Seit in Iran im September 2022 landesweite Proteste ausgebrochen sind, steht die deutsche Iranpolitik auf dem Prüfstand. Doch noch immer ist keine konkrete Weichenstellung für einen veränderten politischen Ansatz zu erkennen. Während Rückendeckung für die Protestierenden sich bislang vornehmlich auf Symbolpolitik beschränkt, fehlt eine substanzielle Debatte darüber, wie deutsche Politik die iranische Bevölkerung unterstützen und zugleich die sicherheitspolitischen Herausforderungen bewältigen kann, die von der Islamischen Republik ausgehen. Diese reichen vom Atomprogramm über die Regionalpolitik bis zur militärischen Kooperation mit Russland. Die veränderten Bedingungen im Land und die wachsende Gefährdung europäischer Sicherheit durch das iranische Atom-, Raketen- und Drohnenprogramm erfordern eine Umgestaltung der bisherigen Iranpolitik. Dies gilt umso mehr, wenn die Bundesregierung ihrem Anspruch gerecht werden will, feministische Grundsätze in ihrer Außenpolitik zu verankern.
Die Islamische Republik befindet sich im Umbruch. Während der Staat sich auf einen Wechsel an der Spitze des politischen Systems vorbereitet, stellen weite Teile der Bevölkerung die gesamte Ordnung offen infrage. Die Position des »Revolutionsführers«, die mit Abstand mächtigste Institution des Landes, könnte mit Blick auf das Alter des derzeitigen Amtsträgers Ali Khamenei (83) auf absehbare Zeit neu besetzt werden müssen. In autoritären Regimen geht die Nachfolgefrage angesichts der erheblichen Machtkonzentration an der Staatsspitze mit einer kritischen Transitionsphase einher, die zu steigenden Machtkämpfen innerhalb der Eliten und hoher Instabilität führen kann. Für die politische Führung der Islamischen Republik steht daher ein geordneter Übergang von der Khamenei- zur Post-Khamenei-Ära ganz oben auf der politischen Agenda. Dieser Übergang wird durch landesweite Proteste gefährdet, die bereits seit mehr als fünf Monaten anhalten.
Revolutionärer Charakter der Proteste
Der gewaltsame Tod der jungen iranischen Kurdin Jina Mahsa Amini durch die »Sittenpolizei« löste im September 2022 eine beispiellose Protestwelle im Land aus, die sich von bisherigen Aufständen in der Geschichte der Islamischen Republik qualitativ unterscheidet. Zum ersten Mal ist eine breite Solidargemeinschaft entstanden, die abseits von ethnischen, demografischen oder religiösen Grenzen zusammengefunden hat und unterschiedliche soziale Schichten abbildet. Dabei standen Frauen von Anbeginn in vorderster Reihe. Obwohl sie bei nahezu allen Protesten der iranischen Moderne eine wichtige Rolle spielten, ist es das erste Mal, dass im Land von einem feministischen Aufstand gesprochen und dem Beitrag iranischer Frauen am Widerstand offenkundig Rechnung getragen wird. Dies zeigt sich etwa in dem kurdischen Slogan »Frau, Leben, Freiheit«, den die Demonstrierenden zum nationalen Leitmotiv erklärt haben.
Eine Besonderheit stellt überdies die Teilnahme sehr junger Bevölkerungsteile dar, darunter längst nicht mehr nur Studierende, sondern auch Teenager. Neben die Universitäten, die traditionell eine wesentliche Rolle in der iranischen Protestlandschaft innehaben, sind nun die Schulen getreten. Die hohe Beteiligung der Generation Z wirkt sich auf den Charakter der Proteste aus, was sich in den eingesetzten kreativen Mitteln des Widerstands, der Sprache sowie der Radikalität der Ansätze widerspiegelt.
Denn längst geht es nicht mehr um kleinteilige politische Anliegen wie beispielsweise eine Aufhebung der gewaltsam durchgesetzten Kleiderordnung oder um einzelne Reformvorhaben. Ziel ist, die bisherige politische Ordnung in ihrer Gesamtheit abzuschaffen. Die breite gesellschaftliche Zugkraft und der transformative Anspruch, einen Systemwechsel herbeizuführen, sprechen für einen revolutionären Charakter der Proteste. Dabei ist mit dem Slogan »Frau, Leben, Freiheit« ein kollektives Leitmotiv gegeben, das universalistisch und im Kern zukunftsgerichtet ist, selbst wenn sich Ideen für eine konkrete Ausgestaltung einer neuen politischen Ordnung erst in den Anfängen befinden. Noch fehlt es an einem gemeinsamen politischen Programm, belastbaren Organisationsstrukturen oder anerkannten Führungskräften. Doch das Potenzial für eine organisierte soziale Massenbewegung ist klar ersichtlich.
