Mit der »Zeitenwende« in der internationalen Politik geht die Notwendigkeit einher, strategisches Denken zu stärken und sich für künftige Herausforderungen besser zu wappnen. Deutschland tut dies bereits, indem es strategische Dokumente zur nationalen Sicherheit und zu den Beziehungen mit China vorbereitet. In Bezug auf Russland drängt sich eine ähnliche Vorgehensweise auf: Erstens weil Russlands Aggression gegen die Ukraine die Situation in Europa und darüber hinaus für längere Zeit wesentlich verschlechtert hat. Zweitens weil die Konzeption einer Russlandpolitik, die auf den seit 2022 deklarierten Leitlinien basiert, eine Möglichkeit bietet, frühere Fehler zu korrigieren und Maßnahmen, die aus einer Krisensituation hervorgegangen sind, in eine langfristige Politik zu verwandeln.
Seit dem 24. Februar 2022 hat Deutschland seine Haltung gegenüber Russland radikal verändert. Die Entscheidung, Waffen an die Ukraine zu liefern, hat gezeigt, dass Berlin von seinen früheren Annahmen über die Ziele und Interessen Russlands sowie über die sicherheitspolitische Rolle Deutschlands grundlegend abgewichen ist. Deutschland hat an harten Sanktionen festgehalten, die meisten Importe nach und Exporte aus Russland (vor allem von fossiler Energie) eingestellt und zahlreiche Formate für den politischen und gesellschaftlichen Dialog mit der Russischen Föderation beendigt. Damit hat es bewiesen, dass es in der Lage ist, auf folgenschwere Ereignisse in seinem Umfeld mit bedeutenden außenpolitischen Veränderungen zu reagieren. Hinzu kommt eine wichtige Neuordnung der Prioritäten: So hat sich Berlin verpflichtet, deutlich mehr Mittel für Sicherheit und Verteidigung aufzuwenden, und hat seine Energiepolitik völlig neu ausgerichtet.
Diese Maßnahmen wurden primär als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ergriffen, folgten aber nicht einem umfassenden strategischen Ansatz, der sich aus einer Analyse europäischer und internationaler Entwicklungen ergibt. Ein wichtiger nächster Schritt wäre daher, die bereits beschlossenen oder durchgeführten Maßnahmen in eine umfassende Russlandpolitik einzubinden, die 1) frühere falsche Annahmen über Russland korrigiert, 2) Zielkonflikte zwischen Politikbereichen in Rechnung stellt, 3) eine mittel- bis langfristige Perspektive vorsieht und 4) ein Signal nach innen und außen sendet, dass es keine Rückkehr zur früheren deutschen Russlandpolitik geben wird.
In der folgenden Analyse werden insofern auf Basis bestehender Ansätze weitergehende Maßnahmen in verschiedenen Bereichen vorgeschlagen, die die Umrisse einer umfassenden Strategie zu markieren versuchen. Dabei können mögliche Zielkonflikte zwischen den seit 2022 verfolgten Ansätzen und deutschen bzw. EU-Interessen auftreten. Auch wenn seit Februar 2022 ein völlig neuer Umgang mit Russland zur Norm geworden ist, wird es nicht einfach sein, die derzeit verfolgte Politik in einem dynamischen internationalen Umfeld beizubehalten, zumal manche wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräfte in Deutschland den Änderungen der Russlandpolitik ablehnend gegenüberstehen.
Diese Analyse geht von zwei Annahmen aus: Erstens: Russland wird auf absehbare Zeit ein autoritäres oder gar totalitäres Regime bleiben und eine aggressive Außenpolitik verfolgen, unabhängig davon, ob es Wladimir Putin gelingt, an der Macht zu bleiben. Verfestigte Denk- und Handlungsmuster auf der Eliten- sowie der gesellschaftlichen Ebene in Russland machen es äußerst wahrscheinlich, dass vorherrschende politische Ansätze und Einstellungen fortbestehen werden. Zweitens: Russland wird nicht in mehrere Staaten zerfallen, wie es bei der UdSSR 1991 der Fall war. Es mag zwar einige Abspaltungsversuche geben, aber sie werden vermutlich keinen Erfolg haben, können allerdings zusätzliche Instabilität oder gar Chaos verursachen. Sollten wider Erwarten doch neue Staaten entstehen, müsste der hier skizzierte Ansatz entsprechend angepasst werden.
