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Unklarheiten über russische Nuklearwaffen in Belarus

Erkenntnisstand und Implikationen für Europa und die Nato

SWP-Aktuell 2024/A 28, 24.06.2024, 8 Seiten

doi:10.18449/2024A28

Forschungsgebiete

In den letzten zwei Jahren hat Belarus Trägersysteme erworben, welche Minsk die Fähigkeit zum Einsatz von Nuklearwaffen verschaffen. Zwar behaupten Moskau und Minsk, dass sich mittlerweile russische Atomsprengköpfe auf belarussischem Boden befinden. Gesichert ist dies allerdings nicht, und manches spricht dagegen. Dabei dürften die beiden Regierungen unterschiedliche Motive für eine mutmaßliche Sta­tionierung russischer Kernwaffen in Belarus haben. In erster Linie geht es offenbar darum, die Handlungsfreiheit der Nato gegenüber Belarus einzuschränken. Eine nukleare Bedrohung für Europa bedeuten solche Maßnahmen kaum. Deshalb sollte die Nato auch ihre Nuklearpolitik wegen einer solchen Verlegung nicht verändern. Belarus’ nukleare Aufwertung unterstreicht aber die wachsende Bereitschaft des Kremls, Kosten und Risiken in Kauf zu nehmen, um seine Ziele zu erreichen. Europa muss daher seine konventionellen militärischen Fähigkeiten weiter ausbauen.

Ende April 2024 verabschiedete Belarus eine neue Militärdoktrin. Darin wird die Stationierung russischer Atomwaffen in Belarus als »wichtiges Element der präven­tiven Abschreckung potentieller Gegner vor einem bewaffneten Angriff« bezeichnet. Im Mai und Juni 2024 ließ Minsk Raketen und Kampfflugzeuge inspizieren und führte Übungen durch, um die Planung für den Ein­satz von Nuklearsprengköpfen zu über­prüfen. Fast drei Jahrzehnte nach dem Abzug sowjetischer Atomspreng­köpfe und Trägersysteme aus Belarus scheinen nun solche Waffen oder zumin­dest eine gewisse Fähigkeit, sie ein­zusetzen, in das Land zurückgekehrt zu sein. Wie es dazu kam, welche Beweg­gründe die Entscheidungs­träger in Minsk und Moskau hatten und welche militärischen und politischen Implikationen sowie rechtlichen und normativen Konsequenzen sich daraus ergeben, ist ausschlaggebend dafür, wie Europa und die Nato reagieren sollten.

Zögerliche Entscheidungsfindung

Seit mehreren Jahren wird in Moskau und Minsk über die potentielle Stationierung russischer nuklearfähiger Systeme in Bela­rus diskutiert. Konkretere Entscheidungen scheinen jedoch erst schrittweise im Krieg Russlands gegen die Ukraine gefallen zu sein.

Im November 2021 ermunterte Aljak­sandr Luka­schenka, der autoritäre Präsident von Bela­rus, Moskau erstmals öffentlich, russi­sche Atomwaffen in Belarus zu statio­nieren. Wenig später, fast gleichzeitig mit der großangelegten russischen Invasion der Ukraine, schuf Minsk die rechtlichen Grund­lagen für einen sol­chen Schritt. Er werde Russland aber nur dann um die Verlegung von Atom­waffen nach Belarus bitten, wenn der Westen solche Waffen in Polen oder Litauen stationiere, sagte Lukaschenka im Februar 2022.

Schließlich kristallisierte sich im Laufe des Sommers 2022 heraus, dass Belarus zwei Typen nuklearfähiger Trägersysteme zur Verfügung gestellt werden sollten: Erstens sollten belarussische Su-25-Kampf­flugzeuge umgerüstet und belarussische Piloten dafür in Russland ausgebildet wer­den. Zweitens sollten russische Iskander-M-Sys­teme, mit denen sich sowohl konventionell als auch nuklear bewaffnete ballistische Raketen und Marschflugkörper starten lassen, nach Belarus verbracht werden. Ende 2022 erklärte die belarussische Regie­rung, die Iskander-M-Systeme seien nun verlegt und für den Kernwaffeneinsatz zer­tifiziert. Offizielle Verlautbarungen sowie militärische Anpassungen und Übun­gen deuten darauf hin, dass Belarus in der Lage sein will, einige Dutzend russische Atom­waffen mittels eigener Trägersysteme ein­­zusetzen. Moskau indes betonte im Juni und im Dezember 2022, eine Verlegung russischer Nuklear­sprengköpfe in Friedenszeiten nach Belarus sei ausgeschlossen.