Dafür spricht ebenfalls der anhaltende Widerstand, der trotz nachlassender Demonstrationen auf den Straßen allgegenwärtig ist: in Graffitis und Wandmalereien, auf Bannern, in Form von Gesängen und anderen künstlerischen Aktionen, mit denen die Autorität des Staates kontinuierlich infrage gestellt wird.
Darüber hinaus bewegen sich mehr Frauen als je zuvor unbedeckt in der Öffentlichkeit, viele verzichten komplett darauf, das Kopftuch mit sich zu führen. Obwohl die Kleiderordnung noch immer gesetzlich vorgeschrieben ist, haben zahlreiche iranische Frauen sie nunmehr eigenmächtig außer Kraft gesetzt. Dieser Teilsieg ist die direkte Folge von mehr als vier Jahrzehnten sozialen Ungehorsams, mit dem iranische Frauen sich den rigiden Bedeckungsvorgaben widersetzt haben. Innergesellschaftlich sind die Proteste demnach mit fundamentalen Grenzverschiebungen einhergegangen, sowohl im gesellschaftlichen Diskurs als auch in der sozialen Praxis, die eine Rückkehr zum Status quo ante unmöglich machen. Damit können sie schon jetzt als erfolgreichste Proteste in der Geschichte der Islamischen Republik gelten.
Sie treffen aber auf einen Staat, der sich gegen jegliche früheren Liberalisierungsversuche nicht nur mit Erfolg gewehrt hat, sondern mit Blick auf die anstehende Transitionsphase die engen gesellschaftspolitischen Räume noch weiter verkleinern will. Die Proteste werden in allen Teilen des Landes gewaltsam niedergeschlagen, in den Grenzregionen, in denen vornehmlich ethnische Minderheiten ansässig sind, jedoch mit besonderer Härte. In den iranischen Provinzen Kurdistan, West-Aserbaidschan oder Sistan-Belutschistan etwa geht der Sicherheitsapparat mit einem Militäraufgebot gegen Demonstrierende vor. Kurden und Belutschen, die als wesentliche Treiber der Proteste angesehen werden können, haben daher auch die meisten Todesopfer zu verzeichnen. Landesweit wurden insgesamt mehr als 500 Menschen getötet und über 19.000 verhaftet, unter ihnen Dutzende Minderjährige. Ihnen droht im äußersten Fall die Todesstrafe. Erste Hinrichtungen wurden bereits durch öffentliche Erhängung vollzogen.
Die Kluft zwischen Gesellschaft und Staat ist unüberbrückbar geworden. Ob der aktive Widerstand die notwendigen Strukturen herausbilden wird, um in eine erfolgreiche Revolution zu münden, ist noch offen. Der Aufstand benötigt vor allem Zeit. Derweil bleiben auch andere politische Entwicklungen denkbar, darunter ein Bürgerkrieg, ein Militärputsch durch die paramilitärischen Revolutionsgarden oder der Fortbestand des jetzigen Systems in geschwächter Form, das unter anhaltendem gesellschaftlichem Druck den derzeitigen Polizeistaatcharakter weiter aufrechterhält. Deutsche Politik muss sich darauf einstellen, dass der Ausgang der innenpolitischen Entwicklungen noch längere Zeit ungewiss bleibt – das gilt selbst dann, wenn am Ende das bestmögliche Szenario eines Systemwandels eintritt.
Sicherheitspolitische Herausforderungen
Während Iran tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen durchläuft, stellen zahlreiche außenpolitische Konfliktfelder die europäische Politik vor immer größere Herausforderungen. Diese erwachsen aus Irans Regionalpolitik, seinem fortschreitenden Atomprogramm und seiner zunehmenden sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit Russland. Dabei sind insbesondere Irans nukleare Aktivitäten und die Lieferung von Drohnen an Moskau eine akute Gefahr für die europäische Sicherheit. Den seit März 2022 vorliegenden Vorschlag der Europäer, wie das Atomabkommen von 2015 vollständig wiederhergestellt werden kann, hat Teheran bislang zurückgewiesen. Zwar ist das Abkommen formal nach wie vor in Kraft; doch Bestand hat es nur noch auf dem Papier, nachdem sich die USA 2018 unter der Trump-Administration zurückgezogen haben und Iran seit 2019 technische Beschränkungen schrittweise ausgesetzt hat.