Sicherheit und Verteidigung: Sich Abschreckung leisten
Der russische Großangriff auf die Ukraine hat gezeigt, dass Putin seine Fähigkeit verloren hat, realistisch einzuschätzen, was Moskau bewirken kann. Die russische Führung versucht ihre Ziele primär mit militärischen Mitteln zu erreichen und schert sich nicht um zivile Schäden, Kriegsverbrechen oder Menschenrechtsverletzungen, zu denen es bei Kampfhandlungen kommt. Schließlich sehen große Teile der russischen Elite Russland in einem Krieg mit dem »kollektiven Westen« und nicht nur oder gar hauptsächlich mit der Ukraine.
Es ist daher nicht auszuschließen, dass Russland bereit sein wird, westliche Länder anzugreifen, wenn die russische Führung die Bedingungen als vorteilhaft einschätzt. Da der Krieg in der Ukraine gezeigt hat, dass die russischen Streitkräfte deutlich schwächer sind als bisher angenommen, dürfte ein russischer Angriff nicht unmittelbar bevorstehen. In mittelfristiger Perspektive sollten sich die westlichen Länder jedoch auf eine solche Eventualität vorbereiten. Russland ist selbst mit schlecht vorbereiteten und ausgerüsteten Streitkräften in der Lage, enormen Schaden anzurichten. Außerdem sollte die Möglichkeit keineswegs ausgeschlossen werden, dass Moskau taktische Atomwaffen einsetzt.
Militärische Abschreckung muss folglich wesentlicher Bestandteil der sicherheitspolitischen Komponente einer Russlandpolitik sein. Für Deutschland heißt das, die Bundeswehr so weit auszubauen, dass sie (gemeinsam mit Bündnispartnern) das Land im Bedarfsfall glaubwürdig verteidigen kann. Mehr als ein Jahr nach der »Zeitenwende« ist deutlich geworden, dass die bislang zugesagten zusätzlichen Mittel nicht ausreichen werden, die Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte wettzumachen und Deutschland wehrhaft für die Zukunft zu machen. Notwendig ist ein komplexer Ansatz, der Folgendes vorsieht: höhere als die derzeit vorgesehenen Verteidigungshaushalte, eine rasche Überarbeitung bürokratischer Verfahren, klare Botschaften zur Ankurbelung der Produktion in der Rüstungsindustrie und die Institutionalisierung wirksamerer Mechanismen für die strategische Planung. Einiges davon hat das Bundesverteidigungsministerium bereits eingeleitet. Diese Maßnahmen sollten in ein übergreifendes Konzept eingebettet werden, das sowohl die bevorstehende nationale Sicherheitsstrategie als auch eine ausformulierte Politik gegenüber Russland beinhaltet. So ließe sich sicherstellen, dass die erforderlichen Mittel eingeplant werden. Zugleich würden schwierige Diskussionen darüber erzwungen, in welchen Bereichen außerhalb des Sicherheits- und Verteidigungssektors Mittel gekürzt werden müssen, um zu garantieren, dass dieser Sektor angemessen finanziert wird. Möglich wäre aber auch, die gestiegenen Sicherheitsausgaben durch Steuererhöhungen zu finanzieren.
Die Reform der Bundeswehr erfolgt im Rahmen der europäischen und transatlantischen Sicherheitspolitik. Berlin ist bereits sehr engagiert bei der Sicherung der Ostflanke des Nato-Gebiets, insbesondere in Litauen, wo Deutschland als Rahmennation bei der Nato-Unterstützung für das Land fungiert. Wichtig wird sein, eine nachhaltige Präsenz in Litauen durch die notwendigen Ressourcen für die der Nato versprochene kampfbereite Division zu ergänzen, um mittelfristig einen flexiblen und glaubwürdigen Beitrag zur Abschreckung zu leisten. Angesichts der Tatsache, dass Frankreich die größte Militärmacht in der EU ist und als einziges EU-Mitglied über eigene Atomwaffen verfügt, wird es wichtig sein, an der Kittung der Risse in den deutsch-französischen Sicherheitsbeziehungen zu arbeiten. Eine größere Rolle Deutschlands bei der Wahrung der Sicherheit in der Schwarzmeerregion sollte ebenfalls ins Auge gefasst werden, ob im Rahmen einer ausgeweiteten Präsenz von Nato-Staaten oder durch die Prüfung und gegebenenfalls Unterstützung eines Ausbaus der Donau-Infrastruktur für Sicherheitszwecke. Angesichts der Dimension und des Umfangs der von Russland ausgehenden hybriden Bedrohungen wird es notwendig sein, die Geheimdienste mit weiteren Ressourcen auszustatten und ihre Erkenntnisse ernst zu nehmen.
