Weniger als einen Monat nach den Europa-Wahlen stimmen auch die Bürgerinnen und Bürger im Vereinigten Königreich (UK) über ein neues Parlament ab. Nach der wechselseitigen Entfremdung durch den Brexit bietet sich damit eine Chance, die Beziehungen zwischen der EU und London zu re-intensivieren. Vor allem in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik hat die Zusammenarbeit im Zuge des russischen Angriffskrieges ohnehin wieder zugenommen, bislang jedoch auf Ad-hoc-Basis. Mittelfristig geht es nicht um eine Rückabwicklung des Brexits, wohl aber um den Aufbau einer Gemeinsamen Strategischen EU-UK-Initiative – das heißt eines neuen Modells von strukturierten Beziehungen mit einem für die EU und Deutschland sehr wichtigen Partner. Dabei sollte auch die EU mehr Flexibilität zeigen als bisher.
Dass Premierminister Rishi Sunak die Parlamentswahlen im Vereinigten Königreich vorgezogen hat, war keine große Überraschung – wohl aber der Zeitpunkt, zu dem dies geschah. Bei einer regulären Dauer der aktuellen Legislaturperiode wäre der Wahltermin spätestens im Januar 2025 gewesen. Nach den Blockaden im House of Commons während der turbulenten Brexit-Verhandlungen hat das Parlament mit seiner konservativen Mehrheit aber beschlossen, zum traditionellen britischen System zurückzukehren, wonach der Premier jederzeit Neuwahlen ausrufen und das Parlament auflösen kann. Dieser Schritt wurde indes eher für Herbst 2024 erwartet, ist die Regierung Sunak doch mit teils desaströsen Umfragewerten konfrontiert.
Nun werden die Briten bereits am 4. Juli zu den Urnen gebeten. Gegenüber der letzten Wahl im Jahr 2019 haben sich die Rahmenbedingungen grundlegend verändert. Auf globaler Ebene kam es seither zu erheblichen Erschütterungen (mit der Corona-Pandemie, der russischen Vollinvasion in der Ukraine, Inflation, dem Krieg im Gazastreifen und mehr), während das Vereinigte Königreich den Brexit vollzogen und dabei zweimal den Premier gewechselt hat. Anders als 2019, als der damalige Regierungschef Boris Johnson und Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn antraten, stehen sich mit Rishi Sunak und Keir Starmer nun zwei Politiker gegenüber, die jeweils eher für den gemäßigteren Flügel ihrer Partei stehen.
Aus Sicht der EU dürften sich nach den Wahlen Möglichkeiten für eine begrenzte Re‑Intensivierung der bilateralen Beziehungen bieten, selbst wenn es nicht zu dem Regierungswechsel mit einer absoluten Mehrheit für Labour käme, der angesichts der Umfragen erwartet wird. Klar ist zunächst: Eine Rückabwicklung des Brexits steht, auch für die Labour-Partei, zumindest mittelfristig nicht zur Debatte. Denn eine Rückkehr zu Binnenmarkt oder Zollunion, aber auch zur Freizügigkeit und zu jeder Form der dynamischen Übernahme von EU-Regeln schließt Labour kategorisch aus. Neben dem Ziel technischer Anpassungen des EU-UK-Handelsabkommens (etwa im Veterinärbereich) betont Labour vor allem das Interesse an einer verstärkten Zusammenarbeit mit der EU in der Außen- und Sicherheitspolitik.
Bemerkenswerterweise meiden gerade die Konservativen, die 2019 ihre Kampagne noch hauptsächlich mit dem Brexit betrieben (»Get Brexit Done«), das Thema nun fast vollständig. Im Hintergrund jedoch wird Sunaks Kurs, der auf stärkere Kooperation mit der EU zielt, von einer lautstarken Minderheit in der Partei regelmäßig kritisiert. Nigel Farage, dessen Reform-UK-Partei in Umfragen näher an die Konservativen herangerückt ist (und sie teils sogar überholt hat), übt zusätzlich Druck auf die Tories aus, sich in Migrationsfragen, der Klimapolitik oder den Beziehungen zur EU weiter zu verhärten; so fordert er etwa den Austritt des Landes aus der Europäischen Menschenrechtskonvention. Auch und gerade im Falle der zu erwartenden Niederlage der Konservativen wird die Wahl über deren künftigen Kurs mitentschieden.
