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Wie Russland für einen langen Krieg rekrutiert

Verdeckte Mobilisierung über »Freiwillige«, Vorbereitung einer neuen Mobilmachung

SWP-Aktuell 2024/A 26, 07.06.2024, 8 Seiten

doi:10.18449/2024A26

Forschungsgebiete

Im Abnutzungskrieg mit der Ukraine setzt der Kreml darauf, langfristig deutlich mehr Soldaten als das angegriffene Land an die Front schicken zu können. Nach der unpopulären Teilmobilmachung von Herbst 2022 wurde die Anwerbung formal frei­williger Kämpfer im Rahmen der »verdeckten Mobilisierung« forciert. Dass mit der Diffusion von Gewaltstrukturen auch Risiken für das Regime verbunden sind, zeigte die »Wagner«-Meuterei von Juni 2023. Danach wurde die Kontrolle über die Freiwil­ligenformationen verstärkt. Mittlerweile sind Vorbereitungen für eine mögliche neue Mobilmachungsrunde zu beobachten. Russland rekrutiert aber nicht nur für den Krieg gegen die Ukraine. Wie der geplante Aufwuchs der Streitkräfte auf 1,5 Millionen Soldaten verdeutlicht, bereitet der Kreml sich auf eine dauerhafte Konfrontation mit dem Westen vor.

Seit der Vollinvasion in der Ukraine haben Russlands reguläre Armee sowie die ande­ren beteiligten Kräfte – Nationalgarde und diverse Freiwilligenformationen – hohe Verluste erlitten. »Mediazona« und »BBC Russian Service« konnten zum 24. Mai 2024 die Namen von 54.185 Toten ermitteln; sie gehen davon aus, dass die reale Opferzahl rund doppelt so hoch ist. Schätzungen west­licher Geheimdienste liegen bei ca. 500.000, beziehen jedoch auch Verwundete und Ge­fangene mit ein. Damit wären die personel­len Verluste bereits mehr als zweieinhalb Mal so hoch wie die Gesamtzahl der im Februar 2022 an der Vollinvasion beteilig­ten Soldaten (ca. 190.000).

Russlands Streitkräfte haben aber nicht nur kriegsbedingt erhöhten Personalbedarf. Dieser ergibt sich ebenso aus dem generellen Trend zur Militarisierung der russischen Außenpolitik. Für den Kreml gilt der Ein­satz militärischer Gewalt bzw. die Drohung damit nicht nur als effektives und effizientes, sondern auch als legitimes Mittel, um eigene Interessen durchzusetzen. Dies spie­gelt sich wider in der gestiegenen Zahl russischer Militäreinsätze – von Georgien über Krim und Donbas bis nach Syrien und zu einer wachsenden Zahl afrikanischer Länder – sowie den militärischen Drohungen Moskaus in Richtung Nato- und EU-Staaten.

In der Folge weitete die russische Führung die Zielgröße für die Streitkräfte kon­tinuierlich aus. Vor der Vollinvasion lag diese bei einer Million Soldaten – dazu gehörten Wehrpflichtige, die für zwölf Monate eingezogen werden, Soldaten, die sich für eine bestimmte Zeit zum Dienst in den Streitkräften verpflichten (sogenannte »Kontraktniki«) sowie Berufsoffiziere. Be­reits für Januar 2023 kündigte Putin eine Erhöhung auf 1,15 Millionen Soldaten an. Einen weiteren Aufwuchs auf 1,32 Millio­nen dekretierte er zum Dezember 2023. Bis 2026 sollen die Streitkräfte gar 1,5 Millio­nen Soldaten umfassen. Um dies zu errei­chen, müsste das Verteidigungsministerium parallel zum Ausgleich der Kriegsverluste massiv neues Personal anwerben. Inwieweit dies gelingt, wird nicht nur für den Kriegs­verlauf in der Ukraine entscheidend sein, sondern auch die militärstrategische Aus­gangslage von Nato und EU beeinflussen.

Teilmobilmachung 2022

Bei der Rekrutierung von Personal für den Krieg gegen die Ukraine lassen sich bislang drei – sich teils überlappende – Phasen unterscheiden. Nachdem die Vollinvasion in Erwartung eines raschen Sieges mit zu wenig Soldaten gestartet worden war und schnell hohe Verluste anfielen, ergriff die russische Führung zunächst hastig Ad-hoc-Maßnahmen. Dazu zählte der stark aus­geweitete Einsatz privater Militärfirmen.

