Direkt zum Seiteninhalt springen

Russlands Raketen und die European Sky Shield Initiative

Die deutschen Pläne zur Luftverteidigung im Kontext der Bedrohungslage

SWP-Aktuell 2023/A 40, 27.06.2023, 8 Seiten

doi:10.18449/2023A40

Forschungsgebiete

Mit der European Sky Shield Initiative (ESSI) will Deutschland die europäische Luft­verteidigung und Raketenabwehr insbesondere gegen russische Flugkörper stärken. Zwar dürfte Moskau kurz- bis mittelfristig weder Anreize noch genügend militärische Mittel haben, um die Nato mit Langstreckenwaffen anzugreifen. Doch wenn Luft­verteidigung und Raketenabwehr in Europa verbessert werden, lässt sich damit auch Russ­lands Fähigkeit reduzieren, die Nato-Staaten politisch zu erpressen. Das wiede­rum würde dem Zusammenhalt der Allianz dienen. Um dieses Ziel zu erreichen und das Potential der Initiative voll auszuschöpfen, müssen jedoch Fragen auf strategi­scher, technisch-operativer und politischer Ebene geklärt werden. Sonst könnte ESSI eher dazu beitragen, die Nato politisch und technisch zu fragmentieren.

In seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine setzt Russland eine große Zahl an unbe­mannten Systemen, Marschflugkörpern und ballistischen Raketen ein. Dies hat die Bedrohungswahrnehmung in Deutschland und anderen europäischen Staaten ge­schärft, was Moskaus vielfältige Lang­stre­ckenwaffen angeht. Dabei gerät oft aus dem Blick, in welche Strategie und welchen geo­politischen Kontext das heutige Arsenal Russlands eingebettet ist. Dies hat jedoch wichtige Implikationen für die Art der Be­drohung, die von Russland für die Nato ausgeht – und damit auch für die euro­päische Luftverteidigung und Raketen­abwehr.

Die Strategie hinter Russlands Langstreckenwaffen

Bereits seit einigen Jahrzehnten arbeitet Russland daran, seinen Bestand an präzisen konventionellen bzw. zumeist konventio­nell-nuklearen (dual-capable) Langstrecken­waffen auszubauen. Mit diesem Begriff sind hier jene Fähigkeiten gemeint, die Ziele in operativer und strategischer Tiefe treffen können, das heißt insbesondere ballistische Raketen und Marschflugkörper kurzer, aber auch mittlerer und längerer Reichweite (keine Interkontinentalraketen). Lange waren Russlands entsprechende Ambitio­nen insbesondere von seiner Sorge vor den überlegenen Präzisionswaffen und Luft­kriegsfähigkeiten der Nato getrieben. So befürchteten russische Militärs, dass die westliche Allianz in der Frühphase eines Konflikts ihre präzisen konventionellen Langstreckenwaffen ausspielen und durch einen massiven Angriff das militärische Potential Russlands ausschalten könnte. Als Reaktion darauf hätte Moskau nur die Möglichkeit, Kernwaffen einzusetzen. Da dies jedoch mit massiven Eskalationsrisiken verbunden wäre, zweifelten russische Militäreliten an der Glaubwürdigkeit einer solchen Strategie und damit am eigenen Abschreckungsvermögen gegenüber der Nato. Dieses Dilemma wurde schon in der Sowjetunion der 1980er Jahre diskutiert, doch erst die wirtschaftliche Erholung Russ­lands nach der Jahrtausendwende erlaubte es Moskau, als Teil des größeren militäri­schen Modernisierungsprogramms ein diverses Arsenal an »dual-capable«-Lang­streckenfähigkeiten aufzubauen. So verfügt Russland heute über luft-, see- und land­gestützte Marschflugkörper sowie ballisti­sche Raketen unterschiedlicher Reich­weiten. Sie sollen es Moskau ermöglichen, Ziele in ganz Europa zu bedrohen, ohne unmittelbar nuklear zu eskalieren.

