Mit steigenden Anforderungen an die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik in einem von multiplen Krisen gekennzeichneten Europa wachsen auch die Ansprüche an die deutschen Streitkräfte. Damit die Bundeswehr trotz limitierender Faktoren wie Personal- und Materialmangel an Durchsetzungsfähigkeit und Abschreckungswirkung gewinnt, muss sie schneller und breitflächiger neue Technologien nutzen. Je zügiger und effektiver diese Technologien nutzbar gemacht werden, desto mehr Vorteile bringen sie auf dem Gefechtsfeld. Der derzeitige politische Wille zur Veränderung, der Anpassungsdruck aufgrund der veränderten Sicherheitslage und die finanziellen Ressourcen sorgen für ein bisher einzigartiges Momentum.
In seiner Rede vom 16. September 2022 hat Bundeskanzler Olaf Scholz bei der Bundeswehrtagung gefordert, dass die Bundeswehr »zur am besten ausgestatteten Streitkraft in Europa« wird. Damit reagierte er unmittelbar auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Für die Bundeswehr bedeutet dies, schnell ihre Leistungsfähigkeit zu steigern. Aktuell reichen die Fähigkeiten für eine umfassende Landes- und Bündnisverteidigung quantitativ, teils auch qualitativ nicht aus. Das liegt vor allem daran, dass sie bei langjähriger Unterfinanzierung nicht ausreichend für die Wahrnehmung ihres Hauptauftrags weiterentwickelt wurden. Gleichzeitig fehlt es der Bundeswehr an der Fähigkeit, sich an Bedingungen anzupassen, die sich schnell verändern. Viele Notwendigkeiten für eine Steigerung der Leistungsfähigkeit sind bekannt, bislang hapert es an einer zielgerichteten Umsetzung. Fernab der Herausforderungen, die mit dem Personal- und Materialmangel verbunden sind, zeigt sich dies in besonderem Maße an der ausbleibenden oder nicht ausreichenden Einführung und Nutzung neuer Technologien wie künstlicher Intelligenz (KI) oder unbemannter Systeme unterschiedlicher Größe und an der unzureichenden Nutzung neuartiger Munition wie Loitering-Munition. Alle drei verbindet, dass sie die Dynamiken bewaffneter Auseinandersetzungen grundlegend verändern. Sie erhöhen nicht nur die Geschwindigkeit, sie machen das Gefechtsfeld auch transparenter und steigern die letale Wirkung. Ohne ihre zügige und breit angelegte Einbindung werden deutsche Streitkräfte nicht bestehen können. Werden nötige Schritte jetzt nicht vollzogen, vergrößern sich die Herausforderungen in der Zukunft, weil wichtige Entwicklungen und Anpassungen kaum aufzuholen sind.
Verdrängungseffekte
In der öffentlichen Aufmerksamkeit und in den Prozessen, in denen über die Rüstung der Bundeswehr entschieden wird, liegt der Fokus auf großen und teuren Waffensystemen wie Kampfflugzeugen, Fregatten und Panzern. Verdrängt werden dabei kleinere Rüstungsprojekte, die in der Folge nicht über ausreichend Finanzmittel und Personal verfügen. Aber genau diese schaffen die Grundlagen für das Zusammenwirken von Aufklärungs-, Führungs- sowie Wirkmitteln und erzeugen dabei ein einheitliches Lagebild. Panzer etwa und Schiffe sind auf dem Gefechtsfeld noch wichtig. Dennoch betreffen die aktuellen Neubeschaffungen dieser sogenannten monolithischen Systeme nur einen Teil der notwenigen Veränderungen in den deutschen Streitkräften. Entscheidend für den Ausgang eines Krieges ist nicht ein einzelnes Waffensystem, sondern der koordinierte und effektive Einsatz aller Mittel in einem Verbund. Dafür bedarf es einer Ausbalancierung der Ausgaben für monolithische Systeme und für die Schnittstellen, Beschleuniger von Entscheidungen und der Koordinierungselemente im Betrieb und im Kampfeinsatz von Streitkräften.