Anfang 2023 änderte Russland seine Hal­tung jedoch völlig. Im März verkündete der russische Präsident Wladi­mir Putin, die notwendigen Lagerstätten sollten Anfang Juli fertiggestellt sein, im Juni erklärte er, bis Ende des Jahres sollten Nuklearspreng­köpfe nach Belarus gebracht werden. Auch sollten belarussische Luftstreitkräfte für einen potentiellen Atomwaffeneinsatz aus­gebildet werden. Im April 2023 verbrachten belarussische Einheiten einige Wochen in Russland, um den Einsatz des Iskander-Systems zum Abschuss von Atom­waffen zu trainieren. Ende des Monats meldete das belarussische Verteidigungs­ministerium, fertig ausgebildete Luft­streitkräfte hätten mit Su-25-Flugzeugen geübt. Einen Monat später unterzeichneten die Verteidigungsminister der beiden Seiten ein Abkommen über die logistischen Details der Stationierung russischer Nuklearsprengköpfe in Belarus.

Russland habe schon die ersten Kern­waffen verlegt, sagte Putin Mitte Juni 2023. Zugleich behauptete Lukaschenka, die mei­sten der zu erwartenden Atomwaffen be­fänden sich schon in Belarus. Auch ließen US-Geheimdienste und britische Mini­ster schon im Sommer 2023 durchblicken, Russ­land habe einige Nuklearwaffen in Belarus disloziert. Dies bestätigten mehrere west­liche Offizielle im März 2024. Außerdem legt die russisch-chinesische gemeinsame Erklärung nach dem Treffen Putins mit Xi Jinping im Mai 2024 nahe, dass Moskaus Atom­waffen im Ausland stationiert seien.

Trotz dieser Erklärungen bleibt unklar, wie weit die Verlegung russischer Kern­waffen tatsächlich vorangeschritten ist. Satellitenbilder deuten darauf hin, dass an unterschiedlichen Stützpunkten Umbau­arbeiten stattfinden. Das gilt besonders für das zentralbelarussische Assipowitschy, in dessen Nähe Iskander-Systeme aufgestellt wurden, und für den Luftwaffenstützpunkt Lida im Westen des Landes, wo anscheinend umgerüstete Su-25-Kampf­flugzeuge stehen.

Doch lässt sich nicht mit Sicherheit fest­stellen, ob Nuklearwaffen sich schon dort befinden oder ob diese Umbaumaßnahmen der langfristigen Lagerung von Nu­klear­sprengköpfen dienen. Die meisten Unklar­heiten ergeben sich daraus, dass die Ausbau­standards der Lagerstätten weit unter jenen liegen, die Russland normalerweise für Bunker seiner taktischen Atomwaffen ver­langt. Auch müssten ge­mäß russischen Vorschriften für die Kon­trolle der Gefechtsköpfe dauerhaft Truppen der 12. Haupt­direktion des russischen Verteidigungs­mini­steriums (12. GUMO) in Belarus stationiert werden. Es gibt Hin­weise darauf, dass sich solche Truppen in diesen Stützpunkten aufhalten. Dauer und Ausmaß dieser Ver­legung sind indes nicht bekannt. Nicht zu­letzt weist bei den beobachteten Übungen nichts darauf hin, dass die Iskander-Besat­zungen das Zertifizierungsniveau erreicht haben, das Russland von seinen eigenen Truppen verlangt. Solange diese Bedingung nicht erfüllt ist, wäre eine Verlegung mili­tärisch sinn­los. Das lässt darauf schließen, dass die entsprechenden Waffen mögli­cherweise noch nicht vor Ort sind.

Angesichts dieser Unklarheiten ist auch denkbar, dass die belarussischen Stand­orte hauptsächlich politische Zwecke erfül­len oder als Transitlager für russische Kern­waffen im Krisenfall vorgesehen sind und nicht als dauerhafte Lagerstätten. Selbst wenn Russland den Bau von Spreng­kopf­lagern in Belarus vollendet, ist also nicht garantiert, dass Kern­waffen in Friedens­zeiten überhaupt oder gar dauerhaft nach Belarus ver­legt werden.