Zwar ist wenig über Russlands Ziel­planung gegenüber der Nato bekannt, doch legen Debatten militärischer Eliten etwa in der offiziellen Zeitschrift des russischen Generalstabs nahe, dass Moskau einen mög­lichen Konflikt mit dem Bündnis heute in drei Phasen unterteilt. In der ersten Phase (»counterforce«) würde Russland versuchen, militärische Ziele der Nato wie Luftwaffen­basen, Kommandozentralen oder wichtige Häfen zu zerstören oder zu schwächen, um die Allianz militärisch einzuschränken und insbesondere ihr gefürchtetes Luftkriegs­potential zu verringern. In einer zweiten Phase (»countervalue«) würde sich Moskau auf Ziele von militärisch-ökonomischem Wert oder solche der kritischen Infrastruk­tur konzentrieren. Sollte Russland es nicht schaffen, den Konflikt mit nichtnuklearen Fähigkeiten zu seinen Gunsten zu beenden, könnte es dann in der dritten Phase zu einem Übergang vom Einsatz konventionel­ler Fähigkeiten zu dem nuklearer Waffen kommen.

Quantitative und qualitative Herausforderungen

Auch wenn Russland seine nichtnuklearen Präzisionswaffen massiv ausgebaut hat und ihnen heute eine größere Rolle in der offi­ziellen Abschreckungsdoktrin zuschreibt, dürfte sein oben skizziertes Eskalations­dilemma nicht gänzlich gelöst sein. Insbe­sondere steht Moskau wohl immer noch vor einem quantitativen Problem. Schon vor dem Krieg gegen die Ukraine besaß das Land offenbar zu wenige nichtnukleare Raketen und Marschflugkörper, um die Nato in einem Konflikt militärisch derart schwächen zu können, dass Russland die Chance hätte, diesen schnell zu seinen Gunsten zu beenden. Das aus Moskaus Sicht missliche Verhältnis zwischen einer hohen Zahl an militärischen Zielen in Europa und den begrenzten eigenen Fähig­keiten dürfte Russland im Ernstfall relativ schnell dazu zwingen, zur zweiten Phase überzugehen und auch zivile Ziele anzu­greifen. Absicht wäre dabei, den politischen Kampfeswillen in den Hauptstädten der Nato-Mitglieder zu untergraben. Dessen ungeachtet deuten Diskussionen in Militär­journals an, dass russische Strategen bereits vor dem Ukraine-Krieg an der Kapazität ihrer Streitkräfte zweifelten, einen konven­tionellen Konflikt gegen die Allianz länger durchzuhalten. Also müsste Russland ent­weder aufgeben oder zu einer nuklearen Eskalation übergehen. Daraus folgt, dass die Aussichten, in einem Krieg gegen das west­liche Bündnis die Oberhand zu behalten, relativ schlecht wären, was wiederum zur Begrenzung von Moskaus politischen Zielen beitragen dürfte.

Der Krieg gegen die Ukraine verschärft dieses quantitative Problem. Russland war bislang nicht in der Lage, die ukrainische Flugabwehr zu zerstören oder signifikant zu schwächen, und setzt auch deswegen seine Luftstreitkräfte eher risikoavers ein. Aus diesem Grund haben nichtnukleare Langstreckenwaffen besondere Bedeutung für die militärische Operation des Landes erlangt. Darunter dürfte Russlands Arsenal massiv gelitten haben, auch wenn es an exakten Daten über die Zahl seiner Präzi­sionswaffen vor der Invasion oder entspre­chende Verbrauchs- und Nachproduktions­raten fehlt.

Darüber hinaus ist durch den Ukraine-Krieg aber auch ein qualitatives Problem sichtbar geworden. So hatte Russland bisher große Schwierigkeiten mit dynamic targeting, also dem Einspeisen neuer bzw. später er­fasster Ziele in den Ziel- und Bekämpfungs­prozess. Eine Folge war, dass es nicht ge­lang, die ukrainische Luftwaffe durch Be­schuss ihrer Basen außer Gefecht zu setzen. Stattdessen konnte die Ukraine ihre Flug­zeuge und ihr Material oftmals geschickt verteilen und »verstecken«. Dieser Befund legt nahe, dass Russlands Kapazität, das Militärpotential der Nato – vor allem deren Luftkriegsfähig­keiten – in einem etwaigen Konflikt sub­stantiell zu schwä­chen, noch beschränkter wäre.

