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Halbzeitbilanz zur 2030-Agenda

Auf dem New Yorker UN-Gipfel ist politischer Wille gefragt, die Ziele nachhaltiger Entwicklung umzusetzen

SWP-Aktuell 2023/A 54, 11.09.2023, 8 Seiten

doi:10.18449/2023A54

Forschungsgebiete

Am 18./19. September 2023 wird zum Auftakt der UN-Generalversammlung das Gipfel­treffen zu den Zielen nachhaltiger Entwicklung (SDGs) stattfinden. Die Staats- und Regierungschefs werden dabei zur Halbzeitbilanz der SDGs sprechen. Bislang dienten die 2030-Agenda und die dort aufgestellten Ziele als eine Art Kitt, der die Vereinten Nationen trotz geopolitischer Verwerfungen zusammenhielt. Ob das jetzt – wenn Taten auf Worte folgen müssen – weiter so bleiben wird, ist noch offen. Wie Analysen offenbaren, mangelt es auf nationaler wie globaler Ebene am politischen Willen. Für einen erfolgreichen Gipfel muss das Zusammenspiel zwischen nationalen Verpflichtungen samt Rechenschaftslegung einerseits und internationaler Unterstützung und Anreizen andererseits stimmig ausgestaltet werden.

Jedes Jahr im Juli diskutieren die UN-Mit­gliedstaaten und weitere Akteure beim Hochrangigen Politischen Forum für nach­haltige Entwicklung (HLPF) in New York, welche Fortschritte es bei der Umsetzung der 17 SDGs gibt. Alle vier Jahre wird diese Bestandsaufnahme durch ein Treffen des Forums im September auf Ebene der Staats- und Regierungschefs ergänzt. Den SDG-Gipfel bezeichnete UN-Generalsekretär António Guterres als »Herzstück« der dies­jährigen Arbeit der Vereinten Nationen. Er forderte die Mitgliedstaaten auf, sich klar zur Rettung der Ziele zu bekennen und für die notwendige Transformation ihre natio­nale Vision darzulegen – samt konkreten Plänen.

Die Halbzeitbilanz

Der jetzige SDG-Gipfel findet zur Halbzeit der Prozesse statt, mit denen die im Jahr 2015 verabschiedete 2030-Agenda umgesetzt werden soll. Dabei gibt es zwei zen­trale Instrumente, um die Ziele auf globaler und nationaler Ebene nachverfolgen und überprüfen zu können. Erstens wurden 231 Indikatoren festgelegt, zu denen der Gene­ralsekretär und die UN-Statistikkommission jährliche Berichte veröffentlichen. Bereits im Mai hatte Guterres die offiziellen Daten in einer Sonderausgabe des SDG-Fort­schritts­berichts vorgestellt. Bei der Hälfte der 140 Unterziele, für die aussagekräftige Daten vorliegen, wurden bislang nur unzurei­chende Fortschritte erzielt, bei 30 Pro­zent geht der Trend sogar in die falsche Rich­tung. So ist etwa die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, wieder angestiegen, und auch die Einkommensungleichheit hat abermals zugenommen. Dementsprechend appelliert der Generalsekretär an die Mitgliedstaaten, sich beim Gipfel auf einen »Rettungsplan für die Menschen und den Planeten« zu einigen. Auch der Welt­nachhaltigkeitsbericht (Global Sustainable Development Report, GSDR), der alle vier Jahre von einem Team aus der Wissenschaft für den SDG-Gipfel erarbeitet wird, fordert verstärkte Anstrengungen, um die mittlerweile unvermeidbaren Transformationsprozesse positiv zu gestalten.

Zweitens sind alle Regierungen gehalten, darüber zu berichten, was sie auf nationaler Ebene tun, um die SDGs zu erreichen. Diese freiwilligen nationalen Überprüfungen (Voluntary National Reviews, VNRs) werden auf dem jährlichen HLPF vorgestellt und diskutiert. Von zivilgesellschaftlichen Akteuren kommen parallel sogenannte Schatten- oder Spotlight-Berichte.