Diese Versuche erwiesen sich als un­zureichend, woraufhin Putin mit der am 21. September 2022 verkündeten Teil­mobilmachung die zweite Phase einleitete. In deren Rahmen wurden bis Ende Oktober des Jahres 300.000 Männer – die sogenann­ten »Mobiki« – eingezogen. Wie Putin er­klärte, sollte es sich dabei nur um Reservisten mit nicht näher definierten Spezialisierungen handeln, während Wehrpflichtige und Mitarbeiter der Rüstungsindustrie aus­genommen seien. Nach Medienberichten wurden jedoch auch Personen über der Altersgrenze und solche mit Gesundheitsproblemen eingezogen. Schlecht ausgerüstet und ausgebildet wurden die »Mobiki« umgehend an die Front geschickt.

Die Teilmobilmachung war unpopulär und mit innenpolitischen Risiken für den Kreml verbunden. Hunderttausende Män­ner, darunter viele gut qualifizierte, ver­ließen das Land. In Umfragen des Lewada-Zentrums sank die bedingungslose Unter­stützung für die »militärische Spezialope­ration« von 52 Prozent im März 2022 auf 44 Prozent im Oktober 2022, während nega­tive Gefühle wie Angst und Wut zunahmen. In der Folge kam es zu Protesten so­wie An­schlägen auf Einberufungsämter. Der Kreml reagierte mit einer Mischung aus Repres­sion und verbesserten finanziellen Leistun­gen für die Eingezogenen. Während die Proteste schnell niedergeschlagen wurden, erhielten die »Mobiki« nun denselben Sold sowie Invaliden- und Hinterbliebenen­leistungen wie die regulären Soldaten.

Verteidigungsminister Sergej Schoigu erklärte die Teilmobilmachung zwar schon Ende Oktober 2022 für beendet, doch befin­den sich die »Mobiki« – sofern sie nicht gefallen sind, durch Verwundung ausfielen oder in Gefangenschaft gerieten – noch immer im Kriegseinsatz. Denn Putins Dekret sieht dafür keine zeitliche Begrenzung vor und wurde bis heute nicht formal aufgehoben. Anstatt durch eine neue (Teil-) Mobilmachung Unmut in größeren Teilen der Bevölkerung zu riskieren, entschied sich der Kreml dafür, die Kosten der Zwangs­einberufung auf einen überschaubaren Kreis an Personen zu konzentrieren.

Verdeckte Mobilisierung

In der dritten – bis heute anhaltenden – Phase setzt der Kreml auf ein Vorgehen, das in kritischen Analysen als »verdeckte Mobi­lisierung« bezeichnet wird. Darunter wird die kontinuierliche Anwerbung von »Frei­willigen« in zwei Kategorien verstanden – als reguläre Soldaten, die sich auf Vertragsbasis für eine bestimmte Zeit in den Streit­kräften verpflichten (»Kontraktniki«), sowie als Kämpfer in Freiwilligenformationen. Dahinter steht das Kalkül, dass das Protest­potential bei der »verdeckten Mobilisierung« geringer ist als bei einer zweiten Mobilmachungsrunde. Schließlich handelt es sich formal um Freiwillige, auch wenn deren Rekrutierung nicht selten durch die Ausnutzung von Machtgefällen, durch Täuschung und Zwang geschieht.

»Kontraktniki«

Laut offiziellen Angaben verfügte Russland im März 2020 über 405.000 Vertragssoldaten; bis 2027 sollten es 500.000 sein. Nach der Vollinvasion in der Ukraine wurden nicht nur die Zielgrößen massiv ausgeweitet, sondern zugleich der Zeitraum ver­kürzt, in dem sie zu erreichen waren. Erklärte der Verteidigungsminister im Dezember 2022, bis 2026 sollten 695.000 »Kontraktniki« in den Streitkräften dienen, so forderte er im Dezember 2023 bereits für das Folgejahr 745.000 Vertragssoldaten. Anders als bei der Militärreform von 2008 zielt die An­werbung von »Kontraktniki« seit 2022 nicht mehr primär darauf, die Streit­kräfte quali­tativ zu professionalisieren. Stattdessen geht es darum, möglichst schnell viele Sol­daten für die Front zu rekrutieren.