Angesichts der Herausforderungen auf quantitativer wie qualitativer Ebene wird es höchstwahrscheinlich Priorität für Russland haben, den eigenen Bestand an Raketen und Marschflugkörpern wiederherzustel­len. Erschwert werden dürfte dies durch die Auswirkungen der westlichen Sanktionen auf die russische Wirtschaft. Sie betreffen etwa den Zugang zu Elektronikkomponen­ten, die das Land für seine Flugkörper benö­tigt. Unterschiedliche Indikatoren deuten allerdings darauf hin, dass Russland – solange es den Einsatz von Langstrecken­waffen nicht signifikant erhöht – mittel­fristig imstande sein wird, sein Arsenal abermals aufzufüllen. Erstens hat Moskau bereits in der Vergangenheit oftmals seine Verteidigungsinvestitionen trotz wirtschaft­licher Probleme priorisiert. Zweitens kann das Land die sanktionsbedingten Hürden beim Technologiezugang auf verschiedene Weise umgehen, sei es durch Importe aus China, Schmuggelnetzwerke oder gefälschte Endverbleibserklärungen.

So läuft die militärische Nachproduktion bereits jetzt auf Hochtouren. Von den Kurzstreckenraketen des Typs Iskander-M scheinen derzeit sogar mehr Flugkörper hergestellt als verbraucht zu werden. Auch gibt es Hinweise darauf, dass Russland die Produktion von Kh-101-Marschflugkörpern seit Kriegsbeginn gesteigert hat. Der Effekt der Sanktionen und Russlands militärische Engpässe sollten daher nicht überschätzt werden.

Die Art der Bedrohung für die Nato

Der Zustand von Russlands Langstrecken­fähigkeiten hat unterschiedliche Implika­tionen für die Nato, wobei man zwischen der kurz- und der mittel- bis langfristigen Perspektive unterscheiden muss. Kurzfristig dürfte die Gefahr eines Angriffs auf das Bündnis gering sein. Russlands militärische Fähigkeiten, inklusive seiner Flugkörper, sind zwar ausreichend, um den Krieg in der Ukraine fortzusetzen. So gibt die durch­schnittliche Anzahl von Marschflugkörpern und ballistischen Raketen, die seit Beginn der großangelegten Invasion im Vorjahr pro Monat eingesetzt werden, keine Hinweise darauf, dass Moskau vor unmittelbaren Engpässen steht. Gleichzeitig benötigt das Land die verbliebenen Kapazitäten wohl für seine politisch-militärischen Ziele in der Ukraine. Überdies lässt Russlands Verhalten seit Kriegsbeginn klar erkennen, dass es eine direkte Konfrontation mit der Nato scheut.

Mittel- bis langfristig wird Russland aber wohl imstande sein, seine Fähigkeiten voll­umfänglich wiederherzustellen. Einerseits dürfte Moskau selbst dann noch vor den oben skizzierten Herausforderungen ste­hen. Marschflugkörper und Raketen wür­den also wahrscheinlich nicht ausreichen, um mit der Nato einen längeren konven­tionellen Krieg zu führen. Auch daher könnte Russland vor einem Konflikt mit der Alli­anz weiterhin zurückschrecken. Anderer­seits lässt sich nur extrem schwer prognos­tizieren, wie sich der Krieg in der Ukraine und das russische Regime ent­wickeln werden.

Vor allem aber könnte Moskau seine Fähigkeiten dann als politisches Druckmittel einsetzen. Da die bodengebundene Luft­verteidigung und Raketenabwehr in Europa derzeit sehr mangelhaft ist, wäre Russland möglicherweise geneigt, einzelne konven­tionelle Schläge gegen ein oder mehrere Nato-Länder anzudrohen. Damit könnte es darauf abzielen, westliche Bevölkerungen einzuschüchtern und die Nato politisch zu destabilisieren. Die Bedrohung durch Russ­lands Präzisionswaffen liegt also weniger in der unmittelbaren Gefahr, dass sie gegen die Nato eingesetzt werden. Entscheidend ist vielmehr ihr Erpressungspotential, mit dem Moskau die Kohäsion der Nato unter­minieren und gesellschaftliche wie politi­sche Instabilität säen könnte.