Die politischen Wunden, die der Brexit-Prozess in Politikbetrieb und Bevölkerung gerissen hat, sitzen tief, und keine der beiden großen Parteien möchte die grundlegenden Entscheidungen der Jahre 2016–2020 neu aufrollen. Daran ändert auch nichts, dass nach Umfragen rund 60 Prozent der Menschen im Land den Brexit mittlerweile für einen Fehler halten und sich sogar Mehrheiten für einen Wiedereintritt in die EU andeuten.
Angesichts dieser politischen Konstellation bietet es sich in doppelter Weise an, den Fokus der bilateralen Beziehungen nach den Wahlen zuerst auf die Außen- und Sicherheitspolitik zu richten. Auf der einen Seite dürfte der politische Spielraum hier für die nächste britische Regierung besonders groß sein, denn nach wie vor ist der Bereich von den komplexen wirtschaftlichen Beziehungen weitgehend getrennt. Zudem zielt gerade die Labour-Partei explizit darauf ab, die Zusammenarbeit in diesem Feld deutlich aufzuwerten. Auf der anderen Seite ist auch das Interesse der EU besonders hoch, London hier einzubinden. Denn angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, aber auch der Perspektive einer Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus wird die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik einer der zentralen Schwerpunkte der EU in den nächsten Jahren sein. Das Vereinigte Königreich mit seiner leistungsfähigen Rüstungsindustrie und seinen militärischen wie diplomatischen Ressourcen sollte dabei – wenn auch als Drittstaat – ein wichtiger Partner sein.
Außenpolitischer Schnellstart gefordert
Wer auch immer die nächste britische Regierung bilden wird, muss einen außenpolitischen Schnellstart hinlegen. In den beiden Wochen nach den Wahlen stehen zwei wichtige Termine zur Abstimmung über die europäische Außen- und Sicherheitspolitik an: der Nato-Gipfel in Washington vom 9. bis 11. Juli und der nächste Gipfel der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) am 18. Juli. Bei Letzterem sind die Briten selbst Gastgeber und empfangen die Staats- und Regierungschef:innen aus bis zu 47 europäischen Staaten. Die Agenda für das Treffen legte noch die bisherige Regierung fest, die Durchführung wird der künftigen obliegen.
Dass der neue Premier am 9. Juli bereits im Amt sein dürfte, liegt im politischen System Großbritanniens begründet. Denn das Mehrheitswahlrecht (»First past the post«) produziert in der Regel eine klare Majorität, weshalb Koalitionsregierungen die Ausnahme bleiben. Zudem wird der Premier auf Basis der Parlamentswahlen vom König ernannt, ein bestätigendes Parlamentsvotum ist nicht vonnöten. 2019 etwa beauftragte Königin Elizabeth II. bereits einen Tag nach der Wahl Boris Johnson mit der Regierungsbildung. Sollte es diesmal wider Erwarten jedoch keine eindeutigen Mehrheitsverhältnisse im Parlament geben, wird sich der Prozess verzögern. Monatelange Koalitionsverhandlungen wie in den Niederlanden, Belgien oder auch Deutschland hat es in London allerdings noch nie gegeben. Bereits Mitte Juli sollte es daher möglich sein, beim EPG-Gipfel mit der neuen britischen Regierung Spielräume für die Zusammenarbeit zu erörtern.