Die Nato wird wohl bis auf weiteres der wichtigste Sicherheitsrahmen in Europa und im transatlantischen Raum bleiben. Die Fortsetzung der engen militärischen Zusammenarbeit mit den USA und dem Vereinigten Königreich ist daher von essentieller Bedeutung. In Anbetracht der Unsicherheiten im Zusammenhang mit den politischen Entwicklungen in den USA sollte jedoch der Gewährleistung einer größeren europäischen Autonomie im Sicherheitsbereich Priorität eingeräumt werden. Russlands Krieg gegen die Ukraine sollte für Deutschland und die EU ein Weckruf sein, das Ausmaß des europäischen Trittbrettfahrens auf Kosten der von den USA gewährten Sicherheitsgarantien erheblich zu verringern. Bislang neigten die EU und ihre Mitgliedstaaten zu sehr dazu, den USA die Führung im Sicherheitssektor zu überlassen.
Schließlich muss eine effiziente, effektive und umfassende militärische Unterstützung der Ukraine aufrechterhalten und möglichst noch intensiviert werden. Nach einem sehr schleppenden Start 2022 haben sich das Tempo der Waffenlieferungen und die Art der gelieferten Waffen in den letzten Monaten im positiven Sinne verändert. Im bestmöglichen Fall sollten Deutschland und die EU nun von einer reaktiven zu einer proaktiven Form der Unterstützung übergehen, die es der Ukraine ermöglicht, wirksame Offensiven durchzuführen und dadurch schneller einen Punkt zu erreichen, an dem Kyjiw sich in einer ausreichend gestärkten Position für Verhandlungen sieht.
Es wird auch notwendig sein, sich auf die möglichen Folgen eines ukrainischen Sieges vorzubereiten. Russland könnte dadurch in eine Zeit der inneren Instabilität und des politischen und wirtschaftlichen Chaos geraten. Das ist zwar eine beängstigende Aussicht, doch möglicherweise der zu entrichtende Preis für den Eintritt in eine neue Phase, in der sich die Achtung einer regelbasierten Ordnung sowohl in Europa als auch darüber hinaus durchsetzen lässt. Eine Situation, in der sich Russland als Sieger fühlen kann und daher motiviert wäre, sein gegenwärtiges außen- und innenpolitisches Verhalten fortzusetzen, würde das »Recht des Stärkeren« zementieren und damit jene Grundsätze zerstören, für die Deutschland und die EU stehen – Grundsätze, die nicht nur in zahlreichen europäischen Dokumenten, sondern auch in der Charta der Vereinten Nationen verankert sind.
Wirtschaft: Entkopplung und Neuausrichtung
Der eingeschlagene Kurs der wirtschaftlichen Abkopplung von Russland sollte auf absehbare Zeit fortgesetzt werden. Dafür sprechen nicht nur die verhängten Sanktionen, sondern auch die Tatsache, dass die Unterstützung der russischen Wirtschaft die Stärkung eines Regimes bedeutet, das einen grundlosen, brutalen Krieg gegen seinen Nachbarn führt und darüber hinaus Deutschland und die EU als Feinde betrachtet und seit Jahren versucht, die Grundlagen ihrer friedlichen, demokratischen und regelbasierten Ordnung zu untergraben. Die Handlungen des russischen Regimes haben gezeigt, dass das Konzept der Annäherung durch Verflechtung verfehlt war. Stattdessen ist Korruption aus Russland nach Deutschland importiert worden, so dass es nötig ist, Mechanismen zur Bekämpfung der Geldwäsche zu verstärken und mehr Transparenz bei Vermögenswerten und wirtschaftlichen Eigentumsstrukturen zu schaffen.