Luftverteidigung als neue Priorität

Nach Ende des Kalten Krieges kam der bodengebundenen Luftverteidigung in Europa lange nur eine untergeordnete Rolle zu. Einen Wandel brachte nicht nur die Annexion der Krim im Jahr 2014, sondern auch, dass Russland den INF-Vertrag über das Verbot landgestützter Mittelstrecken­systeme verletzte. Diese Vorgänge führten bei den Nato-Mitgliedern zu Streitkräfte­anpassungen, die auch eine Stärkung der integrierten Luft- und Raketenabwehr vor­sahen. Dennoch verfügen viele europäische Staaten noch immer über eine Ausrüstung – teils auch sowjetischer Herkunft –, die sowohl qualitativ als auch quantitativ nicht ausreicht, um den vielfältigen russischen Flugkörperfähigkeiten zu begegnen. Diesen Kapazitäten gegenüber dürften heute die allermeisten strategischen Hochwertziele in den europäischen Nato-Staaten ungeschützt sein.

Durch Russlands Invasion in der Ukraine hat sich die Bedrohungswahrnehmung noch einmal signifikant verschärft. Vor diesem Hintergrund startete die deutsche Bundesregierung im Herbst 2022 die Euro­pean Sky Shield Initiative (ESSI), um Luft­verteidigung und Raketenabwehr in Europa zu stärken. Finanziell ermöglicht wird das Vorhaben durch das Sondervermögen Bun­deswehr. Dabei stellt sich die Frage, welche Rolle die Initiative angesichts der heutigen Bedrohungslage spielen kann.

Der strategische Nutzen von Luftverteidigung

Blickt man auf Russlands Fähigkeiten sowie die Geographie und strategische Tiefe des europäischen Nato-Territoriums, so sind zwei Punkte festzuhalten. Zum einen kann es keinen vollständigen Schild gegen russi­sche Flugkörper geben. In der Fachliteratur wird vielmehr argumentiert, dass in Frie­denszeiten bzw. Zeiten erhöhter Spannun­gen das strategische Ziel von Luftverteidi­gung und Raketenabwehr darin besteht, die Abschreckung zu stärken. Erstens erschwe­ren diese defensiven Mittel gegnerische Kalkulationen über den Erfolg eines mög­lichen Angriffs. Zweitens erhöhen sie die Schwelle für eine konventionelle Attacke, weil der Gegner in größerem Maßstab an­greifen müsste. Drittens werden der ande­ren Seite damit Risiken aufgebürdet, denn ein größerer Angriff geht auch mit einer gesteigerten Eskalationsgefahr einher. Kommt es zu einem militärischen Konflikt, so können Luftverteidigung und Raketen­abwehr dabei helfen, militärisch und poli­tisch den eigenen Handlungsspielraum zu bewahren, indem einzelne strategische Hochwertziele wie Stützpunkte, Häfen oder Regierungsinstitutionen geschützt werden. Als Folge dieser Wirkmechanismen lässt sich das Potential gegnerischer Staaten reduzieren, bedrohte Länder politisch zu erpressen. Damit wird zur Kohäsion und politischen Stabilität innerhalb der Nato beigetragen.

Zum anderen gibt es keine »one size fits all«-Lösung zur Abwehr von Russlands diversen Langstreckenwaffen. Stattdessen ist eine integrierte Luftverteidigungs­architektur notwendig, welche interope­rable Aufklärungs-, Führungs- und Wirk­systeme, das heißt Waffensysteme, über unterschied­liche Dimensionen (Land, See, Luft, Cyber- und Weltraum) hinweg mit­einander ver­knüpft. Diese Systeme werden so aufeinan­der abgestimmt, dass sich idea­lerweise gegenseitig überlappende »Schich­ten« für die Aufklärung und Be­kämpfung ergeben.

ESSI als gemeinsame Beschaffungsinitiative

An einem solchen mehrschichtigen Prinzip orientiert sich ESSI, wobei der Fokus vor allem auf bodengebundener Luftverteidi­gung liegt. So ist das Ziel der von Berlin lancierten Initiative, gemeinsam mit ande­ren europäischen Verbündeten Systeme für unterschiedliche Abfangschichten zu be­schaffen und dadurch ökonomische Skalen­effekte, aber auch militärische Synergie­effekte zu erreichen. Wichtig ist, dass damit keine neue Architektur entstehen soll. Viel­mehr handelt es sich bei ESSI um eine reine Beschaffungsinitiative. Es geht darum, so schnell wie möglich neue marktverfügbare Luftverteidigungssysteme zu erwerben oder bestehende qualitativ zu steigern – unter der Maßgabe, so die integrierte Luftverteidi­gung und Raketenabwehr der Nato (Nato Integrated Air and Missile Defence, IAMD) zu stärken. Bisher haben sich 16 Staaten dem deutschen Vorstoß angeschlossen, um die fünf weitere Staaten haben Interesse bekundet.

