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Die nächste Phase europäischer Klimapolitik: das 2040-Ziel als Auftakt

SWP-Aktuell 2024/A 17, 12.03.2024, 4 Seiten

doi:10.18449/2024A17

Forschungsgebiete

Als letzte große klimapolitische Initiative vor den Europawahlen hat die scheidende Europäische Kommission ihre Mitteilung für ein 2040-Ziel veröffentlicht. Mit ihrer Empfehlung eines 90%-Netto-Reduktionsziels im Vergleich zu 1990 schlägt sie erste strategische Pflöcke für die nächste Legislaturperiode ein. Dabei unter­streicht sie die zunehmende Bedeutung industriepolitischer Flankierung der Klima­politik, besonders von Carbon-Management-Technologien. Zwar beginnt die Ausgestaltung der klima­politischen Architektur für die Jahre 2031 bis 2040 erst nach den Europawahlen. Doch die Mitteilung zum 2040-Ziel gibt einen Vorgeschmack auf die politischen Heraus­forderungen, denen sich auch die Bundesregierung stellen muss.

Mit ihrer Empfehlung für ein ambitioniertes Minderungsziel für 2040 leitet die schei­dende Kommission den Übergang zur näch­sten Phase europäischer Klimapolitik ein. Ähnlich wie bei den Zielen für 2020 und 2030 beginnt damit die politische Planung und öffentliche Diskussion über das Ambi­tionsniveau und die notwendigen klima­politischen Reformen bis 2040. Das ist ein wich­tiger Zwischenschritt auf dem Weg zur anvisierten Treibhausgasneutralität 2050.

Die Kommission betont, ihre 90%-Emp­fehlung folge dem Gutachten des neu ein­gerichteten Europäischen Wissenschaft­lichen Beirats zum Klimawandel. Auch setze sie mit ihrer Empfehlung den derzeiti­gen Kurs in der Klimapolitik fort, verglichen mit einer theoretischen Fortschreibung der bereits eingesetzten, bis 2030 laufenden politischen Maßnahmen.

Noch sind die Ambitionen der Mit­glied­staaten zu gering, um das 2030-Ziel von 55% zu erfüllen. In ihrer Bewer­tung der nationalen Klima- und Energiepläne kon­statierte die Kommission Ende 2023 großen Handlungsbedarf, unter ande­rem in Land­wirtschaft und Verkehr. Zudem könne das 2030-Ziel nur erreicht werden, wenn die durchschnittliche jährliche Emissionsminderung des letzten Jahrzehnts verdreifacht wird. Diese Ambitionslücke bis 2030 wirft Fragen zur inkrementellen Weiterentwicklung auf. Politisch ist die Rahmung durch die Kommission nach­vollziehbar. Sie deutet die nötige Ambi­­­tions­steigerung nur an­ und antizipiert so die klimapolitische Zurück­haltung in den Hauptstädten ange­sichts vieler anderer Krisen. Doch damit ver­stellt sie den Blick auf die politi­schen Herausforderungen bei der Umsetzung des 90%-Ziels.

Regulatorische Erfolge

Die Europawahlen im Juni 2024 läuten das Ende der Amtszeit der gegenwärtigen Kom­mission ein. Sie wird die Geschäfte voraus­sichtlich zum 1. November an das nach­folgende Kollegium übergeben. Die Kom­mission unter Ursula von der Leyen hat seit 2019 klimapolitisch tiefe Spuren hinter­lassen: Im Rahmen des euro­päischen Green Deal bündelte das Programm »Fit for 55« die Vorschläge der Kom­mission, alle 2018 ver­abschiedeten Rechts­akte zur Erreichung des ursprünglichen 2030-Minderungsziels von 40% zu schärfen und auf das neue 2030-Ziel von 55% im europäischen Klimaschutz­gesetz (Verordnung 2021/1119) auszurichten.

Die Verabschiedung zahlreicher Rechtsakte im ordentlichen Gesetz­gebungsverfah­ren, und das während der Corona-Pandemie, des Ukraine-Krieges und hoher Inflation, gilt als Erfolg der Kommission. Die nach der Euro­pawahl gestartete politische Initiative des europäischen Green Deal hat zu einer rechtsverbindlichen Ambitionssteigerung, zur Weiterentwicklung bestehender und zur Entwicklung neuer Instrumente ge­führt. Dazu gehören etwa die Aus­wei­tung des be­stehenden Emissionshandels auf die Schiff­fahrt, die Schaffung eines zweiten Handelssystems für Gebäude und den Straßenverkehr (ETS-II) sowie ein CO2-Grenzausgleichs­mechanismus für die Sektoren Eisen und Stahl, Aluminium, Zement, Düngemittel, Elektrizität und Wasserstoff.