Angemessene Schritte wären daher unter anderem Anreize für die verbliebenen deutschen Unternehmen, sich aus Russland zurückzuziehen, die Exporte und Importe schrittweise weiter zu reduzieren, Verbindungen zu russischen Banken zu kappen und geplante Projekte unter Umgehung Russlands neu auszurichten. Auf europäischer Ebene ist es für Deutschland unerlässlich, durch bessere und früh einsetzende Kommunikation ein hohes Maß an wirtschaftlicher Solidarität mit anderen EU-Mitgliedstaaten zu demonstrieren, um die ökonomische Widerstandsfähigkeit der EU und ihre Kapazität innerhalb des gemeinsamen Marktes zu stärken. Das wird auch dazu beitragen, die Geschlossenheit der EU im Umgang mit Russland (oder auch China) zu festigen. Gleichzeitig sollten die Auswirkungen dieser Entkoppelungsstrategie auf die Weltwirtschaft kontinuierlich beobachtet und ihre Folgen berücksichtigt werden. Die zunehmende wirtschaftliche Isolation Russlands wird die sich derzeit vollziehende Bildung zweier Blöcke – der Westen einerseits und ein sich um China und Russland gruppierender Block andererseits – begünstigen. Dies wird zusätzliche wirtschaftliche und politische Probleme für Deutschland und die EU nach sich ziehen.
Sanktionen müssen dennoch ein wichtiger Bestandteil der Russlandpolitik bleiben. Die verhängten Sanktionen sind bereits recht weit gegangen. Sie zielen darauf ab, Russland wirtschaftlich zu isolieren und jene Akteure ins Visier zu nehmen, die für die Invasion und für Kriegsverbrechen verantwortlich sind und Russland bereits vor dem Angriff im Februar 2022 dabei unterstützt haben, die territoriale Integrität der Ukraine zu verletzen. Die bisherigen Sanktionen haben Russlands militärische Schlagkraft in der Ukraine in Teilen geschwächt. Es wird von entscheidender Bedeutung sein, die Sanktionen aufrechtzuerhalten, damit sie ihre volle Wirksamkeit entfalten können, und darüber hinaus bereit zu sein, je nach Entwicklung weitere Sanktionen zu verhängen. Deutsche Wirtschaftsakteure müssen also auf langfristige Sanktionen vorbereitet werden. Ebenso wichtig erscheint es, deutlich mehr Ressourcen darauf zu verwenden, die Umgehung von Sanktionen aufzudecken, so schnell wie möglich zu unterbinden und jene zu bestrafen, die sich nachgewiesenermaßen vorsätzlich an der Umgehung beteiligt haben. Insbesondere das Bundeswirtschaftsministerium entwickelt bereits entsprechende Maßnahmen, die durch die Bemühungen des Brüsseler Sonderbeauftragten für die Umsetzung von EU-Sanktionen, David O’Sullivan, potenziert werden können. Nicht zuletzt sollten der deutschen Bevölkerung die Notwendigkeit von Sanktionen ebenso vor Augen geführt werden wie deren bereits eingetretene und noch zu erwartende Wirkungen. Die Erwartung wäre unrealistisch, dass die Sanktionen Wladimir Putin zu einer positiven Verhaltensänderung veranlassen oder in Russland erhebliche Massenproteste gegen den Kreml auslösen. Sie sind dennoch notwendig als angemessene Reaktion auf die gravierenden Verbrechen des russischen Regimes sowie als Signal eines einflussreichen Teils der internationalen Gemeinschaft an die russische Bevölkerung, das die Niederträchtigkeit der russischen Handlungen anzeigt.
Energie: Unabhängigkeit von Russland und Diversifizierung
In den letzten Jahren hat sich die innerhalb und außerhalb Deutschlands geführte Debatte über Energiebelange stark auf die Nord-Stream-Pipeline konzentriert. Darum sollte dieses Thema Ausgangspunkt für eine Diskussion über die zukünftige Energiepolitik in Bezug auf Russland sein. Sowohl Nord Stream 1 als auch 2 waren das Ergebnis einer verfehlten Politik, die auf falschen Annahmen über russische Absichten beruhte und die Interessen von Nachbarn und Verbündeten unberücksichtigt ließ. Ziel Berlins ist es nun, sich vollständig von Russland abzukoppeln, auf andere Energielieferanten umzusteuern und gleichzeitig den Umstieg auf erneuerbare Energien weiter zu beschleunigen. Deutschland hat im vergangenen Jahr außergewöhnliche Schritte in diese Richtung unternommen, allerdings nicht ohne negative Konsequenzen für die Umwelt- und Klimapolitik. Gerade weil eine rasche Diversifizierung der Energielieferanten mit Umweltkosten verbunden ist, bleibt es wichtig, zu dem bereits vorgesehenen umweltfreundlicheren Kurs zurückzukehren, sobald die Situation dies erlaubt.