Unterdessen hat die Islamische Republik ihr Atomprogramm in nie da gewesener Weise ausgebaut. Teheran hat nicht nur erstmals Uran auf mindestens 60 Prozent angereichert, sondern auch mit fortschrittlichen Zentrifugentypen experimentiert und Uranmetall hergestellt – alles Verstöße gegen das Atomabkommen. Im Ergebnis ist die Ausbruchszeit auf knapp eine Woche reduziert worden. Das bedeutet, dass Teheran nur noch wenige Tage benötigt, um genügend waffenfähiges Uran für den Bau mehrerer Atombomben zu produzieren. Darüber hinaus hat die iranische Führung die Zusammenarbeit mit der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) sukzessive eingeschränkt und damit die notwendigen Verifikations- und Kontrollmechanismen faktisch außer Kraft gesetzt. Im Juni 2022 wurden mehr als zwei Dutzend Kameras der IAEO in iranischen Atomanlagen vom Netz genommen, wodurch eine effektive Einsicht in Irans nukleare Aktivitäten nicht länger möglich ist.
Während sich die Islamische Republik auf direktem Wege befindet, ein nuklearer Schwellenstaat zu werden, hat sie ihre sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit Russland rapide ausgeweitet. Russland ist wesentlicher Bestandteil der iranischen »Blick nach Osten«-Politik, die mit dem anhaltenden Atomkonflikt neuen Auftrieb bekommen hat. Mit der russischen Invasion der Ukraine hat sich die Zusammenarbeit zwischen Iran und Russland qualitativ verschoben. Teheran hat nicht nur Hunderte Drohnen aus eigener Produktion an Moskau geliefert, die Russland im Krieg gegen die Ukraine einsetzt. Teheran soll überdies den Bau einer Produktionsstätte auf russischem Boden planen, in der auf absehbare Zeit mehr als 6.000 Drohnen hergestellt werden könnten.
Obwohl die Lieferung von Drohnen und damit die indirekte Beteiligung am Krieg innerhalb der iranischen Eliten umstritten ist, deutet zurzeit alles darauf hin, dass Teheran die militärische Kooperation mit Moskau noch ausweiten wird. Im Oktober 2023 enden Restriktionen der Vereinten Nationen (VN) hinsichtlich der Lieferung von Raketentechnologie; spätestens dann könnte Iran auch Kurzstreckenraketen und die entsprechende Technologie nach Russland exportieren. Das Auslaufen der Restriktionen wurde in der Resolution 2231 des VN-Sicherheitsrats zugesagt, die 2015 verabschiedet wurde, um das Atomabkommen völkerrechtlich zu verankern.
Im Gegenzug für die Unterstützung Moskaus verspricht sich Iran nicht nur neue russische Rüstungsgüter wie SU‑35-Kampfflugzeuge oder das S‑400-Luftabwehrsystem. Die iranische Führung setzt auch darauf, durch den russischen Bedarf an iranischer Militärausrüstung erstmals die politisch gestärkte Rolle eines Zulieferers einzunehmen und damit den eigenen Handlungsspielraum gegenüber Russland zu vergrößern.
In der Region verschärfen sich derweil die Spannungen, so zuletzt nach den Drohnenangriffen auf eine iranische Militäranlage in Isfahan, für die Iran in erster Linie Israel verantwortlich macht. Die im Januar erfolgte größte gemeinsame Militärübung israelischer und US-amerikanischer Streitkräfte aller Zeiten wird in Teheran zudem als Signal aufgefasst, dass sich Washington und Tel Aviv darauf vorbereiten, gezielte Schläge gegen iranische Atom-, aber auch Verteidigungsanlagen auszuführen. Dabei ist das iranische Vergeltungspotenzial nach wie vor hoch. Teheran kann auf ein breites Netzwerk schwer bewaffneter nichtstaatlicher Akteure zurückgreifen, das vom Gazastreifen, Libanon, Syrien und Irak bis zum Jemen reicht und vor allem auf den israelischen Staat zielt. Die iranischen Revolutionsgarden haben dieses Netzwerk über Jahrzehnte auf- und ausgebaut sowie finanziell unterstützt und mit Waffen ausgestattet. Hierdurch sind die Garden aktiv an der Destabilisierung von Staaten in der Region beteiligt.
Darüber hinaus verfügt die Islamische Republik über eines der größten Arsenale an ballistischen Raketen in der gesamten Region, die bereits Riad, Tel Aviv und sogar europäische Städte erreichen können. Derzeit ist weder auf iranischer noch auf europäischer Seite ein politischer Ansatz zu erkennen, der auf einen Deeskalationspfad verweisen könnte.
Bisherige Maßnahmen der Bundesregierung
Auf die veränderten innen- und außenpolitischen Entwicklungen hat die Bundesregierung mit ungewohnt deutlichen Worten reagiert. In einem Statement vom 26. Oktober 2022 verurteilte Außenministerin Annalena Baerbock die Niederschlagung der Proteste scharf, bezeichnete den Umgang des iranischen Staates mit den eigenen Bürgerinnen und Bürgern als »menschenverachtend« und erklärte, in den bilateralen Beziehungen zu Iran könne es »kein ›Weiter so‹« geben. Der angestrebte veränderte Ansatz zeigt sich bislang vor allem in einem neuen Ton gegenüber Teheran sowie in einer Reihe symbolträchtiger Schritte.
