Russlands Krieg gegen die Ukraine zeigt keine Zeichen der Entspannung, der strategische Wettbewerb zwischen China und den USA dauert an, und die sich ausweitende militärische Kooperation zwischen China und Russland lässt die Herausforderungen für die internationale Staatenwelt noch wachsen. Die Arktis erscheint in diesem Zusammenhang wie ein Relikt vergangener Zeiten, in denen sie als Hort des Friedens galt. Aber der arktische Exzeptionalismus war schon lange vor dem russischen Angriffskrieg am Ende. Um ein Minimum an Kooperation wiederherzustellen, bedarf es informeller Gespräche, die nach dem Ende des Krieges helfen können, eine Perspektive aufzuzeigen. Anknüpfungspunkte dafür könnten zwei Projekte bilden, die in der Vergangenheit relativ unstrittig waren: die Bergung radioaktiver Überreste des Kalten Krieges und eine Vereinbarung zur Vermeidung unbeabsichtigter Eskalation auf hoher See (INCSEA). Ein Rückgriff auf alte Ansätze der Rüstungskontrolle könnte in Zukunft wieder Zusammenarbeit in der Arktis eröffnen.
An die Stelle des im Arktischen Rat verankerten Vertrauens ist ein generalisiertes Misstrauen getreten, bei dem schwer erkennbar ist, auf welcher Ebene und mit welchen Mitteln es wieder in konstruktives Engagement umgewandelt werden kann. Russland hat unter seinem Präsidenten Wladimir Putin inzwischen alle verbliebenen Rüstungskontrollabkommen entweder verletzt oder aufgekündigt. Eine vertrauensvolle Kooperation kann es mit Putin nicht mehr geben, und seine aggressive, neoimperialistische Politik wird nachwirken. Aber auch Russland beklagt – so zynisch dies angesichts fortdauernder Brutalität russischer Kriegsführung und der Verletzungen des Völkerrechts klingen mag – verlorengegangenes Vertrauen.
Die Rückkehr zu einer Arktis als Raum der Zusammenarbeit und Stabilität ist das langfristige Ziel aller Mitglieder des Arktischen Rates. Dem dürften auch indigene Völker und Beobachterstaaten, darunter Deutschland, zustimmen. Selbst Moskau ist an Stabilität interessiert, um mit Hilfe ausländischer Investitionen die Arktische Zone der Russischen Föderation als nationale Ressourcenbasis nutzen zu können und die wachsende Abhängigkeit von China zu reduzieren. Gegenwärtig befindet sich Russland jedoch auf Konfrontationskurs gegenüber dem Westen. Ein Ende der Kampfhandlungen in der Ukraine ist während des in vielerlei Hinsicht entscheidenden Jahres 2024 – in dem ein Nato-Gipfeltreffen in Washington und mehrere Wahlen, darunter die US-Präsidentschaftswahl, stattfinden – nicht absehbar.
Um aber in Zukunft eine Kooperation überhaupt möglich zu machen, ist es dennoch nützlich, schon heute kritisch über alle Maßnahmen zu reflektieren, die zur Wiederherstellung von Vertrauen in die Absichten und Ziele anderer arktischer Akteure geeignet erscheinen. Dazu sollten die ursprünglichen Ziele und Instrumente von Rüstungskontrolle überdacht werden, und es wäre zu überlegen, wie sie im neuen arktischen Sicherheitsumfeld angewandt werden können. Das gilt für das gesamte Spektrum der Rüstungskontrolle, von vertrauensbildenden Maßnahmen bis zur Rüstungssteuerung von Waffensystemen.
Die Arktis: ein Brennpunkt des Klimawandels, politisch ein Raum der Möglichkeiten
Die Arktis taugt gut als Ausgangspunkt für inoffizielle Gespräche und schließlich eine Wiederaufnahme diplomatischer Aktivitäten, denn sie liegt abseits aktueller geopolitischer Brennpunkte der sino-amerikanischen Machtrivalität und ist doch zunehmend wichtig für China und die USA. Die beiden Großmächte bilden mit Russland, so der kanadische Politikwissenschaftler Rob Huebert, »a new Arctic strategic triangle environment«, welches das Konfliktpotential in der Arktis wesentlich von außerhalb der Region bestimmt.