Minsk setzt wohl auf Abschreckung

Das Verhalten und die Äußerungen der Entscheidungsträger in Minsk gestatten nur vorläufige Rückschlüsse auf ihre Motive. Vieles lässt jedoch vermuten, dass defen­sive militärische Erwägungen im Sinne der Regimesicherheit die Hauptrolle für Bela­rus’ Verhalten gespielt haben. Auch eine Vertiefung der bilateralen Bezie­hung zu Russland in Anbetracht des Ukraine-Krieges und der innenpolitischen Unruhen kann eine Triebfeder gewesen sein.

Für Abschreckung als Hauptfaktor des Minsker Beschlusses spricht einiges. Erstens lautet die Maxime der Offiziellen in Minsk, der Westen müsse im Krisenfall vor kon­ventionellen Angriffen auf Belarus abge­schreckt werden. In Äußerungen der Regie­rung und staatlichen Dokumenten wird die Dis­lozierung russi­scher Kernwaffen als Rück­versicherung gegen­über der Nato und als Symbol russischer Sicherheitsgarantien für Belarus bezeichnet. Ein Indiz dafür ist auch der öffentliche Druck, den Lukaschenka auf Putin im Hin­blick auf die Sta­tionierung nuklearfähiger Systeme aus­geübt hat. Zudem entsprechen diese Beweg­gründe den Erwartungen, wie sich auto­kratische Staaten typischerweise verhalten: Ein Krieg könnte Lukaschenkas autoritäres Regime stärken, indem er die Bevölkerung gegen einen gemeinsamen Feind vereint. Wahr­schein­licher ist aber, dass ein externer Konflikt innenpolitische Umwälzungen und den Zusammenbruch des Regimes zur Folge hätte.

Zweitens sind Übungen und Simula­tio­nen Anzeichen dafür, dass Minsk einen begrenzten konventionellen Angriff west­licher Akteure auf das eigene Land be­fürch­ten könnte. Fer­ner erscheint es ratio­nal, dass die belarussische Führung ver­sucht, den Westen von dieser Option abzuschrecken. Sollte zum Beispiel ein Konflikt des Westens mit Russland über die Ukraine eskalieren, hätten westliche Regierungen die Möglichkeit, gegen Mos­kaus Verbündete in Minsk ein Zeichen zu setzen, und müss­ten sich weni­ger über Vergeltung und nukle­are Eskalation sorgen, als wenn sie russi­sches Staatsgebiet direkt angriffen. Auch wenn Russ­land Kernwaffen in der Ukraine einset­zen sollte, würde Minsk fürchten, dass der Westen eher bereit wäre, Gewalt gegen Belarus anzuwenden, als den Atom­waffenstaat Russland anzugreifen.

Drittens war Minsk stets bemüht, seine Fähigkeit zum Einsatz von Nuklearwaffen im Extremfall zu bekräftigen. So sug­gerier­ten Lukaschenka und sein Verteidigungsminister wiederholt, Belarus spiele eine Rolle im Entscheidungsmechanismus für den Einsatz von Atomwaffen, obschon das belarussische Außenministerium zuvor bestätigt hatte, dass Russland die Kontrolle über diese Waffen nicht an Minsk über­geben würde. Moskau hat diese Äußerungen – wohl um die Abschreckungs­bemühungen Minsks nicht zu beeinträch­tigen – nie allzu deutlich demen­tiert, aber mehrmals betont, dass Russland die volle Kontrolle behalten werde.

Die Plausibilität dieser Argumentation wird durch Probleme der erweiterten Ab­schreckung in Frage gestellt, welche die Ent­­scheidungsträger und Entscheidungs­trägerinnen in Westeuropa seit Jahrzehnten plagen. Solange Russland über die Kontrolle verfügt, ist ungewiss, ob eine bloße Statio­nierung auf belarussischem Boden und die Fähigkeit der Minsker Streit­kräfte zum Atomwaffeneinsatz als aus­reichende Ab­schreckung gelten können. Kaum jemand bezweifelt, dass eine Inva­sion wesentlich riskanter wäre. Aus bela­russischer Sicht bleibt jedoch fraglich, wie viel Abschreckung gegen einen begrenzten konventionellen Angriff auf militärische Kräfte erreicht wird. Zudem ist Moskaus Nuklear­doktrin zweideutig: Einerseits sollen Russ­lands Atomstreitkräfte auch zur Abschreckung von Aggressionen gegen Ver­bündete dienen. Andererseits legt sie nahe, dass Moskau den Atomwaffeneinsatz nur dann in Betracht zöge, wenn ein Ver­bünde­ter mit ballistischen Raketen oder mit Massen­vernichtungswaffen angegriffen würde.