Wie einschlägige Resolutionen der Ver­einten Nationen vorschlagen, soll der Prä­sentation auf UN-Ebene ein Überprüfungsprozess auf Länderebene vorausgehen. Diese nationalen Prozesse sollen inklusiv, partizipativ und transparent sein, die ge­samte Regierung und Gesellschaft einbeziehen und auf einer soliden datenbasierten Analyse beruhen. Besonderes Augenmerk ist in den nationalen Berichten auf jene marginalisierten Gruppen zu legen, die in der Vergangenheit am wenigsten von Entwicklungserfolgen profitiert haben. Zu diesem Zweck sollen nach Einkommen, Geschlecht, Alter und weiteren länderspezifischen Kriterien aufgeschlüsselte Daten verwendet werden. Auch wird erwartet, dass die Berichte einen spezifischen Fokus auf relevante Verknüpfungen zwischen verschiedenen Sektoren, auf entsprechende Synergien und Zielkonflikte richten.

Ziel des Ganzen ist zum einen die Rechenschaftslegung gegenüber Bürgerinnen und Bürgern im nationalen Rahmen, zum anderen ein kollektives Peer Learning auf globaler Ebene. Für Letzteres wählt das Sekretariat (UN DESA) beispielhafte Initiati­ven zur Umsetzung der SDGs aus und stellt sie in eine Datenbank ein. Es muss bei der Auswertung der VNRs jedoch zurückhaltend agieren, da viele Mitgliedstaaten exter­ne Standards oder Beurteilungen als bevor­mundend ablehnen. Dies ist Teil der globa­len und nationalen »Politics« rund um die SDG-Umsetzung, also der konflikthaften politischen Prozesse und der damit verbun­denen Präferenzen und Machtkämpfe.

Nationale »Politics«

In Diskussionen um die nationale Umsetzung der SDGs taucht immer wieder der Begriff des politischen Willens auf – oder besser gesagt die Klage, dass es daran man­gele. Doch oft bleibt die Debatte an dieser Stelle stehen. Dabei sollte die Analyse weiter und tiefer gehen. Zu fragen ist, wer sich wofür einsetzt, wo genau es am poli­tischen Willen fehlt und warum.

In der Literatur wird politischer Wille definiert als die Selbstverpflichtung von Akteuren, Maßnahmen zur Erreichung einer Reihe von Zielen zu ergreifen und auch die Kosten dieser Maßnahmen zu tragen. Die zugrunde liegenden Motive, Anreizstrukturen und sonstigen Elemente sollten näher beleuchtet werden. Was wol­len die (politischen) Eliten des Landes, und warum drängen sie (nicht) auf die Umsetzung der SDGs? Welche Agenden verfolgen die Ministerialbürokratien? Wel­che Folgen haben Wahlen, neue Mehrheiten und Re­gierungswechsel? Welche regionalen oder globalen Ambitionen und Rivalitäten spie­len eine Rolle? Welche externen Faktoren waren im sich verändernden geopolitischen Kontext seit 2015 von Bedeutung (etwa Pan­demie, Konflikte und Krisen, wirtschaft­liche Entwicklungen, Geberpolitik)? Welche gesellschaftlichen Interessen sind wichtig, welche Reibungen bestehen?

In einem SWP Research Paper wurden für elf Länder die Prioritäten und politischen Interessen von Regierungen und lokalen Eliten im Zusammenhang mit den SDGs analysiert, ebenso die gesellschaft­lichen Interessen und damit verbundenen Konflikte. Die untersuchten Länder sind Ägypten, Belarus, Brasilien, China, Indien, Kenia, Palästina, die Republik Korea, Russ­land, Südafrika und der Sudan. Dies ist keine repräsentative Stichprobe, bildet aber ein breites Spektrum ab, das Industrie- und Schwellenländer, Länder mit mittlerem Ein­kommen und am wenigsten entwickelte Länder, Demokratien und autoritäre Re­gime sowie von Konflikten betroffene und fragile Länder umfasst. Jeder Beitrag kon­zentriert sich auf Aspekte der nationalen Politik, die der Autor bzw. die Autorin im Zusammenhang mit der SDG-Debatte für relevant hält.

Länderspezifische Ergebnisse

Die elf Länderstudien lassen sich nach drei Hauptmotiven bzw. Hindernissen bei der Umsetzung der SDGs auf nationaler Ebene gruppieren. In mehreren Fällen stellen die Autorinnen und Autoren fest, dass sich (1) staatliche Einflussnahme, Korruption, Fragili­tät und Konflikte entsprechend auswirken. So steht mit Blick auf die SDGs etwa der Sudan vor großen Herausforderungen, leidet das Land doch unter politischer Instabilität nach jahrzehntelanger autoritärer Herrschaft, unter bewaffneten Konflikten, einer tiefen makroökonomischen Krise und den Aus­wirkungen des Klimawandels. Gerrit Kurtz zeigt, dass der sudanesische VNR 2022 dazu diente, entsprechende Bedarfe zu kommunizieren – nämlich Schuldenerlass und internationale Finanzhilfen (die nach dem Militärputsch im Oktober 2021 ausgesetzt worden waren). Ebenso betont der Bericht die angebliche Popularität des demokratisch nicht legitimierten Regimes. Ignoriert wird gleichzeitig die Hauptursache für mangelnde Fortschritte, nämlich die lang­jährige Dominanz des Sicherheitssektors in der sudanesischen Politik und Wirtschaft.