Die Auswirkungen des Klimawandels und der strategischen Machtkonkurrenz bilden eine toxische Mischung für das Zusammenwirken aller arktischen Akteure. Aufgrund der fortschreitenden Erwärmung wird in naher Zukunft ein eisfreier Arktischer Ozean realistisch – dann wäre der Ozean in den Sommermonaten weniger als 15 Prozent von Meereis bedeckt. Eine solche Entwicklung ist nun Mitte der 2030er Jahre möglich, während dies vor einiger Zeit erst für Mitte oder Ende des Jahrhunderts erwartet wurde. Wegen dieser dynamischen Entwicklung werden Seewege und Ressourcen der Arktis bald besser zugänglich. Schon heute weiten sich zivile und militärische Aktivitäten aus und verschärft sich der Wettbewerb um Zugang und Einfluss in der Arktis. Dadurch entsteht ein Bedarf an Regeln für das Verhalten staatlicher Akteure, wobei transnationale Bezüge beachtet und indigene Akteure berücksichtigt werden müssen.
Die wachsenden militärischen Aktivitäten erzeugen einen Bedarf an Rüstungskontrolle im ursprünglichen und umfassenden Sinne. Das heißt, sie betrifft alle Formen des militärischen Zusammenwirkens zwischen potentiellen Gegnern in dem Interesse, die Wahrscheinlichkeit eines militärischen Konflikts ebenso zu verringern wie sein Ausmaß und seine Gewalttätigkeit, falls er eintritt, sowie die politischen und wirtschaftlichen Kosten zu seiner Vorbereitung. Es geht um Mechanismen, mit denen sich mittelfristig die anhaltenden Spannungen bewältigen und das Zusammenwirken in der Arktis im gegenseitigen Interesse friedlich gestalten lassen. Ein gewisses Maß an Kooperation mit Russland ist notwendig, um zum Beispiel im Kontext militärischer Übungen etwaige Missverständnisse, Fehleinschätzungen und beiderseits unerwünschte Ereignisse zu vermeiden, wie es etwa Norwegen praktiziert. Langfristig ist strategische Stabilität die Voraussetzung für eine nachhaltige und wirtschaftliche Nutzung arktischer Seewege und Ressourcen. Die Arktisstaaten werden dazu neue Akteure wie China einbeziehen müssen, wenn im Sinne der US-Arktisstrategie eine »friedliche, stabile, prosperierende und kooperative Arktis« möglich werden soll.
Allerdings hat ein solch konstruktiver Ansatz derzeit weder in Russland noch in vielen Nato-Staaten große Aussicht auf Erfolg. Der Kreml sieht den kollektiven Westen als Gegner und konkrete Verhandlungsbereitschaft als Schwäche. In der Nato hat der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zwar den inneren Zusammenhalt der Nato gestärkt, doch die Allianz ist nicht einig in der Frage, wie künftig Sicherheit vor Russland gewährleistet werden soll. Nach Auffassung vieler Nato-Staaten kann Russland nur aus einer Position der Stärke heraus begegnet werden, was zunächst eine umfassende Aufrüstung verlangt. Andere wiederum erachten auch Maßnahmen zur Risikominderung als sinnvoll, die ein Mindestmaß an Kooperation erfordern. Eine klare Richtungsentscheidung ist nicht vor dem Gipfeltreffen in Washington und der US-Präsidentschaftswahl 2024 zu erwarten.
Zuvorderst wäre es also notwendig, zu einem gemeinsamen Verständnis zu gelangen, wie nach einem Ende des Krieges gegen die Ukraine die künftigen Beziehungen zu Russland gestaltet werden sollen. Die Arktis hat für Russland zentrale Bedeutung als Ressourcenbasis und Seeweg sowie als Sicherheitsgarant im Hinblick auf die maritime nukleare Zweitschlagskapazität. Die nordeuropäischen Staaten, aber auch die USA und Kanada stehen ihrerseits vor neuartigen militärischen Bedrohungen, die neue Konzeptionen und Kapazitäten zu hohen Kosten nötig machen. Frühere Konzepte wie Krisenstabilität werden durch hyperschallschnelle Waffensysteme fragwürdig, die politische Entscheidungsprozesse noch stärker unter Zeitdruck setzen.