Russlands Führung folgt dabei keinem ausgearbeiteten Masterplan, sondern geht eher inkrementell über eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen vor. Um den Rekrutierungspool zu erweitern, wurde im Mai 2022 die Altersbegrenzung für »Kontraktniki«, die bislang bei 40 Jahren lag, aufgehoben. Seitdem können Männer bis 65 Jahren einen Vertrag unterzeichnen.

Darüber hinaus wurde die Anwerbung von Wehrpflichtigen, Ausländern und Ge­fängnisinsassen erleichtert. So können sich Wehrpflichtige seit 2023 bereits ab dem ersten – anstatt bisher dritten – Dienstmonat als Vertragssoldat verpflichten. War es Ausländern vor der Vollinvasion nur bis zum Alter von 30 Jahren und mit ausreichenden Russisch-Kenntnissen möglich, einen Vertrag zu unterzeichnen, so wurde die Altersgrenze im Mai 2022 aufgehoben, und Sprachkenntnisse spielen de facto keine Rolle mehr. Strafgefangene können seit Juni 2023 als »Kontraktniki« in den sogenannten »Sturm Z«-Einheiten dienen, wodurch eine bereits seit Anfang des Jahres bestehende Praxis nachträglich legalisiert wurde.

Um die Rekrutierung von »Kontraktniki« zu forcieren, wirbt das Verteidigungsministerium mit hohen Sold- und Sozialleistungen, der Möglichkeit von Straferlass sowie vermeintlich erleichterten Vertragsbedingungen. Erhielten Vertragssoldaten vor der Vollinvasion einen Monatssold ohne Zula­gen von umgerechnet maximal 330 Euro, so liegt dieser nun bei mindestens 2.110 Euro. Dazu kommt eine einmalige Anwer­beprämie von ca. 2.000 Euro, die in man­chen Regionen auch deutlich höher – bis zu 10.000 Euro – ausfällt. Dabei liegt der monatliche Durchschnittsverdienst für ganz Russland bei 800 Euro, in den ärmeren Regionen, aus denen die meisten der Ange­worbenen stammen, sogar nur bei der Hälf­te. Ein Vertragssoldat kann also in einem Jahr so viel verdienen wie in einem zivilen Beruf in mehreren Jahren. Zudem besteht Anspruch auf vergleichsweise hohe Zahlun­gen im Fall von Invalidität (30.000 Euro) oder Tod (50.000 Euro). An Ausländer rich­tet sich seit Ende September 2022 das An­gebot eines erleichterten Einbürgerungs­verfahrens. Mussten sie bisher einen Fünf-Jahres-Vertrag ableisten, reicht nun eine Dienstzeit von einem Jahr, um sich und eigene Familienangehörige für die russische Staatsbürgerschaft zu qualifizieren. Gefäng­nisinsassen, die sich anwerben lassen, kön­nen ihre Strafe reduzieren oder bei Aus­zeichnung amnestiert werden.

Neben Anreizen spielen bei der Rekru­tierung von Vertragssoldaten aber auch Täuschung und Zwang eine Rolle. So kann auf Wehrpflichtige leicht Druck ausgeübt werden, einen Vertrag zu unterzeichnen; schließlich sind sie heimatfern stationiert und im Rahmen der »Großväter-Herrschaft« (dedowschtschina) der systematischen Gänge­lung durch Vorgesetzte ausgesetzt. Aus Medienberichten geht hervor, dass auslän­dische Staatsbürger entweder über die Art ihrer in Aussicht gestellten Tätigkeit ge­täuscht oder bei Gesetzesverstößen vor die Wahl gestellt wurden, eine Gefängnisstrafe abzuleisten oder einen Vertrag bei der Armee abzuschließen. Gegenüber Häftlingen ist es für staatliche Stellen besonders einfach, das Machtgefälle auszunutzen.

Dass selbst vermeintliche Erleichterungen in Zwang umschlagen können, zeigt das Beispiel der verkürzten Dienstzeit. Der neue einjährige Vertrag gilt nur auf dem Papier; denn mit dem Teilmobilmachungsdekret von September 2022 legte Putin fest, dass die Verträge aller »Kontraktniki« so lange gelten, wie die »militärische Spezialoperation« andauert. In diesem Zeitraum lassen sich Dienstverträge nicht kündigen, und auslaufende Verträge müssen erneuert werden. Faktisch lässt sich damit von einer permanenten Mobilisierung nicht nur der »Mobiki«, sondern auch der »Kontraktniki« sprechen.