Die Bundesregierung hat dabei Systeme für vier Abfangschichten identifiziert. Für besonders kurze Reichweiten soll die Bundeswehr das Luftverteidigungssystem Nah- und Nächstbereichsschutz (LVS NNbS) beschaffen. Es besteht aus einem Träger­fahrzeug, das mit eigenem Aufklärungs­radar sowie unterschiedlichen Wirkmitteln – Kanone und Flugkörper – ausgestattet werden soll. Zweck des Systems ist, Land­operationen unter anderem vor Hubschrau­bern und unbemannten Flugsystemen zu schützen. Hierfür war bisher das System Ozelot im Einsatz, das quantitativ und qualitativ nicht mehr ausreicht.

Für kurze bis mittlere Reichweiten wird das System Iris-T SLM (Infra Red Imaging System Tail Surface Launched Medium Range) erworben. Dieses soll unter anderem gegen unbemannte Systeme, Hubschrauber und Flugzeuge, aber auch gegen Marsch­flugkörper eingesetzt werden.

Geht es um große Reichweiten, setzt man auf das in einigen europäischen Streit­kräf­ten – unter anderem der Bundeswehr – schon im Einsatz befindliche US-System Patriot (Phased Array Tracking Radar for Intercept on Target). Hier will die Bundes­wehr primär neue Munition beschaffen und derzeitige Unterbestände wieder auffüllen. Patriot wirkt mit seinen unterschiedlichen Lenkflugkörpern gegen diverse Bedrohun­gen – von großen unbemannten Systemen über Marschflugkörper bis hin zu ballisti­schen Kurzstreckenraketen.

Die drei Systeme für kurze, mittlere und große Reichweiten sollen im Rahmen von ESSI auch Partnern zur Beschaffung an­geboten werden. Über diese Ebenen hinaus hat Berlin allerdings auch eine Fähigkeits­lücke bei besonders großen Reichweiten identifiziert. Daher plant die Bundesregie­rung, zunächst im nationalen Rahmen eine Fähigkeit zur Abwehr weitreichender ballis­tischer Raketen aufzubauen. Später will Berlin dann prüfen, ob und wie man Part­nern einen entsprechenden Einstieg anbie­tet und die Fähigkeit der Nato zur Verfü­gung stellt. Für diese Abfangschicht strebt Deutschland die Beschaffung des Arrow-Systems an, das von Israel zusammen mit den USA entwickelt wurde und bisher nur in Israel eingesetzt wird. Das mobile boden­gestützte System soll mit der Arrow‑3-Rakete ballistische Mittelstreckenraketen außerhalb der Atmosphäre abfangen können.

Stärkung oder Schwächung des Zusammenhalts im Bündnis?

Angesichts knapper Luftverteidigungs­fähigkeiten der Nato ist das Ziel sinnvoll, mehr Systeme zu beschaffen und Partner – insbesondere kleinere Staaten – an wirt­schaftlichen und militärischen Skalen­effekten teilhaben zu lassen. Eine gestärkte europäische Luftverteidigung bietet zwar keinen allumfassenden Schutz vor einem großangelegten russischen Angriff. Doch können entsprechende Fähigkeiten die Abschreckung gegenüber Russland erhö­hen, dessen politisches Erpressungspoten­tial reduzieren und den Zusammenhalt innerhalb der Allianz fördern. Nichtsdesto­trotz gibt es zu ESSI noch offene Fragen auf strategischer, technisch-operativer und poli­tischer Ebene. Sollten sie ungeklärt bleiben, droht die deutsche Initiative eher zur Frag­mentierung in Europa beizutragen als die Kohäsion zu fördern.