In Abstimmung mit europäischen Verbündeten hat die Bundesregierung mehrere Maßnahmenpakete geschnürt. Basis hierfür ist die 2020 von der Europäischen Union (EU) eingerichtete globale Sanktionsregelung im Bereich der Menschenrechte. Mit dieser Regelung ist die EU in der Lage, gezielt und zeitnah gegen Einzelpersonen, Organisationen und Einrichtungen vorzugehen, die für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, unabhängig davon, wo sie begangen wurden.
Im Rahmen dieser Sanktionsregelung hat der Europäische Rat seit Oktober 2022 insgesamt fünf Sanktionspakete im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen gegen iranische Individuen und Organisationen auf den Weg gebracht. Sanktioniert wurden unter anderem Mitglieder der Revolutionsgarden, führende Kräfte der Sittenpolizei, Provinzgouverneure, Abgeordnete und Kabinettsmitglieder. Ferner wurden Sanktionen gegen die staatlichen Medienanstalten IRIB (Iran Broadcasting World Service) und Press TV verhängt sowie gegen Kommunikationsbehörden, die Spyware gegen iranische Bürger und Bürgerinnen einsetzen. Die Sanktionen haben das Einfrieren von Konten und Einreiseverbote in die EU zur Folge. Außerdem werden Geschäftsverbindungen mit sanktionierten Personen und Entitäten unterbunden.
Ausrüstung bereitzustellen, die zur Repression und Überwachung der iranischen Bevölkerung genutzt werden kann, ist bereits durch frühere EU-Menschenrechtssanktionen untersagt, die seit 2011 regelmäßig verlängert worden sind. Und nicht zuletzt reagierte der Europäische Rat auf die Lieferung iranischer Drohnen an Russland, die im Krieg gegen die Ukraine zum Einsatz kommen, mit weiteren Sanktionen: gegen Personen und Einrichtungen, die an der Entwicklung und Lieferung unbemannter Luftfahrzeuge beteiligt sind.
Auf internationaler Ebene initiierte die Bundesregierung zusammen mit Island eine Sondersitzung des VN-Menschenrechtsrats, die am 24. November 2022 in Genf stattfand. Auf der Sitzung wurde das gewaltsame Vorgehen gegen die Proteste scharf verurteilt und beschlossen, einen Aufklärungsmechanismus zu etablieren. Er soll die Menschenrechtsverletzungen in der Islamischen Republik im Zusammenhang mit der Niederschlagung der Proteste aufarbeiten und hierzu Beweise sichern.
Neben diesen multilateralen Schritten sicherte die Bundesregierung Plätze in Schutzprogrammen für besonders gefährdete Personen zu und stellte Unterstützung für die iranische Zivilgesellschaft in Aussicht, zum Beispiel durch Förderprogramme in Nachbarländern. Gleichzeitig setzte sie außenwirtschaftliche Förderinstrumente für Iran aus, etwa den deutsch-iranischen Energiedialog, das Auslandsmesseprogramm und seit Januar 2023 formal auch Exportkreditgarantien.
Zudem ließ die Bundesregierung die rechtlichen Möglichkeiten prüfen, die Revolutionsgarden auf die EU-Terroristenliste zu setzen. Eine juristische Prüfung ist unabdingbar, um ein späteres Scheitern vor dem Europäischen Gerichtshof zu vermeiden. Doch selbst wenn die formalen Hürden genommen sind, stellt sich die Frage nach der politischen Sinnhaftigkeit solch einer Listung. In der Praxis ergäbe sich kein nennenswerter Mehrwert gegenüber schon bestehenden Sanktionsmaßnahmen, denn die Garden fallen bereits in unterschiedlicher Form unter andere Sanktionsregime der EU, als Entität sogar vollständig unter das Sanktionsregime zu Massenvernichtungswaffen.
Sie darüber hinaus als Terrororganisation zu führen, brächte keine zusätzlichen Beschränkungen mit sich, hätte jedoch anderweitige Folgen: Iranische Männer, die per Wehrpflicht eingezogen wurden und selbst weder an Menschenrechtsverletzungen noch an terroristischen Aktivitäten beteiligt waren, würden im äußersten Fall als Angehörige einer Terrororganisation gelten. Überdies würde es für internationale Hilfsorganisationen noch schwieriger, humanitäre Unterstützung in Iran zu leisten, da die Garden eng mit der iranischen Wirtschaft verflochten sind und wesentliche Handelsknotenpunkte wie Häfen und Grenzübergänge kontrollieren.
Zugleich würden die Europäer ihren außenpolitischen Handlungsspielraum perspektivisch verkleinern. Noch stehen zahlreiche sicherheitspolitische Herausforderungen im Raum, zu deren Bewältigung die EