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Der chinesisch-philippinische Konflikt um das Second-Thomas-Atoll

Ein Test für Washingtons Glaubwürdigkeit als Allianzpartner in der Region

SWP-Aktuell 2024/A 11, 05.03.2024, 8 Seiten

doi:10.18449/2024A11

Forschungsgebiete

China setzt seine Versuche fort, die Gewässer des Südchinesischen Meeres innerhalb der sogenannten Nine-Dash Line zu territorialisieren und damit der eigenen Kon­trolle zu unterwerfen. So entwickelt sich die Lage mit zunehmender Dynamik. Das im Second Thomas Shoal der Spratly-Inselgruppe von den Philippinen auf Grund gesetzte Schiff BRP Sierra Madre wird bald von Rost zersetzt verfallen. Die Frage drängt sich auf, wie Manila das atollförmige Riff ohne die Anwesenheit der bislang dort ausharrenden Soldaten gegen eine mögliche chinesische Besetzung schützen und so seinen rechtmäßigen Anspruch durchsetzen kann. Um gegen den übermächtigen Gegen­spieler zu bestehen, ist der Beistand der USA unabdingbar. Diese Situation setzt die Ent­scheidungsträger in Washington unter Zugzwang. Eine nur symbolische Unterstützung würde die Glaubwürdigkeit der USA als Allianzpartner in der ganzen Region untergraben und das Risiko einer weiteren chinesischen Expansion in den Gewässern Ostasiens erhöhen.

Alle paar Wochen wiederholt sich das Ritual. Wenn philippinische Behörden die weniger als ein Dutzend Soldaten versorgen wollen, die auf der BRP Sierra Madre aus­harren – einem 1999 am Second Thomas Shoal ab­sichtsvoll auf Grund gesetzten Landungsschiff –, sind Chinas Küsten­wache und Fischereimilizen zur Stelle. Die­sen gelingt es immer wieder, die Schichtwechsel der Soldaten und den Nachschub mit Wasser, Treibstoff und Lebensmitteln zu unterbinden. Von den Philippinen werden des­halb regelmäßig Pakete aus der Luft abgeworfen.

Das Second Thomas Shoal ist ein bei Ebbe teilweise über Wasser stehendes atoll­förmiges Riff (daher teils auch als Atoll be­zeichnet) und wird im Seerecht als trocken­fallende Erhebung klassifiziert. Es liegt 194 Kilometer westlich der philippini­schen Insel Palawan und ist Teil der Spratly-Insel­gruppe. Durch die Klärung im Schieds­gerichtsprozess »Philippinen gegen VR China« von 2016 steht fest, dass das Second Thomas Shoal – in den Philippinen als Ayungin Shoal und in China als Ren’ai Jiao bekannt – Teil der philippinischen Ausschließlichen Wirtschaftszone ist. Trotz­dem besteht Beijing darauf, auch dieses Riff und die umliegenden Gewässer mit­samt Fischgründen zu kontrollieren.

Auf der Basis einer historischen Karte, auf der eine das gesamte Südchinesische Meer umfassende gestrichelte Linie, die sogenannte Nine-Dash Line, eingezeichnet wurde, beansprucht China das Gewässer mit der anderthalbfachen Größe des Mittel­meeres für sich. Die Linie auf dem ur­sprüng­lich 1947 von Behörden der Repub­lik China (Taiwan) publizierten Dokument fand über Umwege im Jahr 2009 zum ersten Mal offizielle Verwendung. Dies geschah mit einer Karte im Anhang zur chinesischen Replik auf eine gemeinsame Eingabe Viet­nams und Malaysias an die Vereinten Natio­nen (VN), bei der es um die Zuteilung eines Erweiterten Festlandsockels ging. Damit begann eine neue Phase der Konfrontationen um die Kontrolle der geographischen Formationen und Gewässer. Es gibt seither verstärkte Bemühungen der Anrainer­staa­ten, vor allem Chinas, zur Territoria­li­sie­rung des Südchinesischen Meeres; zu­sätz­lich befeuert werden die Auseinandersetzungen durch die geopolitische Rivalität zwischen China einerseits und den USA und ihren Alliierten andererseits.

Die Eskalation des Konflikts um das Second Thomas Shoal offenbart nun, dass weder das Zeigen von Flagge mittels diplo­matischer Stellungnahmen und sogenannter Freedom-of-Navigation-Operationen noch verstärkte militärische Abschreckung durch die USA zusammen mit ihren regio­nalen Verbündeten die Negativspirale bremsen können. Im Gegenteil: Je größer der politische, wirtschaftliche und militä­rische Druck auf China wird, desto ent­schlossener verfolgt Beijing die Strategie, im Südchinesischen Meer mittels Gewaltanwendung unterhalb der Kriegsschwelle neue Tatsachen zu schaffen.

Besonders europäische Akteure sollten sich deshalb bewusst sein, dass ihre geo­graphische Distanz zum Ort des Geschehens und ihr Mangel an direkter Betroffenheit die Wirksamkeit von politischen Signalen und von Abschreckung, vor allem von Aktionen unterhalb der Kriegsschwelle, stark beschränken. Weil die bisher vorwie­gend symbolische Unterstützung für die Philippinen und andere mit Beijing im Kon­flikt stehende Akteure aus den USA und Europa die Einsätze im Machtpoker erhöht, steigen zudem nicht nur die Risiken, dass Beijing austestet, ob die USA bluffen. Auch die Wahrscheinlichkeit, dass genau die Folgen eintreten, die eigentlich hätten ver­hin­dert werden sollen, nimmt zu: die Her­ausbildung eines chinesischen Verteidigungsperimeters und die Gefahr, dass sich Spannungen in bewaffneten Auseinandersetzun­gen um die Inseln im Süd- und Ost­chinesi­schen Meer und um Taiwan ent­laden. Grö­ßeren Erfolg als militärische Machtdemon­strationen und symbolische Gesten verspre­chen deshalb Strategien, die auf Schlüsselprobleme fokussierte Instrumente der klassischen Diplomatie mit gezielter und wirkungsvoller materieller Unterstützung verbinden. Zentral sind da­bei der Aufbau und die Bündelung von Fähigkeiten der Küstenwachen Südostasiens.

Das Urteil des Schiedsgerichts

Die Situation im Südchinesischen Meer gestaltetet sich äußerst unübersichtlich. Dies ist nicht nur deshalb der Fall, weil sich die Ansprüche der Anrainerstaaten China, Taiwan, Vietnam, Malaysia, Brunei und Phi­lippinen auf Küstengewässer, Ausschließ­liche Wirtschaftszonen und Festlandsockel überlappen. Auch der Umfang der bean­spruchten Kontrolle über die Gewässer und eine Vielzahl geographischer Formationen blieb lange ungenau und war nicht voll­umfänglich gemäß den Kategorien des VN-Seerechtsübereinkommens definiert.

Durch die gemeinsame Eingabe Vietnams und Malaysias an die VN und Chinas Replik vom Mai 2009 waren die übrigen Anrainer gezwungen, ihrerseits Farbe zu bekennen. Dies geschah im Rahmen von formellen Stellungnahmen (notes verbales), die China, Malaysia, die Philippinen, Viet­nam und das indirekt von der chinesischen Nine-Dash Line tangierte Indonesien zur Darstellung ihrer Sichtweisen an den VN-Generalsekretär richteten. Aus diesen Er­klärungen geht hervor, dass Malaysia, Viet­nam und die Philippinen ihre ursprünglich beträchtlichen Ansprüche indirekt redu­ziert haben, indem sie die Zonen von ihren jeweiligen Küstenlinien aus bemaßen, statt sich auf Spratly-Formationen abzustützen.

Die nächste Phase der Eskalation begann im April 2012 nach einer Konfrontation zwischen China und den Philippinen am Scarborough Shoal. Das Atoll mit teilweise über die Wasserlinie reichenden Felsen liegt 198 Kilometer westlich der philippi­nischen Küste. Die Küstenwache des Landes hatte versucht, chinesische Fischer vom illegalen Abbau von Korallen und Riesenmuscheln abzuhalten, woraufhin Chinas Küsten­wache intervenierte. Nach Vermittlungs­versuchen durch die USA zog sich die philippi­nische Küstenwache zurück, wäh­rend die chinesischen Schiffe vor Ort blie­ben. Seit­her verwehrt China philippinischen Fischern den Zugang zum Atoll. Dieser Zwischenfall brachte Manila dazu, das Schieds­gerichtsverfahren gegen Beijing an­zu­stren­gen.

Auf Basis umfangreicher Untersuchungen kam dieses Schiedsgericht mit Urteil vom Juli 2016 zum Schluss, dass keine der Formationen in der Spratly-Gruppe die legale Definition einer Insel erfüllt und sie deshalb maximal Küstenmeere von zwölf Seemeilen begründen, sofern sie ständig über Wasser sind und damit als Felsen gel­ten. Zudem sind Ansprüche auf der Grund­lage historischer Rechte, wie China sie an­führt, mit dem VN-Seerechtsübereinkom­men unvereinbar.

So begann eine zweite Runde der diplomatischen Auseinandersetzung. Aus ins­gesamt 30 formellen Noten und Briefen so­wie einer Stellungnahme, datiert zwi­schen Dezember 2019 und August 2021, geht her­vor, dass die Anrainerstaaten Südost­asiens die Schlussfolgerungen des Schiedsgerichts grundsätzlich übernommen und ihre Posi­tionen entsprechend angepasst haben. Obwohl damit keine der kollidierenden Ansprüche auf die geographischen Forma­tionen der Spratlys ausgeräumt wur­den, erleichtern diese Klärungen potentiell die Abgrenzung von Erweiterten Festland­sockeln und Ausschließlichen Wirtschaftszonen. Während sich Vietnam und Indo­nesien im Dezember 2022 auf die Abgrenzung ihrer Ausschließlichen Wirtschafts­zonen einigen konnten, bleiben zahlreiche Streitpunkte bestehen. Der schwierigste ist der Disput zwischen den Philippinen und Malaysia um die Grenzziehung zu Lande auf Sabah, der maritime Auswirkungen hat.

Dagegen bestehen China und Taiwan auf ihren nach wie vor ungenau definierten Ansprüchen und der Nine-Dash Line. Gleich­zeitig erhob Beijing 2014 das seerechtlich unhaltbare Argument, die Souveränität über vier Inselgruppen (Nanhai Zhudao oder »Four Sha’s«) innerhalb der Nine-Dash Line zu besitzen. Grundsätzlich bleibt China aber bei seinem Standpunkt, das Schiedsgericht sei nicht berechtigt gewesen, sich mit der Materie zu befassen, weil es sich bei den philippinischen Eingaben alle­samt um Fragen der nationalen Souverä­nität Chinas gehandelt habe. So setzt sich die Territorialisierung des Südchinesischen Meeres fort.

Die Erschließung des »Blauen Territoriums«

Mehr als in anderen Weltregionen gilt in Nordostasien und besonders in China schnelles Wirtschaftswachstum als die Staatsräson schlechthin. Nur so glaubt die Führungsriege der Kommunistischen Partei ihre historische Mission der »Nationalen Wiederbelebung« (National Rejuvenation) erfüllen zu können. Unter entschlossener und alleiniger Führung der KP soll Chinas Weg aus dem Jahrhundert der »nationalen Schande« mit Unterjochung durch west­liche und japanische Kolonialmächte fort­gesetzt werden, bis der »Chinesische Traum« der Wiederherstellung von gesell­schaftlichem Wohlstand und internationaler Größe erfüllt ist. So fand die Notwendigkeit der Entwicklung maritimer Ressour­cen 2006 erstmals Eingang in die (damals elfte) Fünfjahresplanung. Besonders als die einschneidenden Folgen der globalen Finanzkrise von 2008 aufgefangen werden mussten, um regimekritische Kräfte unter Kontrolle zu halten, wurde die wirtschaft­liche Ausbeutung der Meere zu einem All­heilmittel für Chinas wirtschaftliche und soziale Probleme erhoben.

Gleichzeitig werden maritime Gebiete, genau wie Taiwan selbst, auf geographischen Karten als verlorene bzw. durch die Kolonialmächte abgetrennte Teile der chinesischen Nation dargestellt. Sowohl die Präsenz amerikanischer Flugzeugträger während der Spannungen um die Taiwanstraße 1996 als auch die regelmäßige Auf­klärung von U‑Boot-Bewegungen vor chine­sischen Küsten durch die USA verstärkten dieses Narrativ. Die Überzeugung verfes­tigte sich, dass die Kontrolle des Südchinesischen Meeres als Teil von Chinas »Blauem Territorium« (lanse guotu) für die Nationale Wiederbelebung unabdingbar sei. Die Nine‑Dash Line entwickelte sich von einer Obskurität zur De-facto-Definition des chi­nesischen Herrschaftsanspruchs.

Um die generell umstrittenen Ansprüche auf souveränes Territorium und maritime Zonen zu legitimieren, startete die Regie­rung in Beijing nicht nur eine Offensive zur Publikation unzähliger seerechtlicher Ab­handlungen. Sie perfektionierte auch diver­se Instrumente, mit denen eine faktische Kontrolle oder zumindest exklusive Präsenz in den beanspruchten Gewässern angestrebt wird.

Chinas Grauzonen-Strategie

Die Handlungsweise Beijings wird oft mit Begriffen wie »Grauzonen-Strategie« oder »Salami-Taktik« umschrieben. Kern dieser Metaphern ist die Beobachtung, dass China sein Ziel, das Südchinesische Meer zu kon­trollieren, durch ein langfristig angelegtes, graduelles Vorgehen zu erreichen sucht. Weil Zwang, Gewalt und andere Mittel so dosiert angewendet werden, dass (angenommene) rote Linien zur Kriegsschwelle nicht überschritten werden, ist der Vertei­diger mit dem Dilemma konfrontiert, ent­weder den neuen Status quo zu akzeptieren oder durch Gegenmaßnahmen selbst eine Eskalation mit unbekanntem Ausgang her­beizuführen.

So setzt Beijing darauf, sich über die Regulierung von Fischereiaktivitäten Auto­rität zu verschaffen. Die Maßnahmen reichen dabei vom Beistand für chinesische Fischer – welche meist Korallen und Riesenmuscheln abbauen – über den Ver­such, saisonale Fischereiverbote durch­zusetzen, bis hin zur Mobilisierung soge­nannter Fischereimilizen. Diese staatlich organisierten Flotten sind mit größeren, stark motorisierten Booten ausgerüstet und können ausländische Schiffe aufklären und bedrängen. Sie sind besonders geeig­net, um über Monate und in Hundertschaften umstrittene Gewässer quasi zu beset­zen. So geschah dies im März 2021 und von November bis Dezember 2023 am Whitsun Reef.

Eine weitere Handlungslinie Chinas be­steht in der Exploration unterseeischer Öl- und Gasvorkommen und deren Ausbeutung mit Hilfe schwimmender Bohrinseln. Da diese Ressourcen vorwiegend innerhalb der Ausschließlichen Wirtschaftszonen Viet­nams und Malaysias zu finden sind, provo­ziert es regelmäßig Konfrontationen, dass Beijing auf dem Anspruch der Nine-Dash Line besteht. Beispiele hierfür sind die seismischen Sondierungsaktivitäten eines Forschungsschiffes 60 bis 80 Seemeilen vor Vietnams Küste von Juli bis Oktober 2019 und über Malaysias Festlandsockel im April 2020. In der Regel werden solche Forschungsschiffe von chinesischen Fischereimilizen und der Küstenwache des Landes eskortiert.

Im Zuge wiederkehrender Zusammenstöße mit China hat auch Vietnam eine Fischereimiliz aufgebaut. Aber diese ist bedeutend kleiner als ihr chinesischer Gegenspieler, der zudem auf Unterstützung der enorm ausgebauten China Coast Guard zählen kann. Chinas Küstenwache verfügt über rund 150 Schiffe. Seit einer Gesetzesänderung im Februar 2021 kann sie natio­nale Interessen im gesamten beanspruch­ten Gebiet auch mit Schusswaffengebrauch durchsetzen.

Fortschreitende Territoria­lisierung

Zusätzlich stehen den chinesischen Akteu­ren die zwischen 2013 und 2016 stark aus­gebauten und befestigten Außenposten in den Spratlys als Einsatz- und Logistikbasen zur Verfügung. Neben Woody Island in der Paracel-Inselgruppe verfügen nun auch die Riffe Fiery Cross, Subi und Mischief in den Spratlys über Landebahnen für Großraumflugzeuge. Die Basis auf Mischief Reef be­findet sich nur etwa 20 Seemeilen vom um­strittenen Second Thomas Shoal entfernt. Vietnam hat seit 2014 ebenfalls enorme Anstrengungen unternommen, um seine Außenposten auf etwa 20 Felsen, Sandbänken und Riffen in den Spratlys zu verstärken. An der Hälfte der Standorte umfassten die Arbeiten größere Landaufschüttungen.

Um ihre Ansprüche zu legitimieren, propagieren die Anrainerstaaten Narrative, mit denen sie moderne nationalstaatliche Grenzen in vormoderne Zeiten zurück­projizieren. Diese Bemühungen umfassen unter anderem die immer elaboriertere Benennung einer zunehmenden Zahl von maritimen geographischen Formationen in der jeweiligen Landessprache. So gab China im April 2020 und im Januar 2024 neue Namen für Atolle, Riffe und Unterwasserformationen bekannt.

Eine weitere Taktik zur Ausweitung staatlicher Kontrolle ist die Proklamation von Verwaltungsdistrikten, wie es sie an Land gibt. So verkündete Beijing im April 2020, dass zwei neue Distrikte ihre Tätig­keit als Teil der übergeordneten Sansha City aufgenommen hätten. Letztere war 2012 gegründet worden – verteilt auf verschiedene Eilande und Atolle – und umfasst heute bis zu 1 800 Einwohner. Die philippi­nische Regierung hatte in der Spratly-Grup­pe bereits 1978 die Kommune Kalayaan, Palawan, ins Leben gerufen. Zur Stärkung des Anspruchs waren in den Jahren 2002 und 2017 Familien auf die laut Schieds­gerichtsurteil nur als Felsen klassifizierte Insel Thitu (Pag-asa) umgesiedelt worden. Deren Einwohnerzahl beträgt heute um die 190 Personen. Auch Vietnam hatte bereits 1973 eine Kommune in den Spratlys proklamiert. 1982 war diese zum Distrikt Truong Sa erhoben worden. 2007 erfolgte dann die Aufteilung in drei untergeordnete Kommunen. Die Bevölkerung wird auf 90 Personen beziffert.

Diese Angleichung maritimer Räume an die Gegebenheiten zu Lande stärkt in der Bevölkerung das allgemeine Bewusstsein für die Zugehörigkeit der umstrittenen Gewässer zum jeweiligen Staatsgebiet. Dazu tragen auch die Verbreitung von Wetterprognosen für die fernen Eilande und deren touristische Erschließung bei.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass die chinesische Regierung konsequent ihr Ziel verfolgt, den maritimen Raum innerhalb der umfassenden Nine-Dash Line durch dessen Territorialisierung zu kontrollieren. Dabei dienen Variationen von abwechselnd aggressiven und kooperativen Praktiken zur taktischen Stärkung diplomatischer Strategien, die dasselbe Ziel haben. Es stellt sich also die Frage, wie vor allem die Philippinen, Vietnam und Malaysia dieser Grauzonen-Strategie wirksam begegnen können.

Reaktionen in Südostasien

Seit den frühen 1990er Jahren hatte die Association of Southeast Asian Nations (ASEAN) versucht, China in eine multilaterale Vereinbarung einzubinden, um das Risiko von Zusammenstößen zu verringern. Erst 2002 gelang die Verabschiedung der Declaration on the Conduct of Parties in the South China Sea (DOC). Die unverbindliche Erklärung, Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln beilegen zu wollen, keinen Zwang und keine Gewalt anzuwenden, die Freiheit der Schifffahrt zu garantieren, von konflikt­verschärfenden Handlungen abzusehen und so Vertrauen zu schaffen, blieb ambitiös.

Vor allem China, das mit den jeweiligen Anrainerstaaten bevorzugt bilateral verhan­delt, hat über die letzten 20 Jahre wenig zur Einigung auf einen bindenden Code of Con­duct (COC) beigetragen. Vor dem Hinter­grund der faktischen Besetzung des Scar­borough Shoal von 2012, der großflächigen Landaufschüttungen von 2014 bis 2016 und verstärkter Aktivitäten innerhalb der Aus­schließlichen Wirtschaftszonen anderer Anrainerstaaten erscheinen Beijings Argu­mente unglaubwürdig, dass andere Parteien gegen die DOC verstoßen hätten und eine Einmischung von außerhalb der Region dem Dokument widerspreche. Immer wie­der zeigt sich zudem eine überhebliche Haltung chinesischer Entscheidungsträger gegenüber den kleineren Staaten Südost­asiens. Deren Repräsentanten werden belehrt, dass sie die Ansprüche des wohl­wollenden Hegemons China zu respektieren hätten und davon absehen sollten, auf Geheiß der USA »Ärger zu bereiten«.