Ziel sollte sein, das in der Arktis entstandene Sicherheitsdilemma zu entschärfen, den Aufbau militärischer Fähigkeiten einzudämmen und Maßnahmen zur Krisen- und Konfliktprävention einzuleiten. Idealiter können diese als Bausteine für eine spätere Sicherheitsarchitektur dienen. Ansonsten besteht aufgrund der zunehmenden Aktivitäten in der Arktis – vom zivilen Schiffsverkehr bis zu militärischen Großmanövern – die Gefahr, dass eine Situation infolge eines Missverständnisses oder einer Fehlwahrnehmung unbeabsichtigt eskaliert. Deshalb muss ein Dialog über Fragen der militärischen Sicherheit in der Arktis geführt werden.
Auf welcher Ebene könnten die Arktisstaaten einen Dialog wieder aufnehmen?
Trotz der Spannungen im Verhältnis zu Russland findet Kommunikation zwischen den Arktisstaaten weiterhin statt: sowohl auf offizieller Ebene, wie im Rahmen der Vereinten Nationen, als auch bilateral, soweit es vertraglich zur Regelung des Grenzverkehrs, zum Schutz der Fischerei oder zur Aufrechterhaltung von Such- und Rettungsdiensten vereinbart wurde. Auch multilaterale Formate werden nach wie vor genutzt, so durch die Vertragsparteien des Fischereiabkommens für die Zentralarktis.
Es gibt aber keinen Sicherheitsdialog mehr, der Moskau einschließt und auf die Arktis ausgerichtet ist. Seit der Krim-Annexion 2014 war Russland nicht mehr am Dialog zwischen militärischen Befehlshabern der Arktisstaaten (Arctic Chiefs of Defence, ACHOD) und an den jährlichen Treffen der arktischen Sicherheitskräfte (Arctic Security Forces Roundtable, ASFR) beteiligt. Im ASFR-Format sind auch Deutschland, Frankreich, Großbritannien und die Niederlande vertreten. Andere Formate wie der Arktische Rat, der Euro-Arktische Barents-Rat oder das Forum der Küstenwachen (Arctic Coast Guard Forum, ACGF) befassen sich nicht mit militärischer Sicherheit. Über die Notwendigkeit, Russland wieder in den Dialog einzubeziehen, bestand vor dem Krieg weitgehend Einigkeit unter Experten. Allerdings gehen in Politik und Wissenschaft die Meinungen auseinander, wie dies am besten geschehen sollte.
Die scheinbar naheliegendste Lösung ist am wenigsten realistisch: Der Arktische Rat verfügt über einen hohen Grad an Institutionalisierung und ist seit mehr als zwei Jahrzehnten erfolgreich aktiv. Sein Mandat auszudehnen böte daher auf den ersten Blick einen einfacheren Weg als ein neues Format zu schaffen. Darüber hinaus versammelt er alle regionalen Hauptakteure. Einer Erweiterung des Mandats auf Fragen der militärischen Sicherheit müssten aber alle jene Mitgliedstaaten zustimmen, die dies früher abgelehnt haben. Ein solcher Konsens ist unwahrscheinlich. In der Vergangenheit sprachen sich Islands Premierministerin Katrín Jakobsdóttir und Finnlands Regierungschef Antti Rinne für eine solche Lösung aus. Jedoch gab es Bedenken, dass dadurch die Zusammenarbeit behindert werden könnte. So meinte der frühere norwegische Arktisbeauftragte Bård Ivar Svendsen noch zu Zeiten umfassender Zusammenarbeit, dass der Dialog mit Russland im Rat nur deshalb (noch) gut sei, weil dort nicht über Sicherheitspolitik beraten werde. Im Inuit Circumpolar Council (ICC) lehnte es Alaskas ICC-Präsident Jimmy Stotts 2021 ab, sich mit Fragen der Verteidigung zu befassen: »Wir wollen nicht, dass unsere Welt durch die Probleme anderer Völker überrannt wird.«
Ein anderer Ansatz liegt im Rückgriff auf bereits etablierte Formate. So wollte Außenminister Sergei Lawrow zu Beginn des russischen Vorsitzes im Arktischen Rat (2021–23) den Dialog zwischen militärischen Befehlshabern der Arktisstaaten reaktivieren. Russlands Arktisbotschafter Kortschunow erklärte in diesem Sinne, den Austausch auf informeller Ebene zwischen militärischen Experten der Arktisstaaten wiederaufnehmen zu wollen. Der Krieg hat diesen Ideen ein Ende gesetzt, und der Nato-Beitritt Finnlands und prospektiv Schwedens lässt neben bewährten Formaten wie ACHOD und ASFR einen alternativen Ansatz für eine Übergangsphase zweckdienlich erscheinen.
Auch wenn Skepsis angebracht ist, erscheint ein Dialog mit Russland auf informeller Expertenebene (Track 2) sinnvoll. Damit lassen sich mögliche Ansätze zur Vertrauensbildung ausloten und darauf aufbauend zu gegebener Zeit auf formeller Ebene (Track 1) offizielle Gespräche einleiten. Informelle Gespräche sind ein Instrument, um einen reflektierten Dialog zwischen Akteuren anzuregen, die sich im Konflikt befinden, besonders wenn Unterredungen auf offizieller Ebene schwierig oder gar unmöglich sind. In der neuen Normalität von Misstrauen und Konkurrenz gilt es, wieder ein Mindestmaß an Stabilität zu schaffen. Ein Dialog von Militärexperten aller acht Arktisstaaten könnte solch ein neues Interim-Format sein und einen Prozess initiieren, in dem vertrauensbildende Maßnahmen (VBM) erarbeitet werden.
Die SWP hat vor der russischen Invasion 2022 einige Erfahrung mit Track 2 (inoffiziell) und Track 1.5 (mit offiziellen Repräsentanten) gemacht. Allerdings hat Russland eine sehr kleine Expertenlandschaft, die an kritischen Punkten wenig oder keinen Austausch mit oder Einfluss auf die russische Politik hat. Seit Kriegsbeginn hat sich die russische Expertenschaft in mehrere Lager gespalten: Das erste Lager ist geflohen. Das zweite Lager ist in Russland, aber isoliert und bemüht, möglichst unsichtbar zu sein. Das dritte Lager macht Karriere und hat die offizielle Rhetorik übernommen. Auch wenn der Austausch mit dem zweiten Lager informativ sein könnte, sind die Ex-perten dort sehr gefährdet. Jeder Kontakt mit westlichen Experten und Offiziellen kann zu Strafverfahren führen, die langjährige Gefängnisstrafen nach sich ziehen. Es gibt Verhöre an den Grenzen, man wird leicht zum ausländischen Agenten erklärt, und anderes. Außerdem ist bekannt, dass Track-2-Aktivitäten von russischen Geheimdiensten unterwandert wurden. Und selbst in Fällen, in denen Moskau solche Gespräche (wie im Rahmen des langjährigen Streitkräftedialogs des Bundesverteidigungsministeriums und der SWP) genehmigt hat, waren Erfolge spärlich.
Prinzipiell erfordern Rüstungskontroll- und Transparenzmaßnahmen kein gegenseitiges Vertrauen, um erfolgreich verhandelt zu werden. Vielmehr sind sie ein Mittel, um bei Parteien, die einander misstrauen, berechenbares Verhalten zu ermöglichen – und langfristig Vertrauen zu schaffen.
Welche Maßnahmen könnten wieder Vertrauen bilden?
Vertrauen beinhaltet immer ein Maß an Ungewissheit und die Möglichkeit der Enttäuschung. Es eröffnet aber auch mehr Möglichkeiten des Handelns, weil, wie es der Soziologe Niklas Luhmann formuliert, »im Vertrauen eine wirksamere Form der Reduktion von Komplexität zur Verfügung steht«. Vertrauensvoll Handelnde sind optimistisch auf die Zukunft ausgerichtet, die stets eine Vielzahl möglicher und ungewisser Ereignisse enthält. Kühl kalkuliert, können Risiken dadurch nicht beseitigt, aber verkleinert werden. Solche Anhaltspunkte können so laut Luhmann als »Sprungbasis für den Absprung in eine immerhin begrenzte und strukturierte Ungewißheit« (sic) dienen.
Die Bundesregierung setzt sich gemäß ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie »für strategische Risikoreduzierung und die Förderung von Berechenbarkeit ein, auch für den Erhalt belastbarer politischer und militärischer Kommunikationskanäle im Nato-Russland-Verhältnis. Wir bleiben offen für gegenseitige Transparenzmaßnahmen, sofern die Voraussetzungen hierfür bestehen«. Dies schließt die Entwicklung neuer verhaltensbasierter Ansätze ein, die helfen können, Spannungen zu verringern.
Auf russischer Seite hat Arktisbotschafter Kortschunow 2023 abermals den Wunsch nach umfassender, militärische Fragen einbeziehender Kooperation geäußert. Alles könne im Dialog geklärt werden, so dass das Vertrauen gestärkt würde. Trotz solcher Worte wird es angesichts der Folgen des Kriegs schwer sein, einen Dialog zu beginnen. Die aktuelle russische Politik gibt wenig Hoffnung auf konstruktive Ansätze, zumal Putin eine Politik kalkulierter Ambivalenz verfolgt. Das darf jedoch nicht daran hindern, sich vorzubereiten und zu überlegen, wie Sicherheit und Stabilität in Zukunft gewährleistet werden sollen.
Vertrauensbildende Maßnahmen sollen akzeptables und legitimes Verhalten definieren. Sie sollen dazu beitragen, Transparenz zu fördern und das Risiko von Fehleinschätzungen – und damit einer ungewollten Eskalation – zu reduzieren. Auf diese Weise lässt sich ein gewisses Maß an Krisenstabilität und Vertrauen gegenüber den Absichten der anderen Seite schaffen. Damit ließe sich das Sicherheitsdilemma abschwächen.
VBM können beispielsweise darin bestehen, Transparenz über militärische Aktivitäten herzustellen und dazu Empfehlungen des Expertendialogs Nato-Russland aufzunehmen. So könnten arktische Militärstützpunkte besucht, dann ein Besuchsregime etabliert und im Weiteren auch Planungen für militärische Übungen offengelegt werden. Vertrauliche Vorabinformationen wären geeignet, Fehldeutungen russischer Alarmübungen zu vermeiden. Die Nato könnte wiederum Russland über Manöver multinationaler Verbände informieren. Größere militärische Bewegungen und Übungen könnten einem Informationsregime unterworfen werden.
Darüber hinausgehende vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen (VSBM) basieren auf dem Wiener Dokument über VSBM. Die OSZE hat damit in den 1990er Jahren das weltweit fortschrittlichste Regelwerk für Rüstungskontrolle und Verifikation sowie vertrauensbildende Maßnahmen geschaffen. Nun sind viele der Abmachungen entweder suspendiert, oder wichtige Vertragspartner haben sich zurückgezogen. Nach Auffassung der OSZE-Generalsekretärin Helga Maria Schmid bedeute dies jedoch nicht, dass VSBM in Zukunft nicht wieder eine wichtige Rolle spielen werden, und die Instrumente seien ja weiterhin vorhanden.
Ein neuer Dialog benötigt konstruktive Substanz in Form potentiell geeigneter Kooperationsprojekte. Langfristig gilt es, in beiderseitigem Interesse neue Regeln und am Ende ein multilaterales Regelwerk zu erarbeiten. Zwei Grundbedingungen, so ein Autorenteam der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, müssen für eine wirksame multilaterale Vereinbarung erfüllt sein: »Die Regeln müssen angemessen gestaltet sein, so dass sie zur Problemlösung geeignet sind und von den beteiligten Staaten tatsächlich befolgt werden.« Die entscheidende Frage lautet demgemäß, wie stark staatliches inklusive militärisches Handeln durch die Regeln eingeschränkt wird.
Potentielle Kooperationsprojekte
Die älteste VSBM zur Vermeidung unbeabsichtigter Eskalation ist das 1972 zwischen den USA und der Sowjetunion geschlossene INCSEA-Abkommen (Incidents at Sea). Einzelne Nato-Staaten wie Norwegen haben solche Abkommen unter Berücksichtigung neuer technischer Entwicklungen mit Russland fortgeführt. Alle enthalten sehr ähnliche Bestimmungen, die auf VSBM hinauslaufen. Obwohl es sinnvoll sein kann, bilaterale INCSEA-Abkommen für Staaten mit weltweit operierenden Seestreitkräften beizubehalten, wäre es zielführender, ein Nato-Russland-INCSEA-Abkommen zu schaffen, das für alle verbündeten Schiffe gälte. In der Praxis wäre es für russische Marineoffiziere einfacher, mit einem einzigen Satz von Signalen zu arbeiten als mit zwölf verschiedenen, so das Resümee einer RAND-Studie. Dies entspräche auch Überlegungen, ein ähnliches Abkommen zwischen den USA und China anzustreben.