Eine weitere Herausforderung ist die Struktur des militärischen Beschaffungswesens. Dieses ist nach wie vor dafür ausgelegt, mit wenig Finanzmitteln sehr gründlich und langsam zu planen bzw. zu beschaffen. Sollen neue Technologien schnell eingeführt und breitflächig nutzbar gemacht werden, stößt das Beschaffungswesen daher schnell an seine Grenzen. Ausnahmen und Sonderverfahren gibt es hier nur wenige.
Fehlende Digitalisierung
Die Friedensdividende inklusive fehlender Priorisierung der Landes- und Bündnisverteidigung haben dazu geführt, dass die Bundeswehr nicht in ausreichendem Maß modernisiert wurde. Damit einher gehen fehlende Digitalisierungsschritte im Gesamtsystem der Streitkräfte. Dies zeigt sich unter anderem an veralteten Waffen- und Kommunikationssystemen, die auf dem Gefechtsfeld der Gegenwart nicht effizient miteinander kommunizieren und wirken können. Die Bundeswehr ist weit von der Fähigkeit entfernt, Echtzeitinformationen auszutauschen und bei Unterstützungsaufgaben Informationen schnell und stringent zu verarbeiten. Damit aber überhaupt modernste technologische Mittel wie digitale Führungssysteme, unbemannte Systeme und KI eingesetzt werden können, müssen immer noch Grundvoraussetzungen geschaffen werden. Eine davon ist es, ausreichend und qualitativ hochwertige Daten für die Datenverarbeitungssysteme wie KI zu sammeln. Digitalisierung bedeutet mehr als die Erneuerung von Funkgeräten in einem Teil der Waffensysteme. Sie soll dafür sorgen, dass Wissen und Daten schnell erfasst, analysiert, für viele Nutzer zugänglich abgelegt und nutzbar gemacht werden. Gleichzeitig trägt sie zur Beschleunigung von Prozessen bei und ermöglicht mehr Transparenz von Vorgängen. Deutschland liegt bei den Ausgaben für Digitalisierung deutlich hinter seinen Nato-Verbündeten, zum Beispiel Frankreich oder Großbritannien.
Technische Möglichkeiten
Das Feld technischer Möglichkeiten durch militärisch nutzbare Neuerungen ist nahezu unüberschaubar groß geworden. Das Gros der Neuerungen kommt mittlerweile aus der zivilen Wirtschaft.
Durch Nutzung von Neuentwicklungen können manche Waffensysteme oder Systemverbünde jetzt oder bereits in naher Zukunft vollständig ersetzt werden. Ein Beispiel hierfür sind Drohnen unterschiedlicher Größe, die bemannte Aufklärungsmittel wie Hubschrauber oder Flugzeuge zu ersetzen vermögen. Drohnen lassen sich günstiger beschaffen und betreiben als bemannte Systeme. Gleichzeitig können sie bei der Aufgabenerfüllung einem höheren Risiko ausgesetzt werden. Selbst wenn noch nicht in allen Bereichen ein vollwertiger Ersatz verfügbar ist, muss aufgrund weiterer Faktoren wie Kosten-, Material- und Personalersparnis ein Wechsel angestrebt werden. Die geschickte Einbindung neuer Technologien kann außerdem als Kräftemultiplikator für bestehende Systemverbünde fungieren. So erlaubt etwa die Nutzung von Drohnen als Aufklärungsmittel für die Artillerie, sofern sie effektiv eingebunden werden, eine höhere Präzision und schnellere Bekämpfung von Zielen. Von allen Neuerungen ist vor allem der Technologie der KI in der aktuellen Entwicklung von Streitkräften größere Aufmerksamkeit zu widmen. Ihre Nutzung hat das Potential, Veränderungen für das Militär herbeizuführen wie einst das Schießpulver, der Verbrennungsmotor oder das Internet. KI-Systeme unterscheiden sich in ihrer Arbeitsweise und nach den Aufgaben, die sie lösen können. Konkret sind maschinelles Lernen und Sehen, Robotik und Aufbau neuronaler Netzwerke für Streitkräfte von besonderer Bedeutung. Immerhin befindet sich Deutschland bei den Grundlagen der KI-Fähigkeiten unter den Top 10 weltweit. Darauf aufbauend müssen militärische Fähigkeiten verbessert und neue entwickelt werden. Großbritannien, das hier vor Deutschland rangiert, hat vor kurzem ein eigenes Institut gegründet. An ihm sollen neue Formen der KI erforscht und Auswirkungen auf die eigene Sicherheit analysiert werden. Das »AI Safety Summit 2023« im britischen Bletchley Park hat im November den Auftakt gemacht.