Als Folge der Unnachgiebigkeit Beijings haben die ASEAN-Staaten zunehmend klare Worte gefunden. So unterstreicht das Chair­man’s Statement vom November 2020 die Universalität und Integrität des VN-See­rechtsübereinkommens. Noch deutlicher ist die Stellungnahme der ASEAN-Außen­minister vom Dezember 2023, mit der sie »angesichts jüngster Entwicklungen« zur Zurückhaltung aufrufen und auf die Stabi­lisierung des maritimen Raumes und der Region drängen. Dabei betonen sie die Einigkeit und Solidarität der ASEAN. Trotz­dem verbleibt noch großes Potential, Kon­flikte zu reduzieren, vor allem durch multilateral organisierte Fischereiaufsicht.

Aufgrund der unterschiedlichen Inter­essen der ASEAN-Staaten sind effektivere Gegenmaßnahmen auf minilateraler oder bilateraler Ebene zu suchen. Vor allem für Vietnam und die Philippinen sind solche Schritte, zusätzlich zu bilateralen Verhandlungen mit Beijing, unabdingbar. Das Tri­lateral Cooperation Agreement von 2016 zwischen Indonesien, Malaysia und den Philippinen könnte als Modell dienen. In diesem Rahmen kooperieren die Verteidigungsministerien der drei Staaten bei der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung in der Sulu- und der Sulawesi-See; es gibt hierfür eine Koordination nationaler Maß­nahmen, einen Informationsaustausch und gemeinsame Patrouillen.

Angesichts des Drucks aus Beijing brachten Bemühungen zur besseren Zusammenarbeit zwischen Vietnam und den Philip­pinen den größten Fortschritt. Auf Grund­lage einer 2015 beschlossenen Strategischen Partnerschaft haben Hanoi und Manila im Januar 2024 eine engere Kooperation im Bereich der maritimen Sicherheit vereinbart. Trotzdem gibt es weiterhin unterschiedliche Herangehensweisen. Während Vietnam an einer ASEAN-zentrierten, de­es­kalierenden Politik festhält, setzen die Philippinen unter ihrem neuen Präsidenten Ferdinand Marcos Jr. verstärkt auf minilaterale Sicherheitszusammenarbeit mit außer­regionalen Akteuren.

Überregionale Unterstützung

Die Philippinen wandten sich bereits gegen Ende der Amtszeit von Präsident Rodrigo Duterte wieder verstärkt den USA zu. Dass er China weit entgegengekommen war, hatte Beijing zu keinen nennenswerten Konzessionen gegenüber Manila veranlasst. Im März 2019 stellte US-Außenminister Mike Pompeo erstmals klar, dass Washington auch eine chinesische Aggression gegen philippinische Truppen und Schiffe im Süd­chinesischen Meer, inklusive der BRP Sierra Madre, als Angriff im Sinne von Artikel 4 des Mutual Defense Treaty zwischen den USA und den Philippinen werten würde. Im November 2021 einigten sich die beiden Länder auf eine Agenda, welche ihre seit 1951 bestehende Allianz umfassend an die Gegebenheiten nach Ende des Kalten Krie­ges anpasst. Schon bevor im Mai 2023 die formalisierten Bilateral Defense Guidelines verabschiedet wurden, war das Enhanced Defense Cooperation Agreement (EDCA) von 2014 als Kernstück erneuert und erweitert worden. Damit erhalten die USA auf den Philippinen verbesserten Zugang zu insgesamt neun noch auszubauenden Standorten. Diese wurden mit Blick auf eine mögliche Konfrontation mit China aus­gewählt.

Zur Verbesserung der Interoperabilität und zur Abschreckung Chinas werden in diesem Rahmen wieder vermehrt gemeinsame Manöver abgehalten. Zudem fahren seit November 2023 Schiffe der amerikanischen und der philippinischen Marine gemeinsam Patrouillen, und Aufklärungsflugzeuge der USA beobachten das Gesche­hen, wenn der Außenposten am Second Thomas Shoal mit Nachschub versorgt wird. Nicht zuletzt wird Washington Militärhilfe zur Verfügung stellen – in Form von Trans­­­portflugzeugen, Radaranlagen, Drohnen und weiteren Systemen zur Küstenverteidigung.

Auch mit Japan vertieften die Philippinen ihre Sicherheitskooperation. Im November 2023 sicherte Tokio dem Land die Lieferung weiterer Radaranlagen und Patrouillenboote zur Küstenüberwachung zu. Einen Monat später einigte man sich grundsätzlich auf den Abschluss eines Re­ciprocal Access Agreement (RAA), das die Einreise und Versorgung von Truppen auf dem jeweiligen Staatsgebiet regelt. Diese intensivierte bilaterale Zusammenarbeit wird zudem verstärkt in trilaterale Formate mit den USA eingebettet. Mit Australien verfügten die Philippinen schon über ein Visiting Force Agreement zur gegenseitigen Entsendung von Truppen. Im September 2023 vereinbarten Manila und Canberra zusätzliche Schritte. So folgten unter ande­rem gemeinsame Manöver und Patrouillen der Marinen und Luftwaffen im Südchinesischen Meer.

Während die USA, Japan und Australien ihre regionalen Strategien schon seit über einem Jahrzehnt koordinieren, haben nun auch Kanada, Frankreich und Großbritannien ihre Sicherheitskooperation mit den Philippinen institutionalisiert. Auch mit Indien hat Manila über die Jahre diverse Formate aufgebaut. 2022 wurde zum Bei­spiel vereinbart, dass Indien den Philippinen landgestützte Marschflugkörper liefert.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das forsche und oft aggressive Vorge­hen Chinas dessen Nachbarn zu deutlich engerer Sicherheitskooperation mit den USA gedrängt hat. Ausgehend von vertief­ten bilateralen Allianzen mit Südkorea, Japan und Australien konnte Washington so ein aus diversen bilateralen und mini­lateralen Arrangements bestehendes, China strategisch eindämmendes Gegengewicht aufbauen. Die Abschreckungswirkung bleibt dabei jedoch beschränkt, während das Risiko von Glaubwürdigkeitsverlusten und größeren Konflikten steigt.

Eskalieren oder deeskalieren?

Durch ihr Vorgehen hat die chinesische Führung die seit den 1990er Jahren vorher­gesagte Eindämmungspolitik (Containment) der USA und ihrer Alliierten zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung gemacht. Umso stärker versucht Beijing, die Gewässer innerhalb der sogenannten Ersten Insel­kette, das heißt westlich der Küsten Koreas, Japans und der Philippinen, einschließlich Taiwans, zu kontrollieren oder zumindest alliierte Operationen dort zu erschweren. Wiederkehrende Versuche chinesischer Akteure, amerikanische Flugzeuge und Schiffe, die vor Chinas Küsten offensiv, aber legal militärische Aufklärung betreiben, mit riskanten Manövern zu behindern, zeugen ebenso von dieser Dynamik wie die Bestrebungen, Formationen wie Triton Island, Sandy Cay, Whitsun Reef oder Scarborough Shoal zu territorialisieren.

Nachdem die Kontrolle dieser Riffe und Gewässer von Beijing zur existentiellen Frage der nationalen Sicherheit, von Washington und seinen Verbündeten wiederum zum Testfall der regionalen und internationalen Ordnung erhoben worden ist, steht die Glaubwürdigkeit der USA als verlässlicher Allianzpartner mehr denn je auf dem Spiel. Denn Japan versichert sich seit 2008, als es zu Konfrontationen mit China über die Diaoyu/Senkaku-Felsen im Ostchinesischen Meer kam, regelmäßig amerikanischer Unterstützung, und die Beziehungen zwischen Beijing und Taipei werden selbst durch geringe Verhaltens­änderungen Washingtons beeinträchtigt.