Ägyptens SDG-Architektur erscheint auf den ersten Blick eindrucksvoll. Stephan Roll zeigt jedoch, dass die Ziele nachhaltiger Entwicklung als Deckmantel ge­nutzt wur­den, um systematisch das Mili­tär zu be­günstigen – das Rückgrat der Herr­schaft von Präsident Abdel Fattah El-Sisi. Grundsätzliche Kritik gibt es am Kernelement von Sisis Entwicklungsansatz, nämlich Mega­projekten wie der Errichtung einer neuen Hauptstadt. Im März 2022 musste Ägypten zum vierten Mal in Folge den Internationalen Währungsfonds um Unterstützung bit­ten, um einen drohenden Zahlungsausfall zu vermeiden. Die kostspieligen Bauvorhaben haben wesentlich dazu beigetragen, diese Anfälligkeit zu verschärfen. Die Ab­wertung der ägyptischen Währung im Zuge der Schuldenkrise und der starke Anstieg der Inflation dürften die Situation der Be­völkerung drastisch verschlechtert haben.

Vertreter Palästinas haben zu Recht auf die fehlende Souveränität des Landes, die Beschränkungen durch Israels Besatzungsregime und die Blockade des Gazastreifens als Hindernisse für Fortschritte bei den SDGs hingewiesen. Wie Muriel Asseburg argumentiert, haben dazu auch die inner­palästinensische Spaltung und die sich ver­schlechternde Regierungsführung beige­tragen, ebenso der Trend zur Kürzung der Gebermittel und der Transfers durch die israelische Regierung. Sie stellt fest, dass alle Beteiligten größtenteils eigennützige Ziele verfolgen (etwa Machterhalt oder die Bewahrung des politischen Status quo), denen gegenüber die entwicklungspolitische Agenda in den Hintergrund tritt. Da die Hindernisse für eine nachhaltige Ent­wicklung in Palästina vor allem politischer Natur sind, müssen auch die Antworten politisch sein.

Südafrika engagierte sich in den vergangenen Jahren nach wie vor stark für den SDG-Prozess – zum Teil, weil die Ziele mit den Versprechen des regierenden African National Congress (ANC) übereinstimmen. Melanie Müller stellt jedoch fest, dass zwi­schen diesen Versprechen und ihrer Umset­zung eine große Lücke klafft, die größtenteils auf Versäumnisse in der Regierungsführung zurückzuführen ist. Wie die Auto­rin aufzeigt, leiden Schlüsselsektoren unter korrupten Praktiken bei der Ausschreibung großer Infrastrukturprojekte. Gleichzeitig veranschaulicht der südafrikanische Fall, dass externe Schocks wie die Pandemie und das weltweite Unvermögen, sie gerecht zu bekämpfen, weiter nachwirken – aktuell noch verstärkt durch die wirtschaftlichen Folgen von Russlands Krieg gegen die Ukraine.

In Russland vertiefte sich die Kluft zwischen der erklärten offiziellen Unterstützung für die SDGs und ihrer tatsächlichen Umsetzung schon stetig, bevor die groß­angelegte Invasion in der Ukraine begann. Sabine Fischer sieht im heutigen Russland, einer Diktatur mit totalitären Tendenzen, keine Perspektiven für eine Trendumkehr. Die in der 2030-Agenda formulierten Ziele und Visionen stehen in unauflösbarem Widerspruch zu den Funktionsprinzipien des Regimes und seinem Krieg gegen das Nachbarland. Gestützt wird diese Analyse durch die Schattenberichte für 2020 und 2022, welche die unabhängige zivilgesellschaftliche Koalition für die nachhaltige Entwicklung Russlands vorgelegt hat.