Strategische Dimension

Aus strategischer Perspektive stellt sich die Frage, auf welcher Bedrohungsanalyse die Initiative basiert und welche Fähigkeits­priorisierung sie verfolgt. Dies gilt insbe­sondere für das Ziel, das Arrow-System zu beschaffen und in diesem Bereich einen Fähigkeitsaufwuchs herbeizuführen. Arrow soll außerhalb der Atmosphäre ballistische Mittelstreckenraketen bekämpfen. Es ist allerdings fraglich, ob Russland über der­artige Waffen verfügt. Das einzige russische System, das einer ballistischen Mittel­stre­ckenrakete gleicht, ist die Kinschal-Rakete. Sie hat nach russischen Angaben eine Reichweite von etwa 1.500 bis 2.000 Kilo­metern. In der Ukraine hat sich allerdings erwiesen, dass auch Patriot in der Lage ist, Kinschal abzufangen.

Es ist zugleich sehr schwierig, Russlands künftige Entwicklungs- und Beschaffungs­pläne vorherzusagen. So hat das Land ab den späten 2000er Jahren etwa die ballis­ti­sche Rakete RS-26 Rubesch entwickelt, wel­che gegebenenfalls in die Mittelstre­cken­kategorie fiele. Doch hat man ihre Produk­tion vor mehreren Jahren gestoppt, und sie wurde allem Anschein nach nicht in die Streitkräfte eingeführt.

Eine dritte Möglichkeit wäre, Arrow zur Bekämpfung von Raketen des Typs Iskan­der‑M einzusetzen. Seit mehreren Jahren wird darüber spekuliert, dass die Reich­weite dieser offiziell als Kurzstreckenrakete deklarierten Waffe über 500 Kilometer hin­ausgeht. Sollte Iskander-M tatsächlich bis zu 600 Kilometer zurücklegen und damit auch einer höheren Flugbahn folgen, könnte die Rakete in die Abfangschicht von Arrow fallen. Dann wäre dieses System gegenüber Patriot möglicherweise im Vorteil.

Nichtsdestotrotz entspricht die Beschaf­fung von Arrow keinem der Fähigkeitsziele, die im Rahmen des Nato Defense Planning Process (NDPP) für alle Verbündeten fest­gelegt werden. Zwar steht es den Mitglied­staaten frei, auch darüber hinausgehende Fähigkeiten zu erwerben. Doch sollten aus Sicht der Allianz die NDPP-Ziele prioritär behandelt werden. Vor diesem Hintergrund werden die Nato und manche ihrer Mit­gliedstaaten womöglich hinterfragen, warum Deutschland auf Arrow setzt und nicht etwa mehr Patriot-Systeme beschafft, welche russische Kurzstreckenraketen und Marschflugkörper bekämpfen können. Die Berliner Entscheidung droht vor allem dann für Kritik in der Nato zu sorgen, wenn Deutschland seine NDPP-Fähigkeitsziele in anderen Bereichen während der kommen­den Jahre nicht erfüllen sollte.

Hinzu kommt, dass die Beschaffung von Arrow zu Spannungen in der bisherigen Raketenabwehrpolitik der Nato gegenüber Russland führen könnte. Das Bündnis unterscheidet im Bereich Luftverteidigung und Raketenabwehr bisher zwischen zwei Missionen. Zum einen gibt es die Nato Integrated Air and Missile Defence, die einen 360-Grad-Ansatz verfolgt und damit auch die Abwehr von russischen ballisti­schen Raketen kürzerer Reichweite um­fasst, zum anderen die Nato Ballistic Missile Defence (Nato BMD). Letztere bildet eine Teilmission der Nato IAMD, richtet sich aber nur gegen ballistische Raketen größe­rer Reichweiten außerhalb des euro-atlan­tischen Raumes und damit nicht gegen Russland.