Wiederannäherung mit Vorbehalten
Die außen- und sicherheitspolitischen Beziehungen zwischen Vereinigtem Königreich und EU haben ihren Tiefpunkt nach dem Brexit bereits überwunden. Zunächst ist natürlich zu betonen, dass London auf vielfältige Weise mit den EU-Mitgliedstaaten verflochten ist – über die Nato ebenso wie durch teils sehr tiefe bilaterale Beziehungen, aber auch über Formate wie die G7, E3 oder die Joint Expeditionary Force (JEF). Dabei hatte die von 2016 bis 2019 amtierende Premierministerin Theresa May ursprünglich angestrebt, nach dem Brexit eine Sicherheitspartnerschaft mit der EU zu begründen. Das wechselseitige Verhältnis erreichte 2020/21 jedoch einen Tiefpunkt, nachdem ihr Nachfolger Johnson jedwede strukturierte Beziehung mit der EU in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu Beginn der Verhandlungen über den künftigen Umgang zwischen Brüssel und UK verworfen hatte. Im Strategiedokument der britischen Regierung von 2021 wurde die EU noch nicht einmal als Partner in der Außen- und Sicherheitspolitik genannt, vielmehr sollte der Fokus auf »Global Britain« und der Pflege bilateraler Beziehungen liegen (siehe SWP-Aktuell 35/2021).
Zwei Faktoren haben in der Außen- und Sicherheitspolitik jedoch zu einem »Tauwetter« zwischen Brüssel und London geführt. Zum einen konnten nach Sunaks Amtantritt 2022 beide Seiten mit dem Windsor-Abkommen ihre Differenzen in puncto Nordirland beilegen, womit sich vor allem auch das gegenseitige Misstrauen hinsichtlich der Sonderregelungen für diesen Landesteil überwinden ließ. Zum anderen machte der russische Angriffskrieg die Notwendigkeit einer engeren Kooperation deutlich. Anfang März 2022, also wenige Tage nach Beginn der Vollinvasion in der Ukraine, nahm die damalige britische Außenministerin Liz Truss einmalig an einem Treffen des Rates der EU teil. Bei Sanktionen stimmten sich die EU und das Vereinigte Königreich trilateral mit den USA sowie im Kreis der G7 eng ab. Zudem ist das UK dabei, dem Projekt zur militärischen Mobilität im Rahmen der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) der EU beizutreten. Das Land hat geholfen, die EU-Ausbildungsoperation für die ukrainischen Streitkräfte zu gestalten, da es bereits eigene bilaterale Ausbildungsmaßnahmen für Kiew durchführte. Ferner beteiligt es sich an der von der EU-Kommission mit geleiteten Geberplattform für die Ukraine, einschließlich der Entsendung eines britischen Beamten ins betreffende Sekretariat, das bei der EU-Kommission angesiedelt ist.
Der Großteil auch der Kooperation zur Ukraine erfolgt jedoch nicht bilateral zwischen EU und UK, sondern im multilateralen Rahmen (insbesondere der Nato und der G7) oder über bi- und minilaterale Zusammenarbeit mit einzelnen EU-Staaten. Denn die Regierung Sunak lehnte einen strukturierten Dialog in der Außen- und Sicherheitspolitik ab; die Einladung zu einem regelmäßigen Dialogformat durch den Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, schlug sie aus.
Der größte außen- und sicherheitspolitische Unterschied zwischen einer neuen Labour- und der bisherigen Tory-Regierung wird daher auch die Zusammenarbeit mit der EU betreffen. Konkret strebt Labour eine »neue geopolitische Partnerschaft« mit Brüssel an. Im Zentrum dieser Partnerschaft soll ein Sicherheitspakt stehen, der eine engere Koordination nicht nur zu militärischer Sicherheit, sondern auch in relevanten Fragen der Wirtschafts-, Klima-, Gesundheits-, Cyber- und Energiepolitik umfasst. Ein solcher Sicherheitspakt soll ausdrücklich in Einklang mit der kollektiven Verteidigung in der Nato und nicht etwa im Gegensatz dazu stehen, bleibt die Allianz doch auch aus Labour-Sicht der primäre Rahmen für die britische und europäische Sicherheit. Zudem strebt die Partei, ähnlich wie die konservativen Regierungen seit dem Brexit, einen Ausbau der bilateralen Beziehungen zu engen EU- bzw. Nato-Partnern wie Frankreich, Polen, Irland und besonders Deutschland an. Bemerkenswerterweise haben beide, Labour und Konservative, das Ziel eines britisch-deutschen Verteidigungspaktes nach Vorbild des Lancaster-House-Vertrags zwischen Frankreich und UK in ihr jeweiliges Wahlprogramm aufgenommen.