Diese Erfolge sprechen für die politische Belastbarkeit der Mehrheiten für eine ambi­tionierte Klimapolitik sowie für die Stabili­tät des bisher geschaffenen klima­politi­schen Rahmens. Zudem belegen sie die Funktionalität des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens der EU. Wurde in anderen Politik­feldern wie Gesundheits- oder Energiepolitik weit mehr situativ und krisengetrieben agiert, ist die Klimapolitik stark durch die regelmäßige Fortschreibung beste­hender Rechtsakte und Instrumente geprägt.

Gleichwohl zeigt die eingangs beschrie­be­ne Ambitionslücke, wie dringlich es ist, die bereits beschlossenen Ziele und Instru­mente umzusetzen. In den kommenden Jahren sind Abschwächungsversuche und Blockaden durch einzelne Mitgliedstaaten oder ein anders zusammengesetztes Euro­päisches Parlament möglich. Daher sollten europäische und natio­na­le Entscheidungsträger:innen die Absiche­rung des beschlosse­nen Ambitionsniveaus und Instrumentenmixes vorantreiben.

2040-Ziel: Neuer Zwischenschritt

Die im Klimaschutzgesetz vereinbarte Zeit­schiene für das 2040-Zwischenziel sieht vor, dass die Kommission den Vorschlag sechs Monate nach der ersten weltweiten Bestands­aufnahme (Global Stocktake) im Rahmen des Abkommens von Paris vorlegt, die bei der COP28 im Dezember 2023 abgeschlossen wurde. Da diese Vorgabe mit den Europawahlen im Juni kollidiert, hat die Kom­mis­sion beschlossen, zuerst die Mit­teilung zu veröffentlichen und den Legislativvorschlag der nächsten Kommis­sion zu überlassen.

Frühestens im ersten Quartal 2025 dürfte die neu zu­sammengesetzte Kommission sich auf einen Vorschlag verständigt und diesen ver­öffent­licht haben. Sie ist dabei weder an Ambitionsniveau noch Zieldesign aus der Mit­teilung gebunden.

Führungsanspruch des Europäischen Rates

Wie bei der Festlegung der Ziele für 2020 und 2030 dürften die Staats- und Regierungs­chef:innen auch diesmal ihren Führungs­anspruch deklarieren und ver­suchen, beson­ders den Ein­fluss des Euro­päischen Parla­ments bei der Entscheidungsfindung zu begrenzen. Ähn­lich wie bei der Festlegung des 55%-Ziels für 2030 könnten die Mit­gliedstaaten die vorzeitige Meldung eines neuen EU-Klimaschutzbeitrags (Natio­nally Determined Contribution, NDC) unter dem Pariser Abkommen nutzen, um für das EU-Legislativverfahren Pflöcke einzuschlagen. Denkbar wäre ein NDC-Ziel für 2035, dessen Niveau einen Minderungswert von 90% bis 2040 unwahrscheinlich machen würde. Erste Absprachen und Weichenstellungen könnten bereits Teil der Sitzung der Staats- und Regierungschef:in­nen im Europäischen Rat Ende Juni sein, bei dem die Besetzung der Spitzenpositionen verhandelt wird.

Mit ihrer Empfehlung ver­sucht die schei­dende Kommission, für die Diskussionen zwischen den Mitgliedstaaten sowie für die anschließend im Europäischen Par­lament mit neuer Sitzverteilung anstehenden Debatten thematische Prioritäten und ein Ambitionsniveau diskursiv zu verankern. Die Empfehlung zum 2040-Ziel ist also nicht nur eine Staffelübergabe an die neue Kom­mission, sondern auch ein Versuch, die voraussichtlich umkämpfte Entscheidung auf heute noch unbekanntem politischem Terrain vorzuspuren.