Handlungsnotwendigkeiten
Soll die Leistungsfähigkeit der deutschen Streitkräfte gesteigert werden, müssen die Digitalisierung und die Nutzung neuer Technologien mehr Beachtung finden. Nur eine breit angelegte Einführung und Nutzung neuer Technologien eröffnet die Möglichkeit, in Zukunft auf dem Gefechtsfeld überlegen zu sein. Diese Technologien ermöglichen nicht nur erhebliche Effizienz- und Leistungssteigerungen, sie stellen auch sicher, dass künftige Potentiale ihrer Nutzung überhaupt erkannt und realisiert werden können. Konkret bedeutet dies, dass bei sämtlichen Rüstungsvorhaben entsprechende Schnittstellen eingeplant werden müssen: Hardwarekomponenten einerseits und die Komptabilität der Software andererseits. Aufgrund der immer schneller werdenden Zyklen der Neuerfindungen sollte das Militär bei der Einführung neuer Technologien ihre Herangehensweise ändern. Dies betrifft sowohl die generelle Beschaffung der Systeme als auch die Aktualisierung von Doktrinen und Verfahren der Streitkräfte. Um bestehende Systemverbünde und technologische Neuanschaffungen zu synchronisieren, gilt es in sehr kurzen, regelmäßigen Abständen präzise zu definieren, welche Zielzustände erreicht werden sollen. Sonderbeschaffungswege können kurzfristig bis zu einer grundlegenden Veränderung des Beschaffungswesens genutzt werden.
KI – Inzwischen gibt es umfassende Möglichkeiten, unterschiedliche Arten von KI im militärischen Kontext anzuwenden. Die Bundeswehr sollte einen zweigleisigen Ansatz verfolgen: Zum einen muss KI in spezifischen, bereits in anderen Armeen genutzten Bereichen eingesetzt werden, um die Fähigkeit zu erreichen, sich gegenüber einem potentiellen Feind durchzusetzen. Das ist zum Beispiel bei unbemannten Systeme erforderlich, bei denen elektromagnetische Störmaßnahmen den Austausch von Daten und Befehlen einschränken können. Diese Systeme müssen in der Lage sein, durch KI autark zu reagieren und den zuvor eingestellten Befehl zu befolgen. Zum anderen muss an unterschiedlichen Stellen der Bundeswehr damit begonnen werden, mit KI umzugehen, um das Potential der Systeme einschätzen und nutzen zu können. Konkret ist das Zusammenspiel bei der Mensch-Maschine-Interaktion zu erlernen. Ein gutes Beispiel ist die Unterstützung bei der Findung von Entscheidungen für das Gefechtsfeld. Die KI kann mit allen verfügbaren Informationen – wie Aufklärungsdaten von Satelliten, Drohnen, Meldungen von Menschen, Daten weiterer Sensoren – gespeist werden und Handlungsmöglichkeiten erarbeiten. Der Mensch selbst trifft dann die Entscheidung.
Essentiell ist außerdem eine Strategie dafür, wie militärisch mit KI umgegangen, wie priorisiert und wie der größtmögliche Nutzen erreicht werden soll. Für die Einführung und Nutzung von KI sind Investitionen in Höhe von rund zehn Prozent des Verteidigungsetats erforderlich, um die bisherigen Verdrängungseffekte zu vermeiden.