Trotz des gegenseitigen Interesses bleibt jedoch die Balance zwischen Ressourcen und Beteiligungsrechten schwierig, was am besten durch das »Galileo-Problem« illustriert wird. Schon während der Verhandlungen zum Brexit-Austrittsvertrag strebte zumindest Theresa May eine Sicherheitspartnerschaft mit der EU an. Der erste große Dämpfer aber war Londons Nichtbeteiligung am europäischen Satellitennavigationssystem Galileo. Das System war maßgeblich von britischen Unternehmen mitentwickelt worden und könnte auch langfristig von der Beteiligung der britischen Weltraumindustrie profitieren. Die EU bestand jedoch auf einer Beteiligung wie für alle anderen Drittstaaten, wodurch sich das Vereinigte Königreich angesichts seiner finanziellen und industriellen Beiträge zu stark eingeschränkt sah. Ähnliches droht etwa bei der Rüstungskooperation. An einer Zusammenarbeit sollte hier zwar ein hohes gegenseitiges Interesse bestehen. Doch Voraussetzung dafür ist aus Sicht der EU eine Beteiligung nach regulären Drittstaatenregeln, das heißt ohne Mitbestimmungsrechte, was für London angesichts der Größe der britischen Rüstungsindustrie inakzeptabel ist – unabhängig davon, wer die Regierung stellt. Wie sie dieses »Galileo-Problem« lösen will, hat die Labour-Partei bis dato nicht angedeutet.
Konstanten und potentielle Verschiebungen
Für die thematische Zusammenarbeit zwischen EU und UK ist zu beachten, dass die Regierung Sunak und Labour in vielen anderen Schlüsselfragen der Außen- und Sicherheitspolitik bemerkenswert nahe beieinander liegen. Hier zeigt sich, dass Starmer seine Partei nach den Jahren unter Corbyn wieder näher an Londons außen- und sicherheitspolitischen Mainstream herangeführt hat. Aber auch Sunak hat im Vergleich zu seiner nur kurz amtierenden Vorgängerin Truss einige Kurskorrekturen vorgenommen.
Die Übereinstimmung gilt zunächst für die Unterstützung der Ukraine und Londons grundsätzliche Positionierung in der europäischen Sicherheitsordnung. Bereits 2021 sah die britische Regierung in Russland die »akuteste Bedrohung« für die europäische Sicherheit; der Ukraine ließ London früh und umfangreich Hilfe zukommen. Das Vereinigte Königreich ist neben Deutschland quantitativ der größte europäische Unterstützer des Landes, hat bei der Lieferung neuer Waffensysteme oder bei Anpassungen der westlichen Linie aber – anders als Berlin – jeweils bewusst eine Vorreiterrolle eingenommen. Dabei wurde der Regierungskurs von der Labour-Partei stets mitgetragen, die zuletzt eher einen noch stärkeren Beistand für Kiew eingefordert hat. Zudem würde auch unter Labour gelten, dass sich London in der europäischen Sicherheitpolitik klar als Schlüsselakteur mit Führungsanspruch positioniert und dabei enge Beziehungen zu nord-, mittel- und osteuropäischen Staaten sowie zu Frankreich pflegt.
Auch die »special relationship« zu den USA bleibt für das Vereinigte Königreich von zentraler Wichtigkeit. Die amerikanische Hilfe für die Ukraine hat aus Londoner Sicht die Bedeutung Washingtons für die europäische Sicherheit erneut unterstrichen – und damit auch das britische Ziel, die USA als engsten Verbündeten in Europa zu halten. Dies gilt umso mehr mit Blick auf eine potentielle Rückkehr Trumps ins Weiße Haus. So betont nicht nur die Regierung Sunak, sondern auch Labours voraussichtlicher künftiger Außenminister David Lammy, das Vereinigte Königreich werde außen- und sicherheitspolitisch eng mit Washington zusammenarbeiten, unabhängig davon, wer die US-Wahlen gewinne. Die Unterschiede zwischen den beiden Parteien dürften hier eher gradueller Natur sein. Trotz aller politischer Divergenzen hält sich Starmer mit öffentlicher Kritik an Trump bewusst zurück, und auch nach dessen Verurteilung im New Yorker Schweigegeld-Prozess erklärte er, mit ihm kooperieren zu wollen, sollte Trump abermals zum Präsidenten gewählt werden. Sunak wiederum pflegt zwar keine besondere Nähe zu Trump, doch schickte er seinen Außenminister David Cameron im April 2024 zu einem Besuch bei ihm. Zudem nähert sich der Rechtsaußen-Flügel der britischen Konservativen – anders als während Trumps Amtszeit von 2017 bis 2021 – offen den MAGA-Republikanern an. So haben unter anderem die ehemaligen Premiers Johnson und Truss zur Wahl Trumps aufgerufen.