Die Zielempfehlung im Detail

Die Kommission empfiehlt, die Treibhausgasemissionen bis 2040 netto um 90% im Vergleich zu 1990 zu reduzieren. Mit dem Vorschlag eines Nettoziels setzt die Kom­mission den Paradigmenwandel fort, der mit dem »Fit for 55«-Paket vollzogen wurde, nämlich Emissionsminderungen und CO2-Entnahmen bei der Zielerreichung mitein­ander zu verrechnen. Ähnlich wie beim 2030-Ziel und als Reaktion auf Forderungen vieler Akteure aus Um­weltverbänden, Par­teien und Unternehmen schlägt sie vor, das Nettoziel in zwei Obergrenzen zu unter­teilen: Um eine Netto-Reduktion von 90% zu schaffen, sollen 2040 noch maximal 850 Millio­nen Tonnen (Mt) CO2-Äquivalente emittiert wer­den (ohne Emissionen aus Landnutzung und Forstwirtschaft) und maxi­­mal 400 Mt an CO2-Entnahme aus der Atmo­­sphäre zur Zielerreichung beitragen. Anteilig entspräche das einem Mindestreduktionsziel von rund 83% und einem CO2-Ent­nah­me­­ziel von etwa 8% im Vergleich zu den Brutto­emissio­nen von 1990.

Ein wichtiger Unterschied zum 2030-Ziel ist, dass die vorgeschlagene Zielarchitektur neben der CO2-Entnahme im Landsektor auch die sogenannte industrielle CO2-Ent­nahme berücksichtigt. Das betrifft Techno­logien, bei denen CO2 zum Beispiel durch Abscheidung aus der Atmosphäre entnommen und dauerhaft gespeichert wird. Die Tech­niken Bioenergie plus CCS (BECCS) und Ab­scheidung aus der Um­gebungsluft (Direct Air Capture plus CCS, DACCS) werden in den Szenarien der Fol­genabschätzung schon bis 2040 im großen Maßstab ein­gesetzt. In eini­gen Szenarien werden etwa im Strom­­sektor schon 2040, spätestens aber 2050 netto nega­tive Emis­sio­nen erreicht, um Restemissionen aus anderen Sektoren aus­zugleichen.

Neues Konfliktpotential

Die detaillierte Folgenabschätzung zeigt, dass es erheblicher Anstrengungen bedarf, um das 90%-Ziel zu erfüllen. Dazu zählen etwa ein dekarbonisiertes Ener­giesystem, ein Fokus auf Defossilisierung der Industrie und wesentliche Emissionsminderungen in der Landwirtschaft. Damit trifft die Ambi­tionssteigerung jene Sekto­ren, über die in den letzten Monaten in Parla­menten sowie bei Demonstrationen und Protestaktionen intensiv diskutiert wurden. Jüngst musste die amtierende Kommission mehre­re ihrer Vorhaben in der Agrarpolitik ab­schwächen, nicht zuletzt wegen fehlender Mehrheiten inner­halb der Europäischen Volkspartei. Um die Gesamt-Minderungs­ziele einzuhalten, wird die nächste Kom­mission neue Maßnahmen zur Verzahnung von Klima- und Agrarpolitik vorantreiben müssen.

Ähnliches gilt für die Industrie: Nicht klimapolitische Ziele, sondern Wettbewerbs­­fähigkeit und Resilienz einer krisengeschüttelten Industrie dominie­ren die politische Auseinandersetzung. Den politischen Gegen­wind antizipiert die Kom­mission mit ihrem Vorschlag eines »Deals« für die Dekarbonisierung der Industrie als Teil ihrer Empfehlung. Nachdem der Net Zero Industry Act und die Förderplattform STEP (Strategic Technologies for Europe) hinter den von der Kommission geschürten Erwar­tungen zurückgeblieben sind, dürfte die industriepolitische Flankie­rung der Klima­politik ein zentrales Hand­lungsfeld der nächsten Kommission bilden.