Es ist darum plausibel, dass Minsk den Einsatz instrumentalisierte, um die Bezie­hungen zu Moskau zu stärken – und zwar aus innen- wie außen­politischen Gründen. Innenpolitisch könnte die an­geschlagene Regierung ver­sucht haben, Pro­testen im eigenen Land vorzubeugen, indem sie zeig­te, dass Russ­land Belarus für wichtig genug hielt, um dort Atomwaffen zu statio­nieren, und daher nicht zögern würde, zum Schutz seiner bevorzugten Führung ein­zugreifen. Überdies könnte ein neues Maß an militä­rischer Stärke als Instrument gesehen wer­den, das Militär an Lukaschenka zu binden und die Führungsstärke der Entscheidungsebene zu demonstrieren. Auf außenpolitischer Ebene könnten die Entscheidungs­träger in Minsk beabsichtigt haben, den Druck des Westens durch eine Annä­herung an Moskau zu begrenzen und damit vor Augen zu führen, dass ein gewaltsamer Sturz des Lukaschenka-Regimes nicht gelin­gen kann und daher jede Unter­stützung für die Oppo­sition zwecklos wäre. Ein weiteres Ziel könnte gewesen sein, die Beziehungen zu Moskau vorteilhafter zu gestalten. Belarus’ Rolle als Russlands anti­westlicher Vorposten hatte Lukaschenka bereits Ende der 1990er Jahre erfolgreich inszeniert. Sinn und Zweck war, damit For­derungen des Kremls nach realen Integrationszugeständnissen abwehren zu können. Im Fall der Stationierung russischer Kern­waffen könn­te der belarussische Staats­chef eben­falls versucht haben, sich für den Kreml unentbehrlich zu machen, um anderen For­men russischen Drucks zuvor­zukommen.

Gegen diese Argumentation der Annäherung spricht, dass die Oppo­sition im eige­nen Land schwach ist, die Abhängigkeit Minsks von Moskau schon beträchtlich ist und die Bemühungen des Westens, einen Keil zwischen Russland und Belarus zu trei­ben, offenbar nur wenig Aussicht auf Erfolg haben. Eine umstrittene Regierung in Minsk könnte diese Einschränkungen indes anders wahrnehmen und die Risiken für ihr Über­leben viel höher einschätzen.

Motivlage in Moskau

Die verfügbaren Informationen erlauben nur eine vorläufige Analyse der Überlegungen Russlands zur Kernwaffenstationierung in Belarus. Hauptmotive schei­nen bündnispolitische Beweggründe, mili­tärische Er­wägungen, eine Signalwirkung gegenüber dem Westen und vielleicht auch Verhandlungsstrategien gegenüber den USA gewesen zu sein.

Erstens dürfte Russland, spiegelbildlich zu Minsks Entscheidungsgründen, eine Ver­legung von Nuklearwaffen nutzen, um seinen Einfluss auf Belarus auszuweiten. Angesichts von Putins Bestreben, Belarus’ Unabhängigkeit einzuschränken oder gar aufzuheben, hatte Lukaschenka über zwei Jahrzehnte versucht, zwischen Ost und West zu lavieren. Doch seit den Stra­ßen­protesten im Sommer 2020 sah Minsk keinen anderen Ausweg, als sich vermehrt auf Moskau zu verlassen. Gleichzeitig hat Belarus gute Gründe, die Annäherung Russ­lands zu fürchten. Moskaus Krieg könnte das Land in einen Konflikt mit dem Westen hineinziehen. Zumindest könnte Russland verlangen, an seiner Seite in den Krieg ein­zutreten. Ein russischer Sieg über die Ukra­ine könnte zu einem Präzedenzfall für russisches Handeln gegenüber Belarus werden. Deshalb hat Moskau ein Interesse daran, Lukaschenkas Bewegungsfreiheit zu verringern. Die Dislozierung sensibler Militäreinrichtungen auf belarussischem Territorium bietet hierfür konkrete, strate­gische und symbolische Mittel.