Das Nord-Stream-Projekt hat zusammen mit anderen energiebezogenen deutschen Maßnahmen dazu beigetragen, dass Deutschland als ein Land wahrgenommen wird, das die Energie-Interessen seiner EU-Partner sowie anderer Staaten ignoriert. Die Abkopplung von Russland sollte daher mit einem klaren Bekenntnis zu einem stärker akzentuierten multilateralen Umgang mit Energiefragen einhergehen. Dieses Bekenntnis könnte glaubwürdig gemacht werden, indem Deutschland eine Plattform einrichtet, auf der offene Diskussionen über energiepolitische Pläne und ihre möglichen Folgen mit anderen EU-Mitgliedstaaten sowie Beitrittskandidaten geführt werden können. Deutschland hat gute Chancen, das Vertrauen seiner Nachbarn in Energiebelangen wiederzugewinnen, da es bereits entscheidende Schritte vollzogen hat, um von russischen Energielieferungen unabhängig zu werden und die Produktion erneuerbarer Energien zu steigern. Auch die inzwischen in Kraft getretenen EU-Embargos für Kohle, Öl und Ölprodukte aus Russland tragen dazu bei, dass sich Deutschland und andere EU-Mitgliedstaaten deutlich von russischen Energiequellen abwenden.
Wie im wirtschaftlichen wird es auch im Energiebereich entscheidend sein, die Bevölkerung über die Logik zu informieren, der die durchgeführten Maßnahmen folgen. Die Botschaft, dass es zumindest für Haushalte Besserverdienender notwendig sein könnte, finanzielle Opfer zu bringen, um Europas Energiesicherheit langfristig zu gewährleisten, sollte nachdrücklicher vermittelt werden. Laut Umfragen unterstützten die deutschen Bürgerinnen und Bürger im Spätsommer 2022 die Sanktionen gegen Russland mehrheitlich und waren bereit, Härten in Kauf zu nehmen, um sie aufrechtzuerhalten. Diese Bereitschaft scheint allerdings mit der Zeit abzunehmen. Zumindest zweifeln inzwischen 48 Prozent der Befragten an der Wirksamkeit der Sanktionen.
Angesichts der Notwendigkeit, auf andere Gas- und Öllieferanten umzusteigen, gewinnt auch der Schutz kritischer Infrastruktur an Bedeutung. Hinweise darauf, dass nicht identifizierte Drohnen über jene Aufbereitungsanlage geflogen sind, aus der Erdgas von Norwegen nach Deutschland exportiert wird, sollten als Warnung dienen und Anlass geben, die Überwachung dieser Infrastruktur generell zu verstärken. Gefahren drohen ihr sowohl in physischer Hinsicht als auch durch Cyber-Attacken. Die russische Zerstörung wichtiger Energieinfrastrukturobjekte in der Ukraine zeigt, dass der Kreml solche Ziele auf seinem Radar hat, die er darum auch in anderen Ländern angreifen könnte. Das Bundesministerium des Innern hat im Oktober 2022 einen Gemeinsamen Koordinierungsstab für kritische Infrastrukturen gegründet und treibt die Arbeit an dem KRITIS-Dachgesetz voran, das Deutschlands Resilienz in diesem Bereich steigern soll. Dass sich die G7-Staaten bei einem Treffen der Digitalminister im April dazu verpflichtet haben, stärker auf den Schutz von Unterwasserkabeln zu achten, ist in dieser Hinsicht auch ein ermutigendes Signal.