Wildwuchs an Freiwilligen­formationen

Die zweite Säule der »verdeckten Mobilisierung« bilden Kämpfer, die über das breite Feld der Freiwilligenformationen rekrutiert werden. Zu Beginn der Vollinvasion griff Russlands Führung dabei auf existierende Strukturen – wie private Militärfirmen oder Kosakengruppierungen – zurück, doch forcierte sie bald die Ad‑hoc-Grün­dung neuer Formationen. Im Ergebnis entstand ein Wildwuchs an Freiwilligenstrukturen mit unterschiedlichem legalen Status, hete­rogener Finanzierungs- und Rekrutierungsbasis sowie in Einzelfällen recht weitgehender Autonomie gegenüber der militärischen Führung.

Zu den bereits vor 2022 etablierten Grup­pierungen gehören private Militärfirmen wie »Wagner«, »E.N.O.T« oder »Russitsch«, Kosaken-Einheiten sowie Milizen im besetz­ten Donbas. Im Zuge der Vollinvasion erleb­ten vor allem die privaten Militärfirmen einen massiven Aufwuchs und Bedeutungsgewinn. Zwar sind Gründung, Finanzierung und Rekrutierung »illegal bewaffneter For­mationen« in Russland bis heute verboten. Zugleich wird die enge Kooperation zwi­schen Söldnergruppen und staatlichen Stel­len – von der Finanzierung über Rekrutierung und Training bis zur Bewaffnung – offen praktiziert. Dazu zählt beispielsweise, dass »Wagner« bis Frühjahr 2023 in Gefäng­nissen anwerben durfte. Es waren vor allem so rekrutierte Männer, die in der verlust­reichen »Taktik menschlicher Wel­len« ein­gesetzt wurden. So sollen von den bis zu 78.000 »Wagner«-Kämpfern allein im Kampf um die ukrainische Stadt Bachmut rund 22.000 gefallen sein.

Anders als bei Söldnergruppierungen werden Kosaken nicht primär über mone­täre Anreize geworben; für sie spielen – in der Tradition der »Wehrbauern« aus dem zaristischen Russland – ideologische Motive eine größere Rolle. Patriotismus, Militarismus und Orthodoxie gehören zu den Grundfesten des Kosakentums. Bis Ende 2023 kämpften 27.000 Kosaken in der Ukraine, so Angaben der »Allrussischen Kosakengesellschaft«. Seit 2014 waren zudem russische Milizen in den besetzten ukrainischen Gebieten entstanden. Insbe­sondere die »Union der Donbas-Freiwilli­gen« wirbt seit 2022 dort und in Russland selbst Kämpfer für den Fronteinsatz an.

Erst nach der Vollinvasion entstanden Freiwilligenformationen, die von den Regionen und von Unternehmen rekrutiert werden. Noch vor der Teilmobilmachung hatte die Regierung im Juli 2022 die Ver­waltungen der 85 Föderationssubjekte – inklusive der illegal annektierten Krim und Sewastopol – angewiesen, jeweils ein Bataillon aus ca. 400 Männern zu bilden. Auf diese Weise sollten schnell 34.000 Kämpfer verfügbar werden. Seit Sommer 2022 rekrutieren auch (halb-)staatliche und private Unternehmen unter ihren Mitarbeitern Kämpfer für den Krieg. Dazu gehören Einheiten von Gasprom (»Potok«, »Plamia«, »Fakel«), Roskosmos (»Uran«) oder Rusal (»Sokol«). Wie bei den privaten Militär­firmen und regionalen Freiwilligen-Batail­lonen wird auch hier mit Zahlungen weit über jenen für reguläre »Kontraktniki« ge­worben.

Diffusion oder Kontrolle der Freiwilligenformationen?

Über die Freiwilligenformationen ließen sich rasch viele Kämpfer rekrutieren, doch ergeben sich daraus auch Risiken für Re­gime und Staat. Diese reichen von der man­gelnden Kontrolle einzelner Strukturen durch das Verteidigungsministerium bis hin zur Erosion des staatlichen Gewalt­monopols. Die »Wagner«-Meuterei machte dem Kreml solche Gefahren bewusst und führte zu einer neuen Phase im Umgang mit den Freiwilligengruppierungen.