Zweitens kann Moskau Minsks Hilfe gut für seine militärischen und politischen Ziele in der Ukraine gebrauchen und dürfte nachdrücklich bestrebt sein, die Sicherheits­bedenken der belarussischen Führung zu zerstreuen. Russland nutzte belarussisches Gebiet, um im Februar 2022 in die Ukraine einzumarschieren. Belarus leistete logis­tische Unterstützung, bildete Truppen aus, stellte Waffen zur Verfügung, behan­delte Verwundete und reparierte Aus­rüstung – Maßnahmen, die teilweise bis heute anhalten. Zudem genießt Russland weitreichende mili­tärische Privilegien in Belarus. Die Minsker Truppen nahmen aber nicht an den Kampf­handlungen teil – sie könnten Moskau allenfalls geringe takti­sche und vor allem symbolische Vorteile verschaffen. Dennoch müssten Moskaus Planer be­fürch­ten, dass Minsk im Krisenfall Angst vor westlichen Angriffen haben und den russi­schen Handlungsspielraum redu­zieren könnte. Bis zu einem gewissen Grad scheint es möglich, diesen unerwünschten Ent­wicklungen durch Stationierung von nuklearfähigen Trägersystemen oder gar von Kern­waffen vorzubeugen.

Drittens könnten die Verlegungen ein weiteres Signal an die westlichen Staaten sein. Russland hat im Zuge des Krieges gegen die Ukraine eine Reihe nuklearer Signale gesendet, durch Aussagen ebenso wie durch Übungen. Damit wollte Moskau höchst­wahrscheinlich sowohl west­liche Akteure vor einem Angriff auf sich und seine Ver­bündeten abschrecken als auch den Westen dazu bewegen, seine Unterstützung für die Ukraine herunterzufahren. Russland nahm nicht nur normative und diplomatische Kosten in Kauf, wie bei seinen Anspielungen auf Atomschläge und Drohungen damit, sondern auch finanzielle und militärische Kosten und ein gewisses Maß an Unsicherheit (costly signaling) durch die Übergabe der Iskander-Systeme und die mutmaßliche Stationierung von Nuklearwaffen. Auf diese Weise wollte Russland womöglich seine Entschlossenheit unter­streichen, Eskalationsrisiken im Kon­flikt mit der Nato einzugehen.

Schließlich könnte Russland auch ver­suchen, die in Belarus stationierten Atom­waffen als Verhandlungsmasse in künftigen Rüstungskontrollverhandlungen mit den USA einzusetzen. Moskau hat in diesem Zusammenhang bereits kundgetan, dass die russischen Nuklearwaffen so lange in Bela­rus bleiben werden, bis die USA ihre eige­nen Kernwaffen aus Europa abziehen. Diese Maximalforderung erscheint un­realistisch, zumal die Diskrepanz zwischen den rund 100 nichtstrategischen Nuklearwaffen der USA in Europa und den 1.000 bis 2.000 der­artigen Waffen Russlands sehr groß ist. Gleichwohl ist denk­bar, dass Russland das Stationierungsthema bei Verhandlungen über ein begrenztes Rüstungskontroll­abkommen aufs Tapet bringt.

Bedenken im Kontext mit dem Erwerb von Atomwaffen durch Belarus schei­nen keine Rolle gespielt zu haben. In der Ver­gangenheit haben Staaten häufig Kern­waffen im Ausland stationiert, um ihre Verbündeten von Proliferation abzuhalten – vor allem wenn der Verbündete dazu technisch in der Lage oder politisch ent­schlossen war. Allerdings deutet wenig darauf hin, dass hier dieser Mechanismus dahin­tersteckt: Belarus hat kein Interesse bekun­det, selbst Nuklearwaffen zu besit­zen, und es ist ungewiss, wie hoch die technologische Schwelle für Minsk wäre. Auch die überwältigende Abhängigkeit Minsks von Moskau spricht nicht gerade für diese Erklärung. Fehlende Beweise bedeu­ten jedoch nicht, dass diese Argumentation völlig ausgeschlossen werden kann.

Auswirkungen auf militärische Kräfteverhältnisse

Minsks nuklearfähige Trägersysteme und Moskaus vermutete Stationierung von Nuklearwaffen in Belarus verringern zwar den westlichen Handlungsspielraum. Sie erhöhen Russlands Offensivfähigkeit aber kaum und beeinflussen die Gefahr einer nuklearen Eskalation nur geringfügig.