Politik und Recht: Weniger Dialog, mehr Rechenschaftspflicht
Die wichtigste Veränderung auf politischer Ebene besteht in einer drastischen Verringerung von Zahl und Ausmaß der Kontakte. Sie ergibt sich nicht nur aus dem Wegfall der meisten Kooperationsfelder, sondern ist auch eine Schlussfolgerung aus der in den vergangenen Jahren gewonnenen Erkenntnis, dass der Dialog in bestimmten Fällen nicht weiterhilft und sogar kontraproduktiv sein kann. Wenn die andere Seite nicht an einem besseren Verständnis der deutschen Position interessiert ist, sondern lediglich ihre eigene Position durchsetzen will, kann der Dialog nicht die gewünschten Ergebnisse bringen. Letztlich stärkt er den Status Russlands, indem er seinen Vertretern und Vertreterinnen legitime Plattformen zur Meinungsäußerung bietet. Ein Dialog, ob auf höchster oder untergeordneter Ebene, sollte daher nur dann stattfinden, wenn Deutschland ein klares Interesse an einem bestimmten Ergebnis hat und die Erwartung realistisch erscheint, dass sich dieses Ergebnis durch den Dialog – ergänzt um andere relevante Instrumente – erreichen lässt. Insofern empfiehlt sich ein funktionaler Ansatz, der Gespräche von Fall zu Fall zulässt, wenn sie für das Vorankommen in einem bestimmten Prozess als wichtig erachtet werden. Das Vertrauen in die russische Seite ist so weit zerstört, dass nur sehr konkrete, kurzfristige Vereinbarungen möglich erscheinen. Und selbst dann müssten Notfallpläne für den Fall erstellt werden, dass Moskau sich nicht an seinen Teil der Abmachung hält.
Ratsam wäre es, bei künftigen politischen Dialogen zudem sogenanntes mirror-imaging zu vermeiden, also nicht der Annahme aufzusitzen, dass russische Gesprächspartner ähnliche Ziele verfolgen und derselben Art von Rationalität folgen wie ihre deutschen Gegenüber. Auch wenn die russische Aggression gegen die Ukraine die unterschiedlichen Rationalitäten überaus deutlich gemacht hat, kann es sich lohnen, Regionalexperten und ‑expertinnen stärker als in der Vergangenheit einzubinden, wenn es gilt, die Absichten russischer Akteure einzuschätzen.
Auf rechtlicher Ebene werden mehrere Wege gleichzeitig beschritten, um Russland für seine Handlungen in der Ukraine sowohl finanziell als auch moralisch zur Rechenschaft zu ziehen. Bemühungen, an beschlagnahmtes russisches Vermögen heranzukommen, sollten fortgesetzt und noch intensiviert werden. Obwohl es nachvollziehbare rechtliche Bedenken gegen die Idee gibt, auf die mutmaßlich 300 Milliarden Euro Reserven der russischen Zentralbank zurückzugreifen, sprechen gute Argumente dafür, dass dieser spezielle Fall eher eine Ausnahme als einen Präzedenzfall darstellt. Ebenso wichtig ist es, die Ukraine weiterhin auf jede erdenkliche Weise bei ihren Anstrengungen zu unterstützen, die Täter (einschließlich Wladimir Putin) vor Gericht zu stellen. Ob dies am besten durch die Schaffung eines hybriden oder internationalen Sondertribunals geschehen sollte, ist unter Juristen umstritten. Der vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ausgestellte Haftbefehl gegen Putin zeigt, dass es möglich ist, den russischen Präsidenten auch für andere Verbrechen als die der Aggression anzuklagen. Auf jeden Fall bietet der Krieg gegen die Ukraine eine Gelegenheit, bestimmte Elemente des Völkerrechts zu stärken. Dies kann zum Teil im nationalen Rahmen geschehen, wie bereits vom Bundesjustizministerium angeregt. Bei anderen Aspekten ist allerdings ein wesentlich intensiverer Dialog mit zahlreichen Staaten des globalen Südens erforderlich, die nicht nur andere Interessen, sondern oft einen anderen Blick auf die Ziele und Möglichkeiten des Völkerrechts haben.