Andere Länderbeispiele lassen erkennen, wie sich (2) Regierungs- und Ideologiewechsel ausgewirkt haben. Astrid Sahm zeigt, dass sich die politische Situation in Belarus zwi­schen den VNR 2017 und 2022 grundlegend verändert hat. Gab es anfangs noch ein hohes Maß an Aktivität zugunsten der SDGs und die Hoffnung, sie könnten als poten­tieller Motor für Reformen dienen, so ende­te dies nach Niederschlagung der Protestwelle, die das Land im Anschluss an die Wahlen 2020 erfasst hatte. Unabhängige zivil­gesellschaftliche Akteure wurden von den Mechanismen der nationalen Nachhaltigkeitsarchitektur ausgeschlossen, was diese formell inklusiven Institutionen entkernte, die nun einem staatszentrierten Ansatz fol­gen. Belarus nutzte den zweiten VNR vor allem, um Sanktionen zu kritisieren – während die Opposition Defizite im Zusam­menhang mit SDG 16 (»Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen«) hervorhebt.

Regierungswechsel und politische Veränderungen haben sich stark auf Brasiliens Engagement für die SDGs ausgewirkt. Clau­dia Zilla zeigt, wie sich die Regierung Jair Bolsonaros von der internationalen Agenda für nachhaltige Entwicklung löste (die die Vorgängerregierungen mitgestaltet hatten). Nationale Governance-Strukturen wurden abgebaut, Politiken und Maßnahmen ge­stoppt, Budgets gestrichen, die Beteiligung der Zivilgesellschaft und der öffentliche Zugang zu Informationen eingeschränkt. Die Aussichten für eine künftige Umsetzung der SDGs sind im Lichte der Prioritäten zu bewerten, denen der jetzige Präsi­dent Lula folgt. Er hat versprochen, im Inneren die Sozialpolitik zu fördern und entsprechende Geldtransfers zu erhöhen. Außenpolitisch will er Brasilien als eine Macht für Umwelt und Nahrungsmittel­produktion positionieren.

Kurz bevor 2015 die SDGs verabschiedet wurden, hatte in Indien die Bharatiya Janata Party (BJP) von Narendra Modi einen Erd­rutschsieg errungen. Im Wahlkampf warb Modi sowohl für Entwicklungsthemen als auch für seine Vision eines neuen Indien, mit Fokus auf den Interessen der hinduistischen Mehrheit, wie Christian Wagner er­klärt. Die aus den SDGs abgeleiteten Wohl­fahrtsprogramme sind ein zentraler Bau­stein für die hindu-nationalistische Agenda der BJP. Es gibt zugleich einige Fälle, in denen SDGs innenpolitische Kontroversen tangieren. So betrifft die Vorgabe, eine legale Identität bereitzustellen (SDG 16.9), einen Kernbereich im Streit über ein natio­nales Bürgerregister und das neue Staatsbürgerschaftsrecht Indiens. Ein zweites Beispiel ist der Zwist um zentral geförderte Wohlfahrtsprogramme. Die BJP-Regierung will damit ihren politischen Einfluss auch in jenen Bundesstaaten ausweiten, die von der Opposition geführt werden.

Kenia hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2030 den Status eines Landes mit mittlerem Ein­kommen zu erreichen. Um dies zu schaf­fen, muss Nairobi bei Umsetzung der natio­nalen SDG-Agenda substantielle Fortschritte machen. Karoline Eickhoff und Marcel Meyer zeigen, wie die Ziele nachhaltiger Entwicklung unter Präsident Uhuru Kenyat­ta in Regierungsprogramme eingeflossen sind. Obwohl Kenia ein beträchtliches Wirt­schaftspotential hat, sind die öffentlichen Ausgaben für nachhaltige Entwicklung nicht allzu wirksam oder inklusiv. Dies hat mehrere Gründe: eine Vorliebe für große Infrastrukturprojekte mit fragwürdiger Ren­tabilität, die zunehmende Kreditaufnahme bei diversen Gläubigern, darunter China, sowie die Anreiz- und Gelegenheitsstrukturen im öffentlichen Beschaffungswesen, die das Rent-Seeking politischer und wirtschaftlicher Eliten ermöglicht haben. Die derzei­tige Regierung unter Präsident William Ruto verfolgt einen neuen ökonomischen Ansatz – der sich noch beweisen muss.

Zwei Beiträge veranschaulichen, wie (3) die SDGs von Regierungen genutzt wer­den, die im Bereich nachhaltiger Entwicklung eine globale Führungsrolle anstreben. Chinas VNR-Bericht 2021 ist ein gutes Beispiel. Wie Nadine Godehardt darlegt, enthält er viele offizielle Begriffe, die als »tifa« bekannt sind. Diese »Schlagworte« sind entscheidend für das Verständnis von Pekings Politik, denn sie kennzeichnen das Ziel, ein globa­les chinesisches Diskurssystem zu etablieren. China sieht die Debatte über die SDGs als Chance, die Bedeutung dessen, was unter Entwicklung verstanden wird, inter­national zu prägen. Dahinter steht der Wille, ein strategisches Narrativ für einen von China geführten Club zu etablieren, der globale Entwicklungsprojekte gemäß »chinesischen Lösungen« fördert und zu­gleich Teile der 2030-Agenda mit den eige­nen Zielen in Einklang bringt. Dieses »stra­tegische Andocken« bewertet die Autorin als Folge einer sich verändernden Logik in der chinesischen Außenpolitik unter Xi Jinping.

Die Regierung der Republik Korea (Südkorea) teilt den gesellschaftlichen Konsens über die hohe Bedeutung der SDG-Umset­zung, der im Land über ideologische und parteipolitische Grenzen hinweg besteht. Eric Ballbach erläutert, wie Seoul eine Reihe von Strategien, Maßnahmen und Initiativen entwickelt hat, um die Ziele direkt und in­direkt in seine Innen- und Außenpolitik sowie in seinen Ansatz der internationalen Entwicklungszusammen­arbeit zu integrieren. Wie der Autor fest­stellt, nutzt Süd­korea die SDGs, um seine Glaubwürdigkeit als Nachhaltigkeitschampion zu fördern, will die Regierung das Land doch zu einem führenden Exporteur im Bereich grüner Forschung und Technologie machen.

Politische Prioritäten

So unterschiedlich die Befunde für die untersuchten Länder sind, wird doch deut­lich, dass alle Regierungen bei der Umsetzung der SDGs den Schwerpunkt auf ihre (oft schon bestehenden) politischen Prioritäten legen. Dabei nutzen sie die Ziele nachhaltiger Entwicklung, um die Legitimität ihrer Politik nach innen und außen zu stärken. In einigen Fällen ist der eigene VNR auch für Status und Anerkennung auf interna­tionaler Ebene relevant, wie im Fall des »Staates Palästina« als Nichtmitglied mit Be­obachterstatus bei den Vereinten Nationen.

In den meisten Ländern der Stichprobe ist bei der Umsetzung ein klarer Elitenfokus zu erkennen, während die Bedürfnisse von Randgruppen weniger Aufmerksamkeit erfahren. Darunter leidet das Versprechen der 2030-Agenda, »niemanden zurückzulassen«. Einige Politiker legen besonderen Wert auf große Infrastrukturprojekte, sei es als politisches Vermächtnis oder um in klientelistischer Manier die wirtschaftlichen Interessen einzelner Akteure zu fördern. Unterstützt wird die staatlich gelenkte Infrastrukturentwicklung durch China, das im Rahmen seiner Neue-Seidenstraße- und Global-Development-Initiativen als Geber und Investor auftritt. Das verändert auch die Geopolitik der (nachhaltigen) Entwicklung. Einiges davon ist gut für die Umsetzung der SDGs, so der Zugang zu Finanzmitteln oder die Süd-Süd-Kooperation. Anderes ist problematisch, darunter ein exklusiver Fokus auf Infrastruktur, eine steigende Verschuldung oder die Stützung korrupter Systeme und Eliten.

Generell wird die Berichterstattung zu den SDGs gerne dafür genutzt, Gebern eigene Bedürfnisse und Interessen zu signalisieren, wo­runter etwa der Zugang zu finanzieller Unterstützung oder Schuldenerlass fallen. Dies gilt insbesondere für die am wenigsten entwickelten oder hochverschul­dete Län­der. Geber und Investoren sollten sicher­stellen, dass ihr Beitrag zur Umsetzung der SDGs nicht korrupte und ausbeu­terische Systeme politischer oder militärischer Art stärkt, die in erster Linie Eigen­interessen folgen. Ein Verweis auf den inte­grierten SDG-Rahmen könnte dazu die­nen, Rosinen­pickerei zu kritisieren und an die Relevanz armutsorientierter, rechte­basier­ter Ansätze zu erinnern. Über Hilfe hinaus sollten Geberorganisationen und andere Akteure innovative Hebel und An­reize für eine Transformation in Rich­tung nachhaltiger Entwicklung erkunden. Dies gilt vor allem für die Zusammenarbeit mit Ländern mitt­leren Einkommens und BRICS-Staaten. In­vestitionen und andere transformative Maß­nahmen für die SDGs müssen von einem attraktiven, kohä­renten und über­zeugen­den Narrativ be­gleitet wer­den, um gegen­sei­tiges Verständnis und Vertrauen zu schaffen.