Erstens wäre im Krisenfall, etwa bei einer nuklearen Eskalation des Krieges in der Ukraine, selbst ein begrenzter konventioneller Angriff des Westens auf Belarus mit deutlich höheren Risiken verbunden. West­liche Planer könn­ten wohl nicht gänzlich ausschließen, dass die Trägersysteme in Belarus mit Atom­waffen bestückt und diese eingesetzt werden. Damit stünden die erwähnten Stützpunkte und Nuklearlager vermutlich ganz oben auf der westlichen Zielliste, was die Eskalationsrisiken merklich erhöhen und abschreckend wirken würde.

Zweitens verändern sich Moskaus mili­tärische Optionen voraussichtlich nur mar­ginal. Schon jetzt kann Russland mit seinen diversen nuklearfähigen Systemen Ziele in ganz Europa bedrohen. Auch statio­niert Russland bereits Iskander-Systeme in der weit westlich gelegenen Exklave Kalinin­grad und könnte im Kriegsfall auch eigene Rake­tensysteme einschließlich taktischer Nuklear­waffen aus Zentrallagern nach Belarus verlegen. Im Gegenteil dürfte es Russ­lands Fähigkeit zur Kriegsführung eher beeinträchtigen, dass Moskau seine knap­pen Raketensysteme schlechter ausgebildeten und weniger vertrauenswürdigen bela­russischen Bedienern überlässt.

Militärisch bringt auch die Entscheidung für die Su-25 fast nichts. Die belarussischen Flugzeuge könnten Russland eine gewisse Redundanz bieten. Sie können aber nur Gravitationsbomben einsetzen und wären gegen moderne westliche Luftverteidigungs­systeme wahrscheinlich wirkungslos. Zudem kann Russland den belarussischen Luftraum schon seit langem für den Einsatz eigener, wirkungsvollerer Kampfflugzeuge nutzen. Alternativ hätten auch die neueren belarussischen Su-30-Kampf­flugzeuge um­gerüstet werden können, was Lukaschenka selbst vorgeschlagen hatte. Dies wäre aber wahrscheinlich teurer und langwieriger gewesen. Da Schnelligkeit und Wirtschaftlichkeit Vorrang vor militärischer Wirksam­keit hatten, dürfte Russland diese Systeme in erster Linie für politische Zwecke und weniger für militärische Ope­rationen vor­gesehen haben.

Drittens dürfte sich die Wahrscheinlichkeit eines absichtlichen, irrtümlichen oder versehentlichen Nuklearwaffeneinsatzes allein durch das russisch-belarussische Arrangement nur geringfügig erhöhen.

Ein russischer Kontrollverlust im Krisenfall kann nicht völlig ausgeschlossen wer­den. Einerseits wären die belarussischen Streitkräfte nicht zwangsläufig in der Lage, einen nuklearen Sprengkopf ein­zusetzen, selbst wenn sie die Kontrolle über alle seine physischen Komponenten erlangten und ihn zusammenbauen könnten. Russische nicht­strategische Nuklearsprengköpfe sind durch Sicherheitsvorrichtungen (permissive action links) verriegelt, die zum Entsperren Codes erfordern. Andererseits schließen verschiedene Experten nicht aus, dass diese Systeme mit genügend Aufwand geknackt werden könnten. Dies würde das Risiko einer ab­sichtlichen Eskalation etwas er­höhen, da Minsk weit mehr zu verlieren hätte als Moskau.

Zu einer irrtümlichen Eskalation kann es kommen, wenn beispielsweise die Gegenseite bestimmte Schritte missversteht und dadurch zu einer eskalativen Reak­tion angespornt wird. Theoretisch ist denkbar, dass die Nato bei einer Verlegung russischer Nuklearsprengköpfe nach Bela­rus oder innerhalb des Landes im Krisenfall Schwie­rigkeiten hätte, die genauen Absichten Moskaus oder Minsks zu verstehen. Ein der­artiger Schritt ließe sich als bloßes Signal, aber auch als Vorbereitung auf einen mög­lichen Atomwaffeneinsatz interpretieren. Sollten die heute verfügbaren Kommu­ni­kationskanäle nicht zur Deeskalation bei­tragen und sich die Situation aufschaukeln, ist eine militärische Reaktion des Westens vorstellbar.

Eine derartige Dynamik wäre aber stark kontextabhängig und auch mit den in Russ­land gelagerten nichtstrategischen Kern­waffen denk­bar. Daher ist fraglich, ob das Risiko einer irrtümlichen Eskalation allein auf­grund des russisch-belarussischen Arrangements steigt. Verschlechtern würde sich die Situation jedoch, sobald Belarus die Kontrolle über die russischen Waffen über­nähme.