Aus einem Streit um die Zuteilung von Ressourcen hatte sich seit Herbst 2022 zu­nächst ein offener Machtkampf zwischen dem Finanzier von »Wagner«, Jewgeni Prigoschin, und Verteidigungsminister Schoigu entwickelt. Prigoschin warf der Militärführung Inkompetenz und den Eli­ten Dekadenz vor, während er sich selbst als eine Art Volkstribun mit »Wagner« als patriotischer Volksarmee stilisierte.

Schoigu reagierte Mitte Juni 2023, indem er alle Freiwilligenformationen anwies, bis zum 1. Juli einen Vertrag mit dem Vertei­digungsministerium zu unterzeichnen. Auf diese Weise sollten auch die bislang illega­len Strukturen wie private Militärfirmen legalisiert und zugleich der Kontrolle des Verteidigungsministeriums unterstellt wer­den. Prigoschin verweigerte den Befehl und ließ einen Teil seiner Kämpfer am 23. Juni in Richtung Moskau marschieren. Auch wenn die Meuterei scheiterte, offenbarte sie die Risiken, die aus der »Proxyfizierung« der russischen Gewaltstrukturen nicht nur für das Verteidigungsministerium, sondern das Regime als Ganzes erwachsen.

In der Folge zerstörte der Kreml das Modell »Wagner«. Die private Militärfirma hatte nicht nur wegen ihrer Größe eine Sonderrolle eingenommen, sondern auch deshalb, weil sie in das breite Firmengeflecht eines Gewaltunternehmers mit poli­tischen Ambitionen eingebunden war. Die Unternehmensstruktur Prigoschins wurde zerschlagen, er selbst starb zusammen mit dem Gründer von »Wagner«, Dmitrij Utkin, bei einem Flugzeugabsturz am 23. August 2023. Die Kämpfer der Firma wurden vor die Wahl gestellt, entweder einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium abzu­schließen oder nach Belarus ins »Exil« zu gehen.

Über »Wagner« hinaus nahm das Ministerium die Meuterei zum Anlass, alle Frei­willigengruppierungen – wie ohnehin geplant – einer stärkeren Kontrolle zu unterwerfen. Zu diesem Zweck werden sie bzw. ihre Kämpfer in drei größere, vom Ministerium beaufsichtigte Dachorganisa­tionen überführt: »Redut«, »BARS« und »Afrikakorps«. Bei »Redut« handelt es sich formal selbst um eine private Militärfirma, die jedoch als reine Frontorganisation des militärischen Geheimdienstes GRU gilt. »BARS« wiederum wurde 2015 eigentlich als »Armee-Kampfreserve« der russischen Streitkräfte gegründet. Anstatt Reservisten auszubilden, entwickelte sie sich nun zu einem Sammelbecken für Freiwilligenstrukturen. Unter dem Dach von »Redut« und »BARS« kämpfen Einheiten der »Union der Donbas-Freiwilligen«, der »Allrussischen Kosakengesellschaft« sowie der von Unter­nehmen aufgestellten Gruppierungen. Das neu gegründete »Afrikakorps« wiederum übernimmt die bislang von »Wagner« ge­führten Einsätze in afrikanischen Ländern.

Die Gefahr einer Diffusion von Gewaltstrukturen ist nicht schon dadurch ausge­räumt, dass sie formal dem Verteidigungsministerium unterstellt wurden; im Zuge des Krieges kann das Risiko perspektivisch sogar wachsen. Denn an der Rekrutierung und (Mit-)Finanzierung entsprechender Kapazitäten ist weiterhin eine Vielzahl von Akteuren außerhalb des Militärs beteiligt – von regionalen Eliten über Unternehmer bis hin zu eher ideologisch getriebenen Kräften. Zwar stellt die Aufstellung von Freiwilligenformationen primär ein Mittel dar, um Loyalität gegenüber dem Präsidenten zu demonstrieren; dieses Vorgehen scheint zunehmend aber auch als Ausweis der eigenen Machtposition im Elitengeflecht zu dienen, ebenso als Absicherung für den Fall einer Eskalation von Konflikten innerhalb des Systems. Am unmittelbarsten gilt das für die »Kadyrowzy« – die formal der Nationalgarde und dem Verteidigungsministerium unterstellten Kämpfer des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow, die de facto seine Privatarmee bilden.