Eng verbunden mit dem transatlantischen Verhältnis ist die britische Positionierung im Indo-Pazifik und gegenüber China. Die britisch-chinesischen Beziehungen haben in den letzten 15 Jahren große Veränderungen erfahren. Während Cameron in seiner Zeit als Premierminister (2010–2016) noch das Ziel eines »goldenen Zeitalters« zwischen Volksrepublik und Vereinigtem Königreich beschwor, strebte etwa Truss danach, an der Seite der USA eine besonders konfrontative Haltung gegenüber Peking einzunehmen. Unter Sunak wie potentiell auch unter Starmer nähert sich die Londoner Regierung dem europäischen Mainstream an, indem sie den Aufstieg Chinas als »epochale« (Sunak) bzw. »systemische« (Lammy) Herausforderung betrachtet und eher auf »de-risking« als auf »de-coupling« setzt. Dabei betonen die Konservativen ebenso wie Labour die Bedrohung durch die Kommunistische Partei Chinas, aber auch die Bedeutung des Landes für die britische Wirtschaft und dessen Rolle als Partner bei der Bewältigung von globalen Herausforderungen wie Pandemien, dem Klimawandel oder der Regulierung künstlicher Intelligenz. Labour will in diesem Sinne den Beitritt des Vereinigten Königreichs zum transpazifischen Handelsabkommen vollziehen und ein Handelsabkommen mit Indien erreichen. Ausgebaut werden soll zudem die AUKUS-Partnerschaft zwischen den USA, Australien und dem Vereinigten Königreich.
Verschiebungen in der Nahost- und Klimaaußenpolitik
Starken innenpolitischen Widerhall fanden im Vereinigten Königreich der Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 und die hierauf folgende israelische Militäroffensive im Gazastreifen. Unter Premier Sunak und Außenminister Cameron hat sich London als enger Verbündeter Israels positioniert und sich dabei auch regelmäßig mit Deutschland abgestimmt. Zu diesem Einvernehmen gehörten etwa ein gemeinsamer Meinungsartikel von Cameron und seiner Amtskollegin Annalena Baerbock in der britischen »Sunday Times« sowie eine zum Teil gemeinsame Reise der beiden nach Israel. Starmer hat diese Linie lange Zeit ausdrücklich unterstützt, auch um seine Politik der klaren Abgrenzung von antisemitischen Vorfällen zu bekräftigen, die es unter seinem Vorgänger Corbyn gegeben hatte. Innerhalb der Labour-Partei verlangen jedoch viele Stimmen an der Basis wie auch unter Abgeordneten einen Kurswechsel, vor allem wegen der hohen und weiter steigenden Zahl an Opfern des israelischen Einsatzes. So forderte Starmer früher als Sunak einen sofortigen Waffenstillstand im Gazastreifen, und nach einem etwaigen Wahlsieg dürfte er innerparteilich unter Druck geraten, die britische Nahost-Politik zu korrigieren. In ihrem Wahlprogramm signalisiert die Labour-Partei die Bereitschaft, einen palästinensischen Staat »als Teil eines erneuerten Friedensprozesses« anzuerkennen.