Weitergehende spezifische Verhaltensregeln (Arctic Military Code of Conduct) werden seit einiger Zeit diskutiert. Ein mögliches Modell ist das Fischereiabkommen für die Zentralarktis. Es bietet ein Format für Verhandlungen zwischen den Küstenstaaten der Arktis, vier weiteren Ländern, die Fischerei in der Arktis betreiben, und der EU. Ein militärischer Verhaltenskodex könnte neben den Arktisstaaten zudem Länder einschließen, die zu militärischen Operationen in der Arktis fähig sind. Zweck des Kodex wäre, die Kooperation zu fördern und die Region konfliktfrei zu halten.
Eine Wiederaufnahme der Kooperation im nuklearen Kontext betrifft die Überreste des Kalten Krieges in Form versenkter Unterseeboote, Nuklearwaffensysteme sowie Reaktoren und Brennstäbe, die langfristig die fischreiche Barentssee und angrenzende Seeräume bis nach Norwegen radioaktiv zu verseuchen drohen (weshalb Oslo in der Vergangenheit federführend bei der Beseitigung russischer Hinterlassenschaften im Hohen Norden war). Ein Vorschlag zu Beginn des russischen Ratsvorsitzes sah vor, zwei Unterseeboote (K‑27 in der Karasee und K‑159 in der Barentssee) mit finanzieller Unterstützung der EU zu bergen, die andernfalls weiter korrodieren und schließlich Radioaktivität freisetzen werden. Einen Vorschlag zur Regelung des Umgangs mit ziviler Kernenergie in der Arktis haben russische Forscher mit einem US-Kollegen unterbreitet. Beide Vorschläge knüpfen damit an die erste Kooperation (Arctic Military Environmental Cooperation) an, die 1996 den Gefahren durch radioaktive Überreste der russischen Nordflotte galt und mittelbar zur Gründung des Arktischen Rates verhalf.
Da die radioaktiven Überreste ein grenzüberschreitendes, transnationales Problem darstellen, besteht in Moskau ebenso Interesse an ihrer Reduzierung wie in Oslo und anderen nordeuropäischen Hauptstädten. Ähnlich wie die Bekämpfung von Ölverschmutzung oder Such- und Rettungseinsätze sind dies Themen, deren Bedeutung unter Arktisstaaten unstrittig ist und die eine wesentliche Grundlage für die erfolgreiche Kooperation in der Arktis bildeten.
Berlin im hohen Norden
Die Arktis fordert Berlin, weil Sicherheit künftig stärker auch an der Nordflanke der Nato gewährleistet werden muss. Neue Maßnahmen für Rüstungskontrolle bedürfen zuvorderst der Wiederherstellung von Abschreckung und Verteidigung. Aber Abschreckung funktioniert nur, wenn dahinter eine substantielle Verteidigungsfähigkeit für den Fall steht, dass die Abschreckung versagen sollte. Das seit über einem Jahrzehnt aufwachsende Militärpotential Chinas und Russlands muss in seiner Bedeutung für den arktisch-nordatlantischen Raum berücksichtigt werden, wenn es darum geht, hinlängliche Beiträge zur Bündnisverteidigung festzulegen. Erst auf der Basis eines solchen Lagebildes können erfolgversprechende Aktivitäten zur Rüstungskontrolle bestimmt werden. Ähnlich wie beim von Bundeskanzler Helmut Schmidt 1977 initiierten Nato-Doppelbeschluss muss die Gleichwertigkeit von Rüstung und Rüstungskontrolle bedacht und nun eine umfangreiche Nachrüstung geplant, finanziert und umgesetzt werden.
Denn selbst wenn Russland weiter an einem gewissen Maß an Stabilität im arktischen Raum interessiert sein sollte, dienen der Krieg in der Ukraine und die andauernde Konfrontation im Verhältnis zu den anderen Arktisstaaten doch zugleich der Regimestabilität. Offen ist daher, ob der Kreml bereit ist, konkrete Maßnahmen zur Stabilisierung der Lage im Sinne von Rüstungskontrolle einzugehen und damit das für Putin nützliche Feindbild zu relativieren, oder ob er beabsichtigt, mittels der eingeleiteten Kriegswirtschaft den Krieg zu gegebener Zeit auszuweiten.