Für den Kreml besteht kein zwingender Grund, die Rekrutierung über Freiwilligenformationen grundsätzlich in Frage zu stel­len, solange die präsidentielle Machtvertikale nicht herausgefordert wird. Im poly­zentrisch organisierten System des russi­schen Sicherheitsapparates ist Konkurrenz durch funktionale Überlappungen und strukturelle Doppelungen ein wichtiges Instrument, mit dem die übergeordnete In­stanz des Präsidenten ihre Kontrolle ausübt. Vor diesem Hintergrund kann die Vielfalt an Freiwilligenformationen auch eine Ver­sicherung Putins gegen einen Machzuwachs des Militärs in Zeiten des Krieges sein.

Grenzen der verdeckten Mobilisierung

Bei der »verdeckten Mobilisierung« dürfte es künftig aber zu Begrenzungen und Verän­derungen im Rekrutierungspool kommen, in deren Folge der Kreml bei gleichbleibender politischer Zielsetzung eine neue Mobil­machungsrunde kaum mehr wird vermeiden können. So dürfte die Anwerbung regu­lärer Vertragssoldaten schwerer werden, je länger der Krieg dauert. Zwar wurden in den ersten zehn Monaten des Jahres 2023 nach offiziellen Angaben 305.000 und in den ersten drei Monaten 2024 abermals 100.000 »Kontraktniki« rekrutiert. Doch ist zu erwarten, dass Interessierte künftig eher einen Vertrag bei den Freiwilligenforma­tionen abschließen. Denn mittlerweile sind die freiwilligen Kämpfer hinsichtlich ihrer sozialen Absicherung den »Kontraktniki« gleichgestellt, während sie zugleich höhere Anwerbeprämien erhalten und ihr Vertrags­verhältnis nach Ablauf der vereinbarten Zeitspanne eigenständig beenden können.

Bei den Freiwilligenformationen wieder­um ist ein Teil des Rekrutierungspotentials bereits stark erschöpft. Dies trifft insbesondere auf Gefängnisinsassen zu, deren Zahl seit der Vollinvasion bis Dezember 2023 um 105.000 auf 249.000 gesunken ist. Auch dürfte bereits ein wesentlicher Teil der Männer aus ärmeren Regionen bzw. prekä­ren Bevölkerungsschichten, die im Kriegs­dienst einen Ausweg aus ihrer wirtschaftlichen Lage sehen, angeworben worden sein. Demotivierend wirkt sich dabei wohl aus, dass die versprochenen Leistungen oftmals nicht oder nur teilweise ausgezahlt wurden.

Größeres Rekrutierungspotential besteht bei Ausländern sowie ideologisch motivierten Kräften aus Russland. Die Anwerbung von Kämpfern aus dem »globalen Süden« hat seit Mitte 2023 deutlich zugenommen. Angesichts von Sprachproblemen und man­gelndem Training ist der militärische Nut­zen aber begrenzt – es geht hier eher um »Kanonenfutter«. Dies wiederum kann das Image Russlands im »globalen Süden« be­schädigen, wie es auch Berichte über Täu­schung und Zwang bei der Anwerbung tun. In der Folge hat etwa Nepal seinen Bürgern bereits verboten, in Russland zu arbeiten.

Leichtere Zugriffsmöglichkeiten haben Russlands Behörden bei den bereits im Land lebenden Arbeitsmigranten, vor allem bei Menschen aus Zentralasien. Dabei könnte eine massive Kampagne zwar zur (Zwangs-) Rekrutierung Zehntausender Kämpfer füh­ren, doch würde so das Arbeitskräfteproblem für Russlands Wirtschaft verschärft und das Verhältnis zu den Herkunftsländern stark belastet.

Besser sind die Aussichten auf eine Anwerbung bei ideologisch motivierten russischen Bürgern. Dazu gehört die ganze Bandbreite nationalistischer Kräfte. Der Kreml zeigt ihnen gegenüber jedoch eine ambivalente Haltung. Einerseits fördert er sie im Rahmen der patriotisch-militaristi­schen Durchdringung der Gesellschaft; andererseits hat er Sorge vor der mangelnden Kontrollierbarkeit und eigenständigen Mobilisierungskraft eines Teils entsprechend ausgerichteter Gruppierungen.

Kreml und Verteidigungsministerium stellen daher die als loyal geltenden natio­nalistischen Kräfte in den Vordergrund ihrer Rekrutierungsbemühungen. Das trifft insbesondere auf die registrierten Kosaken zu, aus deren Reihen die im April 2024 beschlossene »Mobilisierungsreserve« von 60.000 Kosaken geschaffen werden soll.