Die Nato hat diesen zweigeteilten Ansatz jahrelang vor allem deshalb verfolgt, um Moskau zu beschwichtigen. Russland kriti­siert schon lange die Raketenabwehrpläne von USA und Nato, wobei es die Sorge vor­bringt, seine nukleare Zweitschlagfähigkeit und damit seine Abschreckung könnten unterminiert werden. Eine Beschaffung von Arrow wird sicherlich nicht die russische Zweitschlagfähigkeit schwächen. Auch ist unwahrscheinlich, dass Russland sein offen­sives Raketendispositiv allein wegen der Stationierung von Arrow stärken würde. Moskau dürfte angesichts der geopoliti­schen Lage und seiner konventionellen Schwächen so oder so danach streben, sein Arsenal von Langstreckenwaffen in den kommenden Jahren auszubauen. Dessen ungeachtet könnte ein Fähigkeitsaufwuchs mit dem Arrow-System, das ballistische Flugkörper mittlerer Reichweite außerhalb der Atmosphäre bekämpfen soll, zwischen die beiden bislang getrennten Missionen Nato IAMD und Nato BMD fallen. Zwar ließe sich argumentieren, dass diese Zwei­teilung heute sowieso überholt ist und die Nato formell nicht bindet. Doch sollte sich Deutschland darüber nicht mit der Allianz abstimmen, könnte das die Bündnispolitik intern und gegenüber Russland erschweren.

Technisch-operative Dimension

Neben diesen strategischen Aspekten stellt sich auf technisch-operativer Ebene die Frage nach der Interoperabilität von Arrow. Interoperabilität von einzelnen Komponen­ten ist eine entscheidende Voraussetzung für eine effektive integrierte Luftverteidi­gungsarchitektur. Die Nato IAMD basiert zu diesem Zweck auf dem Nato Integrated Air and Missile Defence System (NATINAMDS). Dabei handelt es sich um ein Netzwerk, das unterschiedliche Aufklärungs-, Führungs- und Wirksysteme innerhalb des Bündnisses miteinander verknüpft.

Bei den Fähigkeiten, die im Rahmen von ESSI für kurze, mittlere und große Reich­weiten beschafft werden, sollte die Integra­tion kein Problem darstellen. Schwieriger könnte sich dies allerdings bei Arrow ge­stalten. Bisher ist Arrow nicht interoperabel mit Nato-Systemen. Zwar gibt es Mechanis­men innerhalb des Bündnisses, um die Interoperabilität neu beschaffter Systeme festzustellen. Israel und die USA müssten dem jedoch zustimmen und der Allianz sensible Systemdaten zur Verfügung stel­len. Ob sie dazu bereit wären, ist unklar. So scheinen in Berlin und Brüssel die Meinun­gen bislang auseinanderzugehen, inwiefern sich Arrow in die Nato-Strukturen integrie­ren ließe.

Politische Dimension

Herausforderungen ergeben sich schließlich auch auf politischer Ebene. Berlin verfolgt mit ESSI das Ziel, so schnell wie möglich mehr bzw. neue Luftverteidigungsfähig­keiten zu beschaffen und sie Verbündeten anzubieten, damit man gemeinsam von Skaleneffekten profitieren kann. Dass die Auswahl an Systemen dabei weitgehend festgelegt ist, macht die Initiative jedoch unattraktiv für Staaten, welche alternative Luftverteidigungsfähigkeiten schon be­schafft haben oder derzeit beschaffen. Dazu gehören allen voran Frankreich und Italien, die das gemeinsam von ihnen entwickelte System SAMP/T (Sol-Air Moyenne Portée/Ter­restre) anstelle von Patriot benutzen. Ähn­liches gilt für Polen, das bereits seit einigen Jahren dabei ist, seine Luftverteidigung zu stärken. Dafür beschafft Warschau zum einen Patriot auf direktem bila­teralen Wege von den USA, zum anderen – anstelle von Iris-T SLM – das britische System CAMM (Common Anti-Air Modular Missiles).

Insbesondere Paris sieht die deutsche Initiative kritisch. Zwar unterstützt Frank­reich grundsätzlich das Ziel, die europäi­sche Luftverteidigung zu stärken. Berlins Pläne zum Erwerb von Arrow wecken je­doch in Paris die Sorge, dass Russland damit signalisiert werde, Deutschland vertraue nicht der Abschreckung durch die Nato. Aus französischer Sicht könnte dies Mos­kau veranlassen, die Entschlossenheit der Allianz auszutesten. Gleichzeitig kritisiert Frankreich, dass Deutschland nicht nur selbst in außereuropäische Fähigkeiten wie Patriot investiert, sondern vor allem auch Anreize für Verbündete setzt, keine euro­päischen Systeme wie SAMP/T zu erwerben. Um die Pläne zur Flug- und Raketenabwehr in Europa stärker mitzuprägen, hat Paris Mitte Juni eine eigene Luftverteidigungs­konferenz ausgerichtet. Dabei lag der Fokus bewusst auf strategischen und industrie­politischen Fragen – also Punkten, die Paris an ESSI kritisiert. Auch kündigte Präsi­dent Emmanuel Macron dort an, ge­mein­sam mit Belgien, Ungarn, Zypern und Est­land französische Mistral-Flugabwehrrake­ten zu beschaffen.