Schließlich gilt das Gleiche für die ver­sehentliche Eskalation, die etwa durch eine technische Panne ausgelöst werden kann. Auch hier dürfte sich nicht viel ändern, so­lange Russland seine nuklearen Sicherheits- und Sicherungsstandards im Zusammenhang mit der Stationierung in Belarus nicht absenkt. Dennoch wäre die Situation im Krisenfall wesentlich schwerer berechenbar.

Rechtliche und normative Dimensionen

Darüber hinaus stellt sich aus rechtlich-normativer Perspektive die Frage, ob die mut­maßliche Stationierung russischer Nuklear­waffen mit dem Völkerrecht verein­bar ist und welche Implikationen sie für das nukleare Nichtverbreitungsregime haben könnte.

Schon zu Zeiten der Sowjetunion stationierte Moskau in der damaligen Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik unter­schiedliche Nuklearwaffensysteme. Nach dem Zerfall der Sowjetunion setzten sich sowohl Russland als auch der gesamte Westen dafür ein, dass die in Belarus, Kasach­stan und der Ukraine verbliebenen Atom­waffen an Russland übergeben wer­den. Im Budapester Memorandum über Sicherheitsgarantien für Belarus ver­pflich­tete sich Minsk 1994, als Gegenleistung für Sicherheitszusagen seitens der ständigen Mit­glieder des Sicher­heitsrates der Ver einten Nationen diese Waffen an Russland zurückzugeben.

Das Memorandum wurde von Lukaschenkas Vorgänger Stanislau Schuschkewitsch ausgehandelt. Dieser hatte das Land bereits im Juli 1993 als erstes postsowjetisches Land, welches Nuklearwaffen geerbt hatte, mit dem Status eines Nichtnuklearwaffenstaats in den Nichtverbreitungsvertrag (NVV) geführt. Lukaschenka, der im Sommer 1994 zum Präsidenten gewählt wurde, hatte erst nach erheblichem Druck der USA und Russlands einer Rückgabe der in Belarus stationierten Kernwaffen zugestimmt. Die letzten von ihnen wur­den bis Ende 1996 zurück nach Russland gebracht.

So stellt sich die Frage der rechtlichen Vereinbarkeit einer erneuten Stationierung von Nuklearwaffen in Belarus. Bei dem Memorandum handelt es sich nur um ein politisch bindendes Dokument, weshalb es schwierig ist, eine Rechtsverletzung festzustellen.

Der NVV hingegen verpflichtet Nuklearwaffenstaaten, keine Kernwaffen und keine sensiblen Technologien an Nichtnuklearwaffenstaaten weiterzugeben, während Letztere verbindlich erklärten, keine solchen Waffen zu entwickeln. Der Vertrag verbie­tet jedoch nicht die Statio­nierung von Nuklearwaffen in Drittstaaten, solange die Kontrolle darüber bei den eigentlichen Besit­zern verbleibt. Diese Praxis verfolgt auch die Nato mit der nuklearen Teilhabe, in deren Rahmen die USA seit Jahrzehnten Atomwaffen in derzeit fünf europäischen Staaten lagern. Trotz gegen­teiliger politi­scher Erklärungen aus dem globalen Süden dürfte es nicht leicht sein, einen mit der nuklearen Teil­habe der Nato vergleichbaren Mechanismus zwischen Russland und Bela­rus als völker­rechts­widrig darzustellen.

Dennoch: Sollte Moskau tatsächlich dafür gesorgt haben, dass russische Kern­waffen nach Belarus gebracht wurden, scheint es damit gegen den eigenen lang­jährigen Anspruch zu verstoßen und ein höchst inkonsistentes Narrativ zu präsentieren. Seit 2015 kritisiert Russland regel­mäßig die nukleare Teilhabe der Nato als Verstoß gegen den Nichtverbreitungs­vertrag – ungeachtet dessen, dass sich Washington mit Moskau während der Verhandlungen zum NVV in den 1960er Jahren detailliert über die Ver­einbarkeit der nuklearen Teilhabe mit dem Vertrag verständigt hatte. Moskau scheint die Verlegung von Atomwaffen nach Belarus mit dem Ver­weis auf den Unionsstaat rechtfertigen zu wollen, den Minsk und Moskau 1999 gegründet haben. Dies kann freilich nicht überzeugen, da der Unionsstaat kein international anerkanntes Völkerrechts­subjekt ist. Gleichzeitig ver­glich Putin die Stationierung von Atom­waffen in Belarus direkt mit der nuklearen Teilhabe der Nato und untergrub damit sein eigenes Unionsargument.