Gesellschaft: Kommunikation und Bekämpfung von Desinformation
Die zwischengesellschaftlichen Beziehungen sind seit Jahrzehnten eine wichtige Komponente des deutsch-russischen Verhältnisses. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat die Zusammenarbeit, die in den letzten 15 Jahren als Folge des zusehends repressiven staatlichen Vorgehens gegen Teile der russischen Zivilgesellschaft immer schwieriger wurde, weiter erschwert. Moskau hat inzwischen etliche deutsche Organisationen als »unerwünscht« eingestuft und mit Restriktionen belegt. Die Probleme bei der Aufrechterhaltung der Beziehungen auf zivilgesellschaftlicher Ebene lassen sich beispielhaft an der Auflösung des Petersburger Dialogs veranschaulichen, eines Formats, das 2001 der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder und Wladimir Putin ins Leben gerufen haben. Dieser Dialog war zwar nie ein rein zivilgesellschaftlicher, insbesondere weil der russische Staat die Teilnehmenden aus Russland kontrollierte, wies aber dennoch Elemente eines solchen Dialogs auf.
Gegenwärtig ist es schwierig, viel mehr zu tun, als jene Akteure, die noch zivilgesellschaftliche Beziehungen unterhalten, zu ermutigen, diese so weit wie möglich aufrechtzuerhalten. Auf politischer Ebene muss ständig versucht werden, die russische Gesellschaft so gut es geht über aktuelle Entwicklungen und deutsche/westliche Positionen zu informieren. Dies kann teilweise direkt über (soziale) Medien, teilweise über die russische Diaspora geschehen – inzwischen haben sich viele Oppositionelle und Medien in der EU angesiedelt. Außerdem sollten diejenigen Teile der Diaspora unterstützt werden, die von außen versuchen, den Wandel Russlands in einen demokratischen, regelbasierten Staat zu fördern, auch wenn ein nachhaltiger Regimewechsel nur innerhalb Russlands erfolgen kann. In diesem Zusammenhang wird die stetige Anpassung des vom Auswärtigen Amt betriebenen Programms »Ausbau der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft in den Ländern der Östlichen Partnerschaft und Russland« (ÖPR) eine wichtige Rolle spielen.
Beim Blick auf die russische Gesellschaft gilt es zwischen Menschen mit unterschiedlichen Einstellungen und Verhaltensweisen zu differenzieren, anstatt im Sinne einer Kollektivschuld-These alle russischen Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen zu verurteilen. Irgendwann wird die russische Gesellschaft eine Phase durchlaufen müssen, in der sie kollektiv ihren Anteil an der Schuld und den kriminellen Charakter ihres Regimes anerkennt – und damit in gewisser Weise eine ähnliche Erfahrung macht wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Ohne ein solches Eingeständnis breiter Schichten der russischen Gesellschaft lässt sich schwer vorstellen, wie ein grundlegender Regimewechsel möglich sein soll, der dann auch – was noch wichtiger ist – unumkehrbar ist. Dieser Prozess muss von einer ehrlichen Aufarbeitung früherer Perioden der sowjetischen und russischen imperialen Geschichte begleitet werden, wie sie die russische Organisation »Memorial« seit langem fordert und unterstützt.
Nicht zuletzt sollten auch die Auswirkungen der jetzigen Lage auf die deutsche Gesellschaft bedacht werden. Erstens ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Bundesregierung die Bürgerinnen und Bürger darüber informiert, wie sie das außenpolitische Verhalten des Kremls und die Entwicklungen in Russland beurteilt. Genauso wichtig sind Begründungen für deutsche politische Entscheidungen, die auf diese Entwicklungen reagieren. Zweitens muss die Problematik der Desinformation auf der Tagesordnung bleiben. Teile der deutschen Gesellschaft sitzen nach wie vor der russischen Propaganda auf. Insofern wäre es sehr wichtig, deutlicher und über multiple Kanäle auf die Gefahren hinzuweisen, die von dieser Propaganda ausgehen. Noch wichtiger ist es, in der deutschen Gesellschaft den Stand des Wissens über die Ukraine und Russland kontinuierlich zu verbessern und die Entwicklung der Fähigkeit zum kritischen Denken auf allen Ebenen des Bildungssystems zu fördern.