Ein deutlicher Unterschied zwischen beiden Parteien besteht in der Frage, wie sehr der Klimaschutz in der Außen- und Sicherheitspolitik verankert sein soll. Das Vereinigte Königreich gehörte lange zu den Vorreitern internationaler Klimapolitik, doch hat die konservative Regierung zuletzt Abstriche bei den Bemühungen gemacht, die Emission von Treibhausgasen auf »netto null« zu senken. Bei den Plänen der Konservativen rückt diese Zielvorgabe in den Hintergrund, der Fokus ihrer Klimapolitik liegt stattdessen auf Energiesicherheit, Akzeptanz in der Bevölkerung und Wettbewerbsfähigkeit. Die Labour-Partei legt einen stärkeren Schwerpunkt auf »grünes Wachstum« als Teil ihrer Wirtschaftsagenda, zugleich soll eine »Clean Energy Alliance« ein wichtiges Element ihrer Außen- und Sicherheitspolitik werden. In diesem Sinne soll Klimapolitik auch im britischen Außenministerium besser integriert werden.
Enge fiskalische Spielräume
Eine Herausforderung sind nicht zuletzt die engen fiskalischen Spielräume, die das Vereinigte Königreich auch im Verteidigungsbereich hat. Die Briten erfüllen im Gegensatz zu Deutschland und vielen anderen Nato-Staaten durchgängig das 2‑Prozent-Ziel. Allerdings haben sie nach der russischen Vollinvasion in der Ukraine, anders als viele mittel- und osteuropäische Staaten, ihren Verteidigungshaushalt nicht signifikant aufgestockt. Dabei sind die Londoner Reserven durch die langjährigen Einsätze im Irak und in Afghanistan sowie später die Ukraine-Hilfen aufgezehrt worden. Hinzu kommen die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes, die nicht allein, aber auch durch den Brexit bedingt sind und das fiskalisch Mögliche absehbar einschränken.
Vor diesem Hintergrund hat Sunak im Vorwahlkampf versprochen, die britischen Verteidigungsausgaben bis 2030 auf 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen (2024 sind es laut Nato 2,33 Prozent). Labour gibt das gleiche prozentuale Ziel aus, jedoch abhängig davon, dass »die fiskalischen Umstände es erlauben«. Bemerkenswert ist dabei, dass Großbritannien von allen europäischen Nato-Alliierten (nach Kroatien) seit 2014 die niedrigsten Zuwächse im Verteidigungshaushalt – proportional zum jeweiligen BIP – aufzuweisen hat; auch nach 2022 waren die Steigerungen hier geringer als andernorts. Angesichts einer höheren Inflation und höherer Zinsen als im Euroraum sowie der Tatsache, dass beide Parteien darauf bestehen, in das Gesundheits- und Rentensystem zu investieren und gleichzeitig Steuererhöhungen zu vermeiden, wird London absehbar bei den militärischen Fähigkeiten knapp haushalten müssen.
Ausblick
Nach den Doppelwahlen vom Sommer 2024 bietet sich für die EU und das Vereinigte Königreich die Chance, ihre außen- und sicherheitspolitische Zusammenarbeit zu vertiefen. Angesichts einer zunehmend konfrontativen europäischen Sicherheitsordnung mit einem imperialistisch-expansiven Russland, den globalen Rivalitäten zwischen USA und China sowie der möglichen Rückkehr Trumps ins Weiße Haus sollten Deutschland und die EU ein großes Interesse daran haben, diese Chance zu nutzen. Ob und inwieweit das gelingen kann, hängt von dem gegenseitigen Willen ab, bei den Verhandlungen geostrategische Interessen in den Vordergrund zu stellen, statt auf roten Linien zu beharren.