Die Glaubwürdigkeit der USA als Sicherheitsgarant ist nun kaum mehr von der effektiven Unterstützung von Allianz­partnern bei der Kontrolle über einzelne Riffe zu trennen. Angesichts der steigenden Spannungen zwischen den USA und China sowie zwischen China und seinen Nachbarn wird selbst Nichthandeln zu einer Handlung, welche die Unsicherheit erhöhen und die Legitimität der jeweiligen Akteure unter­graben kann. Einmal eingegangene Ver­pflichtungen lassen sich nur schwer rück­gängig machen, und symbolisch stark auf­geladene Praktiken wie etwa Freedom-of-Navigation-Operationen können kaum ein­geschränkt werden, ohne damit ungewollte Signale auszusenden.

Die USA werden also nicht umhinkommen, die Philippinen bei der Befestigung des Außenpostens im Second Thomas Shoal zu unterstützen. In Beijing wird man diesen Schritt, abhängig von der jeweiligen innen­politischen Situation und dem Zustand der diplomatischen Beziehungen mit den USA, möglicherweise tolerieren.

Gleichzeitig – oder im Kontext einer vorhersehbaren Verschlechterung des bila­teralen Klimas – könnte man in Beijing aber versuchen, andernorts Druck auszuüben. Das Szenario, wonach die chinesische Führung beschließt, das von ihr seit 2012 kontrollierte Scarborough Shoal zu einem Stützpunkt auszubauen, wurde wahrscheinlich auf höchster Ebene zwischen Vertretern der USA und Chinas thematisiert – und von Washington möglicherweise als eine rote Linie definiert. Beijing hat trotz­dem eine Reihe weiterer Möglichkeiten, um die Philippinen und auch andere Verbündete der USA in der Region stärker unter Druck zu setzen. Ein Beispiel sind intensivierte Versuche, japanische Flugzeuge von den umstrittenen Diaoyu/Senkaku-Felsen im Ostchinesischen Meer fernzuhalten. In Washington wird man deshalb den ganzen Westpazifik im Blick haben müssen, um etwaige Schritte Chinas rechtzeitig antizi­pieren, diese in Absprache mit Alliierten und Partnern durch Präsenzverstärkung an anderen Orten beantworten und so die eigene Glaubwürdigkeit wahren zu können.

Gleichzeitig ergeben sich für die Philippinen, die durch Unterstützung von außer­halb Südostasiens eine etwas stärkere Posi­tion erreicht haben, allenfalls neue Mög­lichkeiten, mit China auf einen temporären Modus Vivendi hinzuarbeiten. Denn Beijing kann unterhalb der Kriegsschwelle jederzeit eskalieren und seine Kontrolle verstärken, wenn es den Nutzen größer einschätzt als den antizipierten Schaden. Es bleibt des­halb wichtig, dass die USA der chinesischen Führung diplomatische und handfeste materielle Anreize – sogenannte »glaubhafte Garantien« – vermitteln, welche in den Augen Beijings den Nutzen eskalie­renden Verhaltens minimieren und wahr­scheinliche Nachteile, die über Reputations­kosten bei Nachbarn und im Westen hin­ausgehen, konkret darstellen. Dies gelingt nicht, wenn man in Beijing glaubt, ohnehin nichts mehr zu verlieren zu haben.

Der schleichenden Territorialisierung des Südchinesischen Meeres mittels Grauzonen-Strategie kann nur mit multilateral koor­dinierten Maßnahmenpaketen unterhalb der Schwelle zur Anwendung von Waffengewalt begegnet werden. Die Aufklärung der Bewegungen von Chinas Küstenwache und Fischereimilizen sowie die systematische Dokumentation und offensive mediale Aufbereitung ihres Vorgehens durch Viet­nam, die Philippinen und die USA sind ein erster Schritt. Aber die öffentliche Aufmerk­samkeitsspanne ist kurz und der Ruf Chinas infolge eigener Verhaltensweisen ohnehin stark beschädigt. Erfolg verspricht mittelfristig nur, Kapazitäten zur Aufklärung maritimer Räume und zur Durchsetzung gesetzlicher Vorgaben zu schaffen, wozu es koordinierter Maßnahmen der Küstenwachtorgane südostasiatischer Staaten be­darf. Bis sich hier Fortschritte einstellen, werden wahrscheinlich weitere Formationen in der Spratly-Inselgruppe besetzt und ausgebaut werden.

Dr. Christian Wirth ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Asien. Diese Publikation ist Teil seines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützten Projekts mit der Nummer 449899997 (»Rekonstruktion des maritimen Raumes durch ›Indo-Pazifische‹ Geopolitik«).

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