Zielkonflikte und Vorteile eines umfassenden Ansatzes
Die Analyse legt nahe, dass eine neue europäische Sicherheitsordnung ohne Russland geschaffen werden muss. Dabei sollte man die Vorstellung nicht aufgeben, dass sich Russland irgendwann zu einer Demokratie mit funktionierenden rechtsstaatlichen Institutionen wandeln kann. Doch wird ein solcher Prozess Jahrzehnte, möglicherweise sogar Generationen dauern und nicht linear verlaufen. Angesichts dessen wird sich die Politik für absehbare Zeit auf Überlegungen konzentrieren müssen, wie die Sicherheit Europas (einschließlich der Ukraine) vor Russland geschützt und gewährleistet werden kann. Dies wird eine Umlenkung finanzieller und personeller Ressourcen zugunsten von Sicherheits- und Verteidigungsmaßnahmen erfordern, sowohl auf nationaler wie auf europäischer Ebene.
Die gegenwärtig sich vollziehende Entkopplung bei Wirtschaft und Energie wird die sich rasant entwickelnde chinesisch-russische Zusammenarbeit nicht nur in diesen Bereichen beschleunigen. Die oben skizzierte Russlandpolitik, die in vielen Aspekten bereits Realität ist, wird somit die Entstehung einer neuen Blockkonstellation begünstigen: Der EU, dem Vereinigten Königreich und Nordamerika stehen dabei Russland und China gegenüber. Diese bipolare Konstellation kann durch intensivierte Kommunikation und Zusammenarbeit mit verschiedenen Akteuren des globalen Südens nuancierter und komplexer gestaltet werden. Aufgrund der über Jahrzehnte gewachsenen Ressentiments gegenüber dem Westen wird dies jedoch einige Zeit brauchen. Da es keinen »one size fits all«-Ansatz gibt, wird es nötig sein, einen auf bestimmte Schlüsselstaaten des globalen Südens zugeschnittenen Umgang zu wählen und nach und nach Vertrauen zu bilden.
Schließlich enthält der hier skizzierte Ansatz viele Komponenten, mit denen erhebliche Teile der deutschen Bevölkerung nicht einverstanden sein werden. Einige lehnen eine Aufrüstung Deutschlands ab, inklusive der weiteren Lieferung von Waffen und militärischem Gerät an die Ukraine. Andere werden nicht bereit sein, einen Teil ihres Wohlstands als Preis für mehr Sicherheit zu opfern. Wieder andere werden an einer Politik Anstoß nehmen, die die meisten Formen der Interaktion mit Moskau ausschließt. Es wird daher notwendig sein, mehr Zeit und Energie darauf zu verwenden, die Gründe für diese Politik zu erläutern und immer mehr Bürger und Bürgerinnen davon zu überzeugen, dass sie der Entwicklung angemessen ist. Dazu gehört auch, einige Fehler aufzuarbeiten, die in der Vergangenheit in den Beziehungen zu Russland begangen wurden, und der Bevölkerung klarzumachen, warum manche Grundannahmen des früheren deutschen Ansatzes falsch waren.
Das Blatt durch die offizielle Formulierung einer neuen Russlandpolitik zu wenden kann der Bundesregierung helfen, die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren und einen größeren Beitrag zur Sicherheitspolitik der EU (und der Nato) zu leisten. Es wird wichtig sein, sich mit relevanten EU-Partnern über das deutsche Vorgehen in Wirtschafts- und Energiebelangen umfassender und ernsthafter zu beraten als in der Vergangenheit. Berlin sollte auch Polen und den baltischen Staaten den ihnen gebührenden Platz einräumen. Deren Vertreter und Vertreterinnen haben in den letzten Jahren russische Ziele und Methoden meist richtig gedeutet. Darum sollten ihre Positionen in Zukunft stärker berücksichtigt werden.
Eine angemessene Politik gegenüber Russland wird dazu beitragen, einige Grundlagen für einen Wandel in Richtung eines regelbasierten und werte-orientierten globalen Umfelds zu schaffen, für das Deutschland und die EU bereits eintreten. Die Einigung auf eine Russlandpolitik, die die derzeit geltenden Ansätze zementiert und verfeinert, wird es Berlin zudem ermöglichen, seine Aufmerksamkeit strategischer und langfristiger auf die Ukraine und andere Länder östlich der EU auszurichten, die von der deutschen Politik zu lange zugunsten Moskaus vernachlässigt wurden.
Dr. Susan Stewart ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
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DOI: 10.18449/2023A34