Wichtig ist auf der einen Seite der politische Handlungsspielraum der neuen Labour-Regierung. Sollte die Partei wider Erwarten doch keine absolute Mehrheit erringen, blieben die Möglichkeiten für eine strukturierte EU-UK-Zusammenarbeit beschränkt. Doch selbst bei dem prognostizierten Erdrutschsieg für Labour ist mittelfristig nicht davon auszugehen, dass der Brexit an sich oder seine zentralen Leitplanken – keine Rückkehr in Binnenmarkt und Zollunion, keine Formen einer verpflichtenden Übernahme von EU-Recht – revidiert werden. Auch würden die Tories in der Opposition lautstark und mit Unterstützung der konservativen Medien gegen jede Wiederannäherung an die EU protestieren, zumal sie in der Frage unter dem Druck der harten Brexiteers und von Farages Reform-UK-Partei stehen. Die bisherige Positionierung Starmers deutet darauf hin, dass der Aktionsradius auch einer Labour-geführten Regierung gegenüber der EU allenfalls eine politische Annäherung und eine bessere Koordination, kaum aber eine Re-Integration erlauben würde. Eine Vertiefung der Zusammenarbeit im weitgehend abgetrennten Sonderbereich der Außen- und Sicherheitspolitik könnte jedoch ein positives Zeichen im gegenseitigen Interesse setzen und zudem mittelfristig Spielräume für eine engere Kooperation auf weiteren Feldern eröffnen.
Auf der anderen Seite sollte aber auch die EU mehr Flexibilität zeigen. Während der Brexit-Verhandlungen galt das Mantra, das Vereinigte Königreich dürfe in keinem Bereich von Sonderregelungen profitieren, sondern müsse wie jeder andere Drittstaat behandelt werden. Übertragen auf die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik führt dies zum beschriebenen »Galileo-Problem« und beispielsweise zum Ausschluss der britischen Rüstungsindustrie von der gemeinsamen Munitionsbeschaffung. Die bisherigen Bemühungen, London etwa über die EPG strukturiert in europäische Sicherheitsfragen einzubinden, machen für das Verhältnis EU-UK wenig Unterschied; wichtiger bleiben hier die bilateralen Beziehungen zu den großen Mitgliedstaaten. Diese formalistische Betrachtung hat auch politische Gründe: Selbst ohne offizielles Stimmrecht dürfte London bei einer Beteiligung als Beobachter angesichts seiner Bedeutung in der Außen- und Sicherheitspolitik als Nichtmitglied ein größeres Gewicht haben als mindestens 22 der 27 EU-Mitglieder. Das bricht natürlich die Logik, dass ein Nichtmitglied nicht die Vorteile der EU-Mitgliedschaft haben kann. Aus diesen formellen Gründen jedoch auf regulären Drittstaatsbedingungen zu bestehen wird weder den Interessen einer geopolitischen EU noch dem Status des UK in diesem Bereich gerecht.
Eine Gemeinsame Strategische EU‑UK-Initiative
Stattdessen sollte sich die EU dafür öffnen, das Vereinigte Königreich im Rahmen eines Sicherheitspaktes, wie er von Labour angestrebt wird, strukturiert in Sicherheitsfragen einzubinden – und zwar über ein individuelles Modell gemäß einer Gemeinsamen Strategischen EU-UK-Initiative. Kernmerkmal dieses neuen Modells sollte eine UK-spezifische, in Verhandlungen zu findende Balance zwischen Verpflichtungen, Flexibilität und gegenseitigen Interessen sein. Die Gemeinsame Strategische Initiative sollte dabei auf dem Prinzip der Partnerschaft, nicht der (Re-)Integration beruhen. Die Ebene der Kooperation wäre zwischen den EU-Institutionen und der britischen Regierung anzusiedeln, aber mit starker Beteiligung der EU-Mitgliedstaaten, die im Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik weiterhin die zentrale Rolle spielen. Nicht zuletzt sollte diese Initiative von Beginn an ergänzend und nicht in Konkurrenz zu bestehenden Verflechtungen aufgebaut werden, insbesondere mit Blick auf die Nato.