Karte |
Quelle: Charles Digges, »War Puts Cleanup of Russia’s Radioactive Wrecks on Ice«, in: Bulletin of the Atomic Scientists, 28.11.2022 (Karte erstellt von Thomas Gaulkin), <https://thebulletin.org/2022/11/war-puts-cleanup-of-russias-radioactive-wrecks-on-ice/>. |
In der Marinerüstung der Nato-Staaten sind vorrangig umfassende maritime Lagebilder notwendig, um russische Aktivitäten besser aufklären und verfolgen zu können. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die chinesisch-russische Zusammenarbeit aufgrund des Murmansk-Abkommens vom April 2023 zwischen Chinas Küstenwache und Russlands Grenzschutz zunehmen wird. Britischen Überlegungen folgend sollte die Zahl der P‑8‑Seefernaufklärer erhöht und die von London vorgeschlagene Zusammenarbeit zwischen den USA, Großbritannien und Norwegen auf Staaten wie Deutschland und Dänemark ausgeweitet werden.
Ferner muss das Zielbild 2035+ der Deutschen Marine baldmöglichst umgesetzt werden. Neue Fregatten sollten nicht nur für Einsätze im Meereis der Ostsee taugen (F‑126), sondern wie deutsch-norwegische Unterseeboote (U212 CD) zur Verwendung in arktischen Gewässern befähigt werden. Die neuen Fregatten vom Typ F‑127 sind für arktische Einsätze geplant. Anzustreben ist das auch für Drohnen zur weiträumigen luftgestützten Überwachung und Aufklärung sowie unbemannte Langstrecken-Unterwasserfahrzeuge zur Überwachung maritimer kritischer Infrastruktur auf dem Meeresboden.
Deutschland braucht in der Tat einen »neuen Blick« auf die Arktis, und neue Leitlinien für die deutsche Arktispolitik werden die sicherheitspolitischen Veränderungen berücksichtigen müssen. Die deutsche Außenpolitik scheint von der Hoffnung getragen, dass Russland irgendwann noch gebraucht werde, und nicht, dass Russland eines Tages weitere Ziele in Europa angreifen könne. Dabei wird zutreffend angenommen, dass russische Aggression gegen baltische Staaten oder in der Barentsseeregion einen Krieg mit der Nato auslösen würde. Aber das erratische und gewaltverherrlichende Verhalten Putins lässt nicht einmal ausschließen, dass er eine Eskalation in der Arktis selbst auslösen könnte.
Das Vertrauen wird nicht zurückkehren, aber ein gewisses Maß an Zusammenarbeit in kritischen Fragen muss während des Krieges – soweit nötig – und nach dem Krieg – soweit möglich – fortgesetzt werden, auch und gerade in der Arktis. Denn wie in der Klimapolitik gilt: Was in der Arktis geschieht, bleibt nicht in der Arktis. All diese Argumente ändern allerdings nichts daran, dass zuvorderst die Ukraine politisch, wirtschaftlich und militärisch unterstützt werden muss, damit sie den Krieg für sich entscheiden und zu einem demokratischen Mitglied der EU und der Nato werden kann.
Literaturhinweise
Janis Kluge
Russisch-chinesische Wirtschaftsbeziehungen. Moskaus Weg in die Abhängigkeit
SWP-Studie 16/2023, Dezember 2023
Sabine Fischer
Diplomatie im Kontext des russischen Überfalls auf die Ukraine. Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln
SWP-Aktuell 56/2023, Oktober 2023
Margarete Klein / Claudia Major
Dauerhafte Sicherheit für die Ukraine. Von Ad-hoc-Unterstützung zu langfristigen Sicherheitsgarantien als Nato-Mitglied
SWP-Aktuell 44/2023, Juni 2023
Susan Stewart
Die deutsche Russlandpolitik festigen. Bestehende Ansätze schärfen und Zielkonflikte verdeutlichen
SWP-Aktuell 34/2023, Mai 2023
Michael Paul
Der Kampf um den Nordpol. Die Arktis, der Klimawandel und die Rivalität der Großmächte
Freiburg: Verlag Herder, 2022
Dr. Michael Paul ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
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DOI: 10.18449/2024A03