Dabei sind Fragen wirtschaftlicher Ent­wicklung und politischer Steuerung oft so eng verwoben, dass es grundle­gender Verände­rungen im politischen Be­reich (Ende der militä­rischen Vorherrschaft im Sudan, Ende der Besatzung in Palästina) be­dürfte, um eine transformative nach­haltige Entwicklung voranzutreiben. Gewis­se Fortschritte bei den SDGs sind innerhalb des bestehenden Systems mög­lich (siehe auch Ägypten, Bela­rus und Russ­land), aber nur in begrenz­tem Umfang und auf die Ge­fahr, dass re­pressive und aus­beuteri­sche Systeme, die die Mehr­heit der Bevölke­rung unterdrücken oder in Armut halten, weiter verfestigt werden.

Wie erörtert, können Regierungswechsel zu relevanten Einschnitten bei der Umsetzung der SDGs führen (Brasilien, Südafrika), doch manchmal zeigt sich da­bei auch eine er­staun­liche Kon­tinuität (Südkorea). Teils gibt es Ver­ände­rungen, wenn eine Führung an der Macht bleibt, sich aber die Umstände wan­deln (Belarus, Russland). Neue Regie­rungskoalitionen müssen oft neue Kompro­misse finden. In föderalen Syste­men kann die Zentralregierung den Prozess loka­ler und regionaler SDG-Umset­zung nutzen, um die politische Entscheidungsfindung auf Ebene der Bundesstaaten zu beeinflussen (Indien); manch­mal gibt es auch Widerstand gegen die Bestrebungen der Zentralregierung (Indien und Brasilien).

Während die SDG-Architektur auf nationaler Ebene oft beeindruckend scheint, ist ihre politische Relevanz tendenziell eher gering. Und selbst neue nationale Institu­tionen, die eigens zur Umsetzung der SDGs geschaffen wurden, neigen dazu, bestehende Strukturen und Prioritäten zu reproduzieren, wie in anderen Studien festgestellt wurde. Doch schaffen solche Institutionen auch Räume, um die Zivilgesellschaft zu betei­ligen – selbst wenn dies oft nur selektiv und staatlich kontrolliert erfolgt. Je auto­kratischer das politische System ist, desto eher übernehmen NGOs und Thinktanks die Führung, die dem Regime nahestehen oder von ihm gegründet wurden, wie sich in China, Russland und Belarus beobachten lässt. In Russland hat sich mit dem Über­gang zur Diktatur der Raum für unabhängige und kritische Gruppen vollständig ge­schlossen. Aber sogar in solchen Fällen kön­nen die SDGs ein Bezugspunkt für zivil­gesellschaftliche Akteure bleiben, sei es im Land selbst oder im Exil.

Wie Analysen zeigen, tauchen die SDGs inzwischen häufiger in politischen Reden und Dokumenten auf. Gleichzeitig heißt es, ihr Mehrwert für konkrete Entscheidungen bleibe unklar. Es sei nicht ersichtlich, dass sie wesentlich dazu beigetragen hätten, Politiken und Maßnahmen transformativer, integrierter und kohärenter, inklusiver und partizipativer zu gestalten, sie auf einen systemischen Wandel auszurichten und dabei niemanden zurückzulassen. Das SWP Research Paper bestätigt eine erhebliche Kluft zwischen Reden und (transformativem) Handeln. Gleichzeitig ist Reden eine Form des Handelns, sogar der Interaktion, und die Politik nutzt Narrative, um ihr Handeln zu erklären – auch Veränderungen in Narrativen sind also relevante Effekte.

Dass Ziele nicht erreicht werden, erklären Regierungen in vielen Berichten mit (zweifellos relevanten) externen Faktoren. Beispiele dafür sind die Auswirkungen der Pandemie, die Krise der Lebens­haltungs­kosten infolge des Ukraine-Krieges, Sanktio­nen, die Schuldenkrise, fehlender fiskalischer Spiel­raum oder mangelnder Zugang zu Techno­logien. All dies verweist durchaus auf Ver­säumnisse des interna­tionalen Regierens oder bilatera­ler Geber-Agenden. Doch auch wenn die Her­aus­for­derungen erheblich sind, sollten die Regie­rungen sie nicht miss­brauchen, um von ihrer eigenen Verantwortung abzulenken.