Für ein solches Vorhaben wäre ein neuer institutioneller Rahmen jenseits der existierenden Ad-hoc-Kooperation notwendig. Er könnte aus drei Elementen bestehen. Erstens sollten auf politischer Ebene regelmäßige strategische Konsultationen eingeführt werden, wie sie die EU in Form von Drittstaat-Dialogen auch mit anderen strategischen Partnern unterhält, etwa den USA. Vertreten werden sollte die EU hier jeweils von Kommissionspräsident und Präsident des Europäischen Rates auf oberster Ebene sowie dem Hohen Vertreter auf Außenministerebene. Diese Konsultationen sollten mindestens einmal im Jahr stattfinden; ein guter Startpunkt wäre hierfür Ende 2024 nach den US-Wahlen. Auf Arbeitsebene hingegen bieten sich – zweitens – gemischte Arbeitsgruppen von EU-Institutionen sowie Vertretungen von UK und EU-Mitgliedstaaten zu Themenbereichen an, in denen die Zusammenarbeit vertieft würde. Drittens könnte London – gegebenenfalls gemeinsam mit Beitrittskandidaten und/oder anderen Partnern – als Gast zu ausgewählten Teilen von Treffen der Staats- und Regierungschef:innen oder EU-Außenminister:innen eingeladen werden. Die Teilnahme sollte jedoch stets ausgewählt und begrenzt sein, um auf Ebene der Partnerschaft zu bleiben.
Rechtlich könnte eine solche Initiative an das bestehende Handels- und Kooperationsabkommen (HKA) zwischen EU und UK angedockt werden. So ist das HKA explizit als Rahmenabkommen konzipiert, das sich gemäß Artikel 2 HKA um weitere Einzelabkommen ergänzen lässt. Diese können zudem den gemeinsamen institutionellen Rahmen nutzen und erweitern, einschließlich der Möglichkeit zur Einsetzung spezifischer Arbeitsgruppen.
Am wichtigsten für eine Gemeinsame Strategische Initiative sind aber konkrete politische Vorhaben. Drei Themenbereiche bieten sich jenseits regelmäßiger außen- und sicherheitspolitischer Koordination besonders an. Dies wäre zunächst die bessere Abstimmung bei Sanktionen, unterfüttert durch eine gemischte Arbeitsgruppe. Hier könnten beide Seiten davon profitieren, die über die G7 oder EU-USA-UK teils über Bande gespielte Sanktionskoordinierung zu verbessern, Informationen auszutauschen und die verhängten Maßnahmen anzugleichen, ohne dass die gegenseitige Entscheidungsautonomie aufgegeben wird. Ein zweiter Schwerpunkt sollte die Kooperation in der verteidigungs- und rüstungspolitischen Zusammenarbeit liegen. Die EU hat hier Ambitionen, in der beginnenden Legislaturperiode deutliche Fortschritte zu erzielen, was dann wiederum für die britische Industrie von Bedeutung wäre. Ein dritter potentieller Schwerpunkt könnte die Klimaaußenpolitik sein. Die Labour-Partei will den Schutz des Klimas in den Fokus der britischen Außenpolitik rücken, und gemeinsam haben EU und UK ein Interesse daran, etwa ihren Emissionshandel und ihre (in Großbritannien ebenfalls geplanten) CO2-Ausgleichssysteme miteinander zu verknüpfen sowie global zu vertreten. Doch auch viele weitere Themen bieten sich an, etwa die Unterstützung der Ukraine, die Cybersicherheit oder die Energiepolitik.
Deutschland könnte bei der Gemeinsamen Strategischen EU-UK-Initiative eine Schlüsselrolle spielen. Denn zum einen hat insbesondere Berlin ein Eigeninteresse daran, London in die europäische Sicherheits- und Rüstungskooperation einzubinden. Der von Labour (wie auch im Wahlprogramm der Konservativen) angestrebte deutsch-britische Verteidigungspakt sollte von Beginn an nicht nur in Nato und G7 eingebettet werden, sondern auch in einen Sicherheitsvertrag zwischen EU und UK. Bei den Verhandlungen etwa zu PESCO oder zur Munitionsbeschaffung hat Frankreich im Sinne einer europäischen Souveränität darauf gedrängt, für Drittstaaten möglichst restriktive Bedingungen zu schaffen, was zu Lasten einer britischen Beteiligung ging. Deutschland sollte gemeinsam mit anderen Partnern darauf hinarbeiten, die Souveränität Europas möglichst gesamteuropäisch zu interpretieren – mit einer flexiblen, vertieften und möglichst umfassenden Einbindung des Vereinigten Königreichs.
Dr. Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa.
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ISSN (Online) 2747-5018
DOI: 10.18449/2024A32