklammert. Um Synergien zu schaffen, wird zwar angestrebt, den Follow-up- und Review-Prozess im Jahr 2025 an den WSIS-Review-Prozess (WSIS+20) anzubinden. Wie das sich konkret darstellen soll, wird im Text für den GDC nicht ausgeführt. Anvisiert ist lediglich, dass das IGF, die Commission on Science and Technology for Development (CSTD) und die Koordinator:innen des WSIS-Prozesses im Rahmen einer »meaningful participation« am High-level Review beteiligt sein sollen (Abschnitt 75). Nicht geklärt ist auch das Verhältnis zu Multistakeholder-Prozessen wie NETmundial+10.
Dabei herrscht Einigkeit zwischen den Staaten, der technischen Community und der Zivilgesellschaft, dass der GDC Synergien schaffen und Dopplungen vermeiden muss. Eine Bündelung ist kein Selbstzweck, denn den zahlreichen parallelen Prozessen und Formaten in der internationalen Digitalisierung droht eine Fragmentierung. Vor allem Ländern des globalen Südens und zivilgesellschaftlichen Akteur:innen fehlen die Ressourcen, um an zusätzlichen Prozessen mitzuwirken.
Ausblick
Noch laufen die Verhandlungen über den Text des GDC. Wie beispielhaft gezeigt, lässt sich den bisher vorliegenden Textversionen entnehmen, dass hier durchaus noch um grundlegende Fragen gerungen wird.
Mit ihrer jüngst verabschiedeten Strategie für die Internationale Digitalpolitik hat die Bundesregierung eine Positionierung vorgenommen, die auch hier als Verhandlungsgrundlage dienen kann:
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Die bisherigen Textentwürfe enthalten klare Bekenntnisse zur Geltung der Menschenrechte auch im Digitalen. Ferner finden sich direkte Bezüge zum Schutz der Privatsphäre, für den sich gerade Deutschland im Rahmen der VN eingesetzt hat. Hier kommt es hauptsächlich darauf an, den bisherigen Verhandlungsstand zu wahren.
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Das gilt auch für die Bezüge zur Nachhaltigkeitspolitik, die sich im Text bisher in vielen konkreten Verweisen auf die SDGs ausdrücken.
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Problematisch ist, das Multistakeholder-Modells generell in Frage zu stellen, vorrangig in der Internet-Governance, aber auch beim Thema KI. Wie beschrieben birgt dies die Gefahr, die Rolle der Zivilgesellschaft zu beschränken, ohne dass Aussicht besteht, die bedenkliche Machtfülle großer Unternehmen effektiv einzuhegen.
In den Auseinandersetzungen um die Inhalte des GDC geht es für die deutsche Politik zunächst darum, zu verhindern, dass hier ein globaler normativer Referenzpunkt entsteht, der den Interessen und Wertvorstellungen Deutschlands und seiner Partner widerspricht. Allerdings ist der globale Digitalpakt in der vorliegenden Form kein geeignetes Instrument, um im Sinne des VN-Generalsekretärs die Rolle der VN in der internationalen Digitalpolitik neu zu bestimmen. Zu vieles, besonders mit Blick auf neue Institutionen und Formate im Zuge des Follow-up-Prozesses, bleibt vage oder wurde in zukünftige Verhandlungen ausgelagert.
Hierin liegt indes auch eine Chance: Wenn es tatsächlich deutsches Interesse ist, dass die VN auch in einer digitalen Welt handlungsfähig und wirkmächtig bleiben, eröffnet der Follow-up-Prozess die Möglichkeit, über die kommenden Jahre hinweg auf dieses Ziel hinzuarbeiten. Die nächste Gelegenheit hierfür werden die schon bald anstehenden Verhandlungen über die Modalitäten des High-level Review of the Global Digital Compact bieten.
Dabei kann die Bundesregierung auf Erfahrungen aus der Implementierung anderer multilateraler Abkommen zurückgreifen, etwa des globalen Migrationspakts, internationaler Menschenrechtsabkommen oder des Pariser Klimaabkommens. Die jüngst in den Medien diskutierte Idee eines VN Data Hub in Berlin könnte zudem einen wesentlichen Beitrag zur Umsetzung des globalen Digitalpakts leisten. Dafür müsste freilich auf lange Sicht genug Geld bereitgestellt werden. Außerdem könnte bei der Umsetzung an regionale Prozesse angeknüpft werden, die während der Vorbereitungen für den GDC stattfanden. Zu nennen sind hier etwa die Konsultationen der Wirtschaftskommission für Afrika oder die von der Bundesregierung mitorganisierten Multistakeholder-Dialoge in Indien, Mexiko und Kenia.
Die Verabschiedung des globalen Digitalpakts im September 2024 kann nicht mehr als ein erster Schritt sein. Ob der Pakt ein Erfolg wird, wird sich erst auf mittlere Sicht erweisen. Nicht zuletzt wird es darauf ankommen, dass Länder wie Deutschland die Verpflichtungen des globalen Digitalpakts mit Leben füllen und damit durch ihre eigene Praxis die normativen Erwartungen bekräftigen, welche in das Abkommen gesetzt werden.
Dr. Daniel Voelsen ist Leiter der Forschungsgruppe Globale Fragen.
Lisa Voigt ist Forschungsassistentin der Forschungsgruppe Globale Fragen.
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DOI: 10.18449/2024A35