Unbemannte Systeme – Auf dem Gefechtsfeld werden unbemannte Systeme immer häufiger eingesetzt, und dies für unterschiedlichste Aufgaben wie Aufklärung, Wirkung oder Störung. Dabei bieten große Drohnen, die mit mittelgroßen Flugzeugen mithalten können, den Vorteil, dass sie in der Lage sind, dank ihrer Aufklärungsfähigkeiten weitläufige Gebiete zu überwachen. Außerdem haben sie sich mittlerweile als Waffenträger mit weitreichender Wirkung etabliert. Manche der etwas kleineren Drohnen werden selbst als Waffe eingesetzt und mit einer Sprengladung bestückt, die sie dann in das Ziel fliegen oder im Zielgebiet abwerfen. Sie bieten neben der Kostenersparnis den großen Vorteil, dass sie keine Rücksicht auf die menschlichen Bedürfnisse in einem Cockpit nehmen müssen und dadurch größeren Gefahren ausgesetzt werden können. Neuerdings lässt sich ein Teil der Drohnen aus der »first person view« fliegen, was sie nicht nur schneller, sondern auch zielsicherer macht. Frankreich hat im Juli 2023 eine Drohnenflugschule eröffnet, um in diesem Bereich schnelle und sichtbare Fortschritte zu ermöglichen. Eine Kooperation und eine Intensivierung des Austauschs mit Partnern über den Einsatz unbemannter Systeme können deren Erfolgschancen vergrößern.
Loitering-Munition – Die Bundeswehr muss auf dem Gefechtsfeld effektiver und durchschlagskräftiger werden. Ein mögliches Mittel ist die Nutzung von Loitering-Munition, die mehrere Vorteile hat. Einerseits kann sie gestartet werden, ohne dass dafür schweres Großgerät wie Haubitzen genutzt werden muss, und dabei Ziele effektiv unter menschlicher Kontrolle bekämpfen. Anderseits kann sie auf dem Gefechtsfeld präziser als zum Beispiel ein Artilleriegeschoss zur Wirkung kommen, da sich ihre Zielbekämpfung bis kurz vor dem Einschlag stoppen lässt. Gleichzeitig lassen sich mit ihr Ziele genauer treffen, weil die Zeit zwischen dem Feuerbefehl und dem Einschlag im Ziel kürzer ist als zum Beispiel bei der Artillerie. In fast allen verbündeten Armeen wird diese neuartige Form von Munition bereits genutzt oder befindet sich im Prozess der Beschaffung. In der Bundeswehr gibt es noch keine konkreten Entscheidungen über eine Nutzung.
Fazit
Die deutschen Streitkräfte stehen vor der herausfordernden Aufgabe, mit begrenzten Ressourcen schnell an Leistungsfähigkeit zu gewinnen. Die Ausnutzung neuer technischer Mittel schafft neue Handlungsnotwendigkeiten und ‑möglichkeiten, die ein enormes Potential bieten. Bisweilen fehlt es jedoch an einer kohärenten Nutzungsstrategie und an Tempo bei der breit angelegten Einführung.
Durch eine konstruktive Zusammenschaltung des bisher genutzten Materials, neuer unbemannter Systeme und von Loitering-Munition ließe sich unter Einbindung von KI eine deutliche Überlegenheit herstellen. Trotz diverser Gefahrenquellen, die mit der Einführung von KI, unbemannten Systemen und Loitering-Munition verbunden sind, dürfen diese technologischen Schritte nicht zu langsam vollzogen oder gar gänzlich unterlassen werden. Die Festlegung eines Anteils von zehn Prozent des Verteidigungsetats eigens für Digitalisierung, KI und neue technologische Entwicklungen eröffnet die Möglichkeit, die bisherigen Verdrängungseffekte zu vermeiden, die große Rüstungsprojekte zu Lasten kleinerer haben. Grundsätzlicher muss mit Blick auf die Zukunft der neuen Technologien die Maxime gelten: »Was die Maschine erledigen kann, muss sie erledigen, den Rest macht der Mensch«.
Oberstleutnant i. G. Torben Arnold ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2024
Alle Rechte vorbehalten
Das Aktuell gibt die Auffassung des Autors wieder.
SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfahren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org
ISSN (Print) 1611-6364
ISSN (Online) 2747-5018
DOI: 10.18449/2024A14