Aus rein wirtschaftlicher Perspektive mag es für Deutschland sinnvoll sein, sich nur auf Fähigkeiten zu konzentrieren, die es selbst beschaffen will. Nichtsdestotrotz könnte Berlins Ansatz der politischen Einig­keit im Bündnis schaden.

Empfehlungen

Als reine Beschaffungsinitiative schöpft ESSI das Potential nicht aus, welches ihr innewohnt. Stattdessen lässt das Vorhaben derzeit wichtige Fragen ungeklärt, was zu politischen Spannungen im Bündnis führen könnte, anstatt den Zusammenhalt gegen­über Russland zu stärken. Für Deutschland sind verschiedene Schritte denkbar, um diese Fragen auszuräumen und seiner an­gestrebten Führungsrolle im Bereich der Luftverteidigung gerecht zu werden.

Erstens könnte Berlin in Betracht ziehen, die Initiative auszuweiten. Mögliches Ziel wäre dabei, nicht nur Fähigkeiten in den teilnehmenden Ländern zu stärken, son­dern insgesamt die Luftverteidigung im Bündnis – inklusive Koordinierung und Interoperabilität auf unterschiedlichen Ebenen – zu fördern. Neben ESSI laufen derzeit verschiedene nationale und multi­nationale Beschaffungsprozesse und Initia­tiven zugunsten der europäischen Luft­verteidigung. Vorstellbar wäre, dass Berlin – abgestimmt mit der Nato – alle Ver­bün­deten dazu einlädt, auf diesem Feld eine Bestandsaufnahme der nationalen Prioritä­ten, Fähigkeiten sowie Beschaffungs- und Entwicklungsprozesse vorzunehmen. Eine solche Evaluation und Koordinierung der innerhalb und außerhalb von ESSI erfolgen­den Beschaffungen ließe sich dann auch in die laufende Verteidigungsplanung des Nato-Oberbefehlshabers Europa (SACEUR) aufnehmen. ESSI könnte so auch dazu die­nen, unterschiedliche Fähigkeitsentwick­lungen, die derzeit auf europäischer Ebene stattfinden, miteinander zu koordinieren.

Zweitens ließe sich die Initiative dahin­gehend ausbauen, dass Berlin über die Zusammenarbeit mit den ESSI-Teilnehmern hinaus gemeinsame Schritte mit den Nato-Staaten anstrebt. Betreffen könnte dies etwa die Bereiche Logistik, Ausbildung, Übun­gen, gemeinsame Nutzung von Infrastruk­tur, Instandhaltung, Erstellung operativer Konzepte oder sogar die Aufstellung von gemeinsamen Einheiten.

Drittens könnte Berlin im Rahmen einer ausgeweiteten Initiative das Gespräch mit der Nato und Verbündeten über die Rolle von Arrow innerhalb der Allianz suchen, sollte langfristig geplant sein, das System für die Nato bereitzustellen. Hier wäre ins­besondere zu erörtern, wie sich Arrow in deren Gesamtstrategie einbetten ließe, gerade mit Blick auf IAMD und BMD. Auch wäre zu klären, wie das System den Ver­bündeten langfristig ebenfalls zugutekom­men könnte.

Es würde Berlin zwar kurzfristig mehr Aufwand und Koordinierungsleistung ab­verlangen, die Initiative derart aufzu­wer­ten. Mittel- bis langfristig dürfte dies aber nicht nur Deutschlands Image als Füh­rungsnation in der Luftverteidigung ver­bessern, sondern auch zu nachhaltigeren technischen Lösungen führen und den politischen Zusammenhalt der Nato stärken.

Lydia Wachs ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Das Aktuell entstand im Rahmen des Projekts »Strategic Threat Analysis and Nuclear (Dis-)Order« (STAND).

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2023

SWP

Stiftung Wissenschaft und Politik

ISSN (Print) 1611-6364

ISSN (Online) 2747-5018