Carbon Management

Die Vorbereitungen für einen neuen Fokus auf Industriepolitik zeigen sich auch in einer parallel zur 2040-Zielempfehlung veröffentlichten Mitteilung zum Thema Carbon Management. Die prominente Rolle von Technologien zur Abscheidung und anschließenden Nutzung und Speicherung von CO2 bildet eine Schnittstelle zwischen Klima- und Indus­triepolitik, an die die Unternehmen und Wirtschaftsverbände ausgeprägte Erwartungen formulieren. In allen drei Varianten dieser Technologien – Carbon Capture and Storage (CCS), Carbon Capture and Utiliza­tion (CCU) und CCS-basierter CO2-Entnahme (CDR) und ihren Funk­tionen in der Klimapolitik (siehe SWP-Aktuell 30/2023) – sieht die Kommission entscheidende Bausteine dafür, das Zwi­schen­­­ziel bis 2040 zu erreichen.

In der Folgenabschätzung für die einzelnen Technologien fallen die Zahlen teil­weise sehr hoch aus. Sie implizieren eine rasche Skalierung aller drei Ansätze (280 Mt CO2 bis 2040, 450 Mt bis 2050). Um diese Dimensionen zu erreichen, wären enorme Mittel und große Unterstützung für die Ent­wicklung nötig. Zudem würde es einen euro­päischen Binnenmarkt für Transport und Speicherkapazitäten von CO2 erfordern.

Neben den Synergien, die ein solcher Binnenmarkt für diese Technologien mit sich brächte, ergäben sich aber auch neue politische Konflikte: Carbon Management wird in den Mitgliedstaaten teils stark kon­trovers dis­kutiert. In Deutschland etwa ist CCS ein äußerst heikles Thema. Irritationen dürfte vor allem die Aussage in der Folgen­abschätzung erzeugen, dass die absolute Menge an abgeschiedenem CO2 aus der Ver­brennung fossiler Brennstoffe im Strom­sektor bis 2050 ansteigen wird. Hinzu kämen absehbare Kon­flikte innerhalb und zwischen Mitgliedstaaten über die zu errich­tenden CO2-Transportinfrastrukturen.

Nächste Schritte und Auswirkungen auf Deutschland

Die Mitteilung der amtierenden Kommis­sion ist vor allem als strategische Inter­vention zu verstehen, mit der sie den Ton setzen und Erwartungen managen will.

Offen ist, ob die neue Kommission in ihrem Legislativ­vorschlag der 90%-Empfeh­lung folgen wird und ob die Mehr­heiten für eine ambitionierte Klimapolitik im Euro­päischen Parlament auch nach den Wahlen Bestand haben werden. Unabhängig vom Ambitionsniveau wird es ein übergeordnetes Ziel der Mitgliedstaaten sein, mit Hilfe des Europäischen Rats die fak­ti­sche Ent­scheidungshoheit zu beanspruchen. Anders als im Rat der Europäischen Union ent­schei­den die Staats- und Regierungschef:innen im Konsens – was auch in der Klima­politik üblicherweise eine hohe Hürde darstellt.

Für die Bundesregierung kommt die Debatte über ein neues Klimaziel politisch zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Angesichts der ohnehin kontroversen Diskussion über die Novellierung des deutschen Klima­schutzgesetzes wird das 2040-Ziel zusätz­lichen Konfliktstoff bergen. Hinzu kommt, dass die Verhandlungen zum Legislativ­vorschlag in das Bundestagswahljahr 2025 fallen. Eine Möglichkeit, den zu erwartenden Dis­sens aus dem Wahlkampf herauszuhalten, wäre der Versuch, nach einer frist­gerechten Entscheidung über die Meldung des NDC für 2035 auf eine Verzögerung des Gesetzgebungsprozesses hinzuwirken.

Die in den letzten Monaten offener zu Tage getretene Vielstimmigkeit der Koali­tion in den EU-Gesetzgebungs­verfahren und das Aufschnüren bereits erzielter Kom­promisse in letzter Minute (zum Beispiel beim Lieferkettengesetz oder den CO2-Flot­tengrenzwerten für LKW und Reisebusse) haben dem Ansehen der Bundesregierung in Brüssel geschadet. Weil Deutschland der Mitgliedstaat mit den in absoluten Zahlen höchsten Emissionen ist, wird der deutschen Position zum 2040-Ziel dennoch eine wichtige Orientierungsfunktion für andere Mitgliedstaaten zu­kommen.

Dr. Felix Schenuit ist Wissenschaftler im Projekt CDRSynTra und in der Forschungsgruppe EU / Europa.
Dr. Oliver Geden ist Leiter des SWP-Anteils des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Verbundprojekts, Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa und Leiter des Forschungsclusters Klimapolitik.

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