Globale »Politics«

Im Vorfeld des SDG-Gipfels sollten die zu­ständigen UN-Akteure, die Staats- und Regierungschefs und alle anderen Beteiligten jenen politischen Prioritäten mehr Auf­merksamkeit schenken, die es auf Länderebene rund um die Ziele nachhaltiger Ent­wicklung gibt. Diplomaten mögen sich un­gern in nationale Politik einmischen, soll­ten sich aber zumindest bewusst sein, wie innen­politische Verhältnisse die Verhandlungen auf UN-Ebene beeinflussen. Die loka­len Interessen und Prioritäten der poli­tischen Akteure und deren jeweilige Sicht­weisen auf die SDGs gilt es auch des­halb zu analysieren, damit sich Optionen ermitteln lassen, wie die Umsetzung der Ziele künftig wirksamer unterstützt werden könnte.

Die Politische Erklärung

Aufgabe des Gipfels ist es, »politische Füh­rung, Orientierung und Empfehlungen« für die weitere Umsetzung der SDGs zu geben. Das Hauptinstrument dafür ist eine Politi­sche Erklärung, die von den Vertretungen der UN-Mitgliedstaaten im Vorfeld ausge­handelt wird. Auch hier ist viel Politik im Spiel, bevor die Leitungen der nationalen Delegationen das Dokument auf dem Gipfel formell annehmen. Dieses Jahr ist es nicht gelungen, die Erklärung noch vor dem HLPF im Juli fertig zu verhandeln. Konflikte zur Entwicklungsfinanzierung und zur Re­form der internationalen Finanzarchitektur konnten die beiden Ko-Verhandlungs­füh­rer, der Ständige Vertreter Irlands und die Stän­dige Vertreterin Katars, mittlerweile lösen. Obwohl einige Länder weiter eine ex­plizi­tere Verurteilung unilateraler Sank­tio­nen fordern, soll der nun vorliegende Ent­wurf beim Gipfel offiziell verabschiedet werden.

Positiv ist, dass der Text Anknüpfungspunkte bietet, um nationale Interessen und Hürden künftig besser zu berücksichtigen. Im dritten Teil der Erklärung, dem »Call to Action«, fordern die Regierungen sich selbst auf, nationale Pläne für transformative und be­schleunigte Maßnahmen zu entwickeln, zu­sammen mit Planungs- und Überwachungs­mechanismen (Absatz 38s). Diese Idee stammt aus dem GSDR 2023, der den Mit­gliedstaaten empfiehlt, derartige Pläne zu erarbeiten und diese möglichst schon beim HLPF im Juli 2024 vorzulegen.

Die vorgestellten Analysen legen nahe, die Umsetzung dieser Selbstverpflichtung zu unterstützen und nachzuhalten. Ein transformativer Wandel ist unwahrscheinlich, wenn die Regierungen nicht ermuntert wie auch befähigt wer­den, ihre bisherigen Umsetzungsstrategien kritisch zu über­prüfen und grundlegend zu überarbeiten.

UN-Reformen 2024 als weiteres Gelegenheitsfenster

2024 stehen mehrere UN-Prozesse an, die genutzt werden könnten, um die Empfehlungen der Politischen Erklärung umzu­setzen. Zum einen erfolgt Anfang des Jahres die zweite Überprüfung des Formats und der organisatorischen Aspekte des HLPF. Für die VNRs empfiehlt der Generalsekretär im SDG-Bericht eine »Verlagerung der Auf­merk­samkeit von der Berichterstattung über nationale Maßnahmen an ein inter­nationa­les Publikum hin zur Stärkung der natio­nalen Rechenschaftspflicht für Fort­schritt und Wandel«. Sinnvoll seien dafür »eine systematische Einbeziehung der SDG-Um­setzungsbemühungen in die nationalen Aufsichtssysteme, mehr unabhängige Be­wertungen der nationalen Umsetzung und eine stärkere Einbeziehung von Wissenschaftlern in die Überwachung und Über­prüfung«. Zudem könnte für künftige VNRs der Auftrag ergehen, die geplanten natio­nalen Pläne für transformative und be­schleunigte Maßnahmen mit Blick auf den nächs­ten Vierjahreszyklus der jährlichen HLPF-Treffen zu überprüfen. Das würde zumindest die Transparenz erhöhen.

Zum anderen steht im September 2024 der UN-Zukunftsgipfel an. Er bietet den Mit­gliedstaaten die Möglichkeit, sich auf einen multilateralen Rahmen zu einigen, der nationale Bemühungen für eine beschleunigte und transformative SDG-Umsetzung besser unterstützt und entsprechende An­reize für politische Entscheidungsträger und ihre Wählerschaft bietet.

Der UN-Generalsekretär hat immer wie­der auf die Verbindungen zwischen den beiden Gipfeln hingewiesen und in seinem SDG-Fortschrittsbericht eine Reihe von drin­genden Maßnahmen auf nationaler und inter­nationaler Ebene skizziert. Die Regierungen fordert er auf, ihre nationalen und sub­nationalen Kapazitäten, ihre öffentlichen Institutionen und ihre Rechenschaftspflicht zu stärken, damit die SDG-Umsetzung schneller vorankommt. An die internationale Gemeinschaft richtet Guterres einen doppelten Appell. Erstens geht es darum, die Aktionsagenda von Addis Abeba umzu­setzen und die Ressourcen und Investitionen zu mobilisieren, die die Entwicklungsländer benötigen, um die SDGs zu erreichen. Erwünscht ist zweitens, das UN-Ent­wicklungssystem zu stärken und die Kapa­zitäten des UN-Systems insgesamt zu erhö­hen, damit sich Lücken und Schwächen in der internationalen Architektur beheben und neue Herausforderungen bewältigen lassen. Für Letzteres verweist der Generalsekretär eigens auf den Zukunfts­gipfel 2024.

Priorisierung und Beschleunigung

Die beiden Gipfeltreffen bieten eine Gele­genheit, den »politischen Willen« in den Mittelpunkt zu stellen und integrierte Aktionspläne zu vereinbaren, die die Um­setzung der SDGs entscheidend beschleunigen. Ein sinnvolles Gesamtpaket müsste sowohl internationale Faktoren berücksichtigen, die für Erfolge und Misserfolge der SDGs relevant sind, als auch Anreize, die auf Länderebene den politischen Willen zu einem Kurswechsel befördern.

Der deutsche Beitrag

Im jüngst verabschiedeten Transformations­bericht »Internationale Verantwortung und Zusammenarbeit« verspricht die Bundes­regierung, aktiv dazu beizutragen, dass die Staatengemeinschaft beim SDG-Gipfel »ein starkes politisches Signal zur Agenda 2030 und ihrer beschleunigten Umsetzung setzt«. Idealerweise solle bereits nächstes Jahr ein globales Transformationsrahmenwerk zur rascheren Umsetzung der Agenda verabschiedet werden. Voraussetzung dafür seien nationale Aktionspläne, die die Mitglied­staaten bis zum HLPF 2024 vorlegen sollen.

In der Tat kommt es auf das Zusammenspiel nationaler und globaler Verpflichtungen an. Auf nationaler Ebene kann der anlaufende Prozess zur Weiterentwicklung der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie die Basis dafür bilden, dass die Bundesregierung im Juli 2024 ein starkes Signal abgibt. Dafür kann sie die Berichte der sieben Transformationsteams nutzen und zeigen, wie sie dort nachlegt, wo Ziele verfehlt wer­den, also vor allem bei den sogenannten »Off-track-Indikatoren«.

Auf internationaler Ebene wäre es ange­sichts der geopolitischen Spannungen wich­tig, die 2030-Agenda als Mittel zu nutzen, um multilaterale Kooperation zu festigen. Das 50-jährige Jubiläum der deutschen UN-Mitgliedschaft, das im September ansteht, ist dafür eine Chance. Um eine hohe Signal­wirkung zu erzielen, wäre es sinnvoll, als »Team Deutschland« aufzutreten und natio­nale Selbstverpflichtungen stimmig mit internationalen Beiträgen zu verbinden, vor allem zu den strittigen Finanzierungs- und Governance-Fragen, die für SDG- und Zu­kunftsgipfel relevant sind. Dies könnte dann auch bei anderen Regierungen das Ver­trauen und den politischen Willen stärken.

Dr. Marianne Beisheim ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Globale Fragen. Dieses SWP-Aktuell baut auf dem SWP Research Paper 7 (Juli 2023) auf, in dem Muriel Asseburg, Eric J. Ballbach, Marianne Beisheim, Karoline Eickhoff, Sabine Fischer, Nadine Godehardt, Gerrit Kurtz, Marcel Meyer, Melanie Müller, Stephan Roll, Astrid Sahm, Christian Wagner und Claudia Zilla politische Prioritäten bei der Umsetzung der SDGs in elf Ländern analysieren und diskutieren.

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