Problematischer für Russlands Führung sind nationalistische Kräfte, die nicht nur ein härteres Vorgehen gegenüber Ukraine und Westen fordern, sondern damit auch Kritik am Kreml und eine alternative Vision für Russlands Zukunft verbinden. Dazu gehören ehemalige Donbas-Kämpfer und reichweitenstarke »Z-Blogger« wie Igor Girkin (»Strelkow«), der eine Rückkehr zum orthodoxen Zarentum anstrebt. Er hatte 2014 den Überfall auf den Donbas mit angeführt, kritisierte nach 2022 aber das militärische Vorgehen als zu zögerlich und wollte bei der jüngsten Präsidentenwahl antreten. Dass Girkin im Januar 2024 wegen »Extremismus« zu vier Jahren Lager­haft verurteilt wurde, lässt erkennen, dass der Kreml durchaus mit Sorge auf dieses Milieu blickt.

Anders als in der Ukraine ist die weib­liche Bevölkerung in Russland von den Anwerbekampagnen für den Fronteinsatz, von Einzelfällen abgesehen, bislang völlig ausgenommen. Daran dürfte sich angesichts des traditionellen Frauen- und Fami­lienbildes im Land auch nichts ändern.

Neue Mobilmachung?

Die »verdeckte Mobilisierung« ist teuer, birgt die Gefahr einer Diffusion der Gewalt­strukturen und kann quantitativ an Gren­zen stoßen. Dennoch hält die Führung bislang daran fest – was zeigt, dass die innenpolitischen Risiken einer Teil- oder Generalmobilmachung für höher erachtet werden. Sollten die Personalverluste aber weiter steigen oder sollte der Kreml be­absichtigen, mit einer weiteren Großoffensive den Effekten westlicher Waffenlieferungen und Sicherheitszusagen zuvorzukommen bzw. im Zuge der US-Wahl eine günstige Ausgangslage für Verhandlungen zu schaffen, ist eine neue Mobilisierungsrunde – trotz gegenteiliger Beteuerungen des neuen Verteidigungsministers – kaum vermeidbar. Die nötigen legislativen und administrativen Schritte für einen solchen Tag X sind bereits parallel zur »verdeckten Mobilisierung« durchgeführt worden.

Dazu gehört, dass der Pool der Einzu­berufenden erweitert und deren Erfassung erleichtert wird. Im Juli 2023 ordnete Putin an, die Altersgrenze für Reservisten um fünf Jahre zu erhöhen. Ab kommendem Jahr wird die Zahl der Reservisten auch dadurch steigen, dass seit Januar 2024 drei Jahrgänge mehr als Wehrpflichtige einge­zogen werden – nunmehr von 18 bis 30 anstatt wie bisher von 18 bis 27 Jahren – und auch Männer in den neu besetzten ukrainischen Gebieten systematisch als Wehrpflichtige dienen. In der Folge erreich­te die Zahl der eingezogenen Rekruten im Frühjahr 2024 mit 150.000 den höchsten Wert seit 2016.

Parallel dazu wird es russischen Männern erschwert, sich der Einberufung als Wehrpflichtiger oder »Mobik« zu entziehen. Seit April 2023 müssen Einberufungsbescheide nicht mehr persönlich übergeben werden; es reicht nun eine digitale Benach­richtigung. Die finanziellen Strafen für nicht fristgerechtes Erscheinen bei der Musterung wurden massiv erhöht; zudem drohen Konsequenzen, die das Alltags­leben stark erschweren – so kann die Fahr­erlaubnis aberkannt oder ein Antrag auf Kredit unmöglich gemacht werden. Nach Erhalt des Einberufungsbescheids ist es nicht mehr erlaubt, das Land zu verlassen.