Darüber hinaus halten sich die normativen Auswirkungen dieser Entwicklungen offenbar in Grenzen. Erstens scheint Russ­lands Droh­gebaren im Krieg gegen die Ukraine eine weitaus größere Verletzung internationaler Normen im Bereich der Nuklearwaffenproblematik darzustellen als die Verlegung nach Belarus. Und doch scheint selbst dieses Verhalten die Nichtverbreitungsdiplomatie kaum zu beeinträchtigen. Zweitens haben Moskau und Peking zwar wiederholt die nukleare Teil­habe der Nato kritisiert. Doch diese Praxis besteht seit Jahrzehnten, sodass eher nicht damit zu rechnen ist, dass Russlands Nach­ahmung nuklearer Teilhabe das internationale Kernwaffenregime wesentlich beein­flusst. Drittens schließlich scheinen inter­nationale Regel­werke vor allem durch nega­tive Hand­lungen von Staaten beschädigt zu werden, welche diese Regeln und Normen zuvor nachdrücklich unterstützt haben. Russland aber hat in den letzten Jahren und erst recht seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine kaum mehr Interesse an Nichtverbreitung von Kernwaffen gezeigt und ande­ren Interessen klar Vorrang ein­geräumt.

Aus diesen Gründen dürfte eine Stationierung russischer Atomwaffen in Belarus das Miteinander auf dem diplomatischen Parkett erschweren. Gravierende Folgen für das internationale Nuklearwaffenregime im Ganzen dürften indes nicht auftreten.

Empfehlungen für Europa und die Nato

Die mutmaßliche Verlegung von Kern­waffen nach Belarus ändert kaum etwas an Russlands nuklea­ren Fähigkeiten. Daher haben diese Schritte nur wenig direkte Konsequenzen für die militärische Sicher­heit Europas. Es wäre verfehlt, als Reaktion auf Moskaus Maßnahmen die nukleare Abschreckung der Nato zu überdenken. Auch wenn das russische Vorgehen in Belarus viele dazu veranlassen wird, die Stationierung von Atomwaffen in Ost­europa zu ver­langen, tut das Bündnis gut daran, diese Forderungen für sich separat zu bewerten.

Diese Analyse stützt jedoch die These, dass das russische Vorgehen in Belarus von Moskaus zunehmender Risikofreude zeugt. Im Vergleich zu all seinen nuklearbezogenen Äußerungen im Krieg gegen die Ukraine verursacht Moskaus Übergabe von Träger­systemen und mutmaßliche Statio­nierung von Atomwaffen in Belarus sowohl Kosten als auch Risiken. Sollten sich die Waffen tatsächlich in Belarus befinden, geht Russ­land das Risiko ein, dass Minsk irgendwann in der Zukunft die Kontrolle über diese Atomsprengköpfe erlangt oder sich weigert, sie zurückzugeben. Vor allem aber sind die Trägersysteme und die Lager­stätten der Sprengköpfe, die nahe der Westgrenze von Belarus stationiert sind, äußerst anfällig für westliche Aufklärung und Gegenmaßnahmen. Im Falle eines konventionellen Angriffs westlicher Akteure müss­ten sie daher entweder nach einer Vorwarnung eingesetzt werden oder den Angriff abfan­gen, was das Risiko einer nuklearen Krise erhöhen würde.

In Anbetracht von Russlands Risiko­bereitschaft und Entschlossenheit muss die Nato jetzt ihre konventionelle Verteidigung ein­schließlich Luftverteidigung, Raketenabwehr und Vergeltungsoptionen verstärken. Die europäischen Regierungen sollten eng mit Washington zusammen­arbeiten, um neue konventionelle Strategien für ein gemeinsames Eskalations­management zu entwickeln, während sie gleichzeitig ihre eigenen Rüstungs­programme vorantreiben.

Dr. Liviu Horovitz ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Lydia Wachs promoviert in Stockholm. Das Aktuell entstand im Rahmen des Projekts STAND (Strategic Threat Analysis and Nuclear (Dis-)Order). Der Autor und die Autorin danken Karina Matvienko für die exzellente Forschungsassistenz.

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