Eine neue Mobilmachungsrunde wäre aber äußerst unpopulär. Bei einer Umfrage von »Russian Field« im Oktober 2023 lehn­ten 58 Prozent der Befragten einen solchen Schritt ab. Auch wenn der Repressionsgrad des Regimes erheblich ist, könnte das Pro­testpotential in der Bevölkerung höher sein als im September 2022. Denn nun würden diejenigen mit Zwang rekrutiert, die sich bislang bewusst den massiven Anwerbekampagnen entzogen haben, darunter gut ausgebildete Bewohner der großen Städte. Der bisherige Ansatz, den Kreis der »Mobi­ki« isoliert zu halten und damit leichter zu kontrollieren, wäre nicht mehr haltbar. Angesichts der größeren individuellen Be­troffenheit könnte die Bereitschaft zum Protest bei Müttern oder Ehefrauen wach­sen. Dies gilt umso mehr, als auch bei einer neuen Mobilmachungsrunde die Eingezogenen nicht adäquat ausgebildet und aus­gerüstet in den Kampf geschickt würden; schließlich ist das strukturelle Problem mangelnder Trainingsstätten und Ausbilder weiter ungelöst. Bereits nach der ersten Mobilmachungsrunde hatte sich die Bewe­gung »Put domoi« (Weg nach Hause) gebil­det, die zunächst nicht den Krieg an sich, sondern die ausbleibende Rotation von An­gehörigen kritisierte. Als auf die Beschwer­den nicht eingegangen wurde, ent­wickelte sich aus einer Gerechtigkeitsfrage eine grundsätzlichere Kritik an der Führung des Landes.

Sollte der Kreml eine neue Mobilma­chungsrunde ausrufen, würde er im Vor­feld wohl die Begründungsnarrative anpas­sen. Postuliert werden könnte dann eine angeblich massiv gewachsene Bedrohung, etwa wegen Beschuss russischer Militär­einrichtungen durch die Ukraine oder auf­grund westlicher Waffenlieferungen. Paral­lel ließe sich eine solche Mobilmachung als Gebot der Gerechtigkeit framen, um die bis­herigen »Mobiki« zu entlasten. Damit könn­ten zentrale Kritikpunkte von »Put domoi« abgeräumt und die neue Einberufung als normale Rotation im Rahmen des bestehen­den Mobilmachungsdekrets von September 2022 dargestellt werden. Wäh­rend die Mos­kauer Führung das Narrativ einer erhöhten Bedrohung Russlands be­reits seit längerem offensiv kommuniziert, wird die heikle Gerechtigkeitsfrage noch nicht direkt an­gesprochen. Stattdessen setzte Putin Ende Februar 2024 einen ande­ren Akzent, indem er die Frontkämpfer und Kriegsveteranen als »wahre Elite« des Lan­des würdigte.

Vorbereitung auf den langen Krieg

Russland setzt auf einen langen Abnutzungskrieg, in dem es auf wesentlich mehr Personalreserven als der Gegner zurück­greifen kann, während die Ukraine nach fast zweieinhalb Jahren Generalmobil­machung immer stärker an ihre Grenzen stößt. Die Zahl der 18- bis 60-jährigen Män­ner ist in Russland mit 39 Millionen mehr als drei Mal so hoch wie in der Ukraine mit 11 Mil­lionen. Vor diesem Hintergrund ist es für Kyjiw umso essentieller, ausreichend moderne Waffen und Ausrüstung sowie nachhaltige Sicherheitszusagen von west­lichen Staaten zu erhalten.

Parallel dazu bereitet sich Russland auf eine dauerhafte Konfrontation mit dem Westen vor. Das Verteidigungsbudget des Landes verdoppelte sich 2024 im Vergleich zum Vorjahr und liegt nun bei 108 Milliar­den Euro. 28 Prozent der Staatsausgaben gehen damit an das Militär, was 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht. Zu­sammen mit den klassifizierten Ausgaben in anderen Budgettiteln, die für militärische Zwecke verwendet werden, dürfte der Wert bei über 7 Prozent liegen. Mit den ge­wachsenen Militärausgaben soll nicht nur die russische Rüstungsproduktion angekurbelt, sondern auch der angestrebte Perso­nalaufwuchs der Streitkräfte auf 1,5 Millio­nen Soldaten verwirklicht werden. Allein 2024 sollen 16 Divisionen und 14 Brigaden neu entstehen.

Zugleich lassen sich Elemente einer grundlegenden Neuausrichtung der russi­schen Streitkräfte erkennen. Sie entwickeln sich weg von der 2008 gestarteten Reform, die primär darauf ausgerichtet war, be­grenzte Einsätze durchzuführen. Nun wird in Teilen zum Konzept der Massenmobilisierungsarmee zurückgegangen. Perspek­tivisch sind Nato und EU mit einem mili­ta­risierten Russland konfrontiert, dessen Streitkräfte trotz aller Probleme nicht nur an Einsatzerfahrung in einem klassischen zwischenstaatlichen Krieg gewonnen haben, sondern auch die Kapazitäten dafür ausbauen.

Dr. Margarete Klein ist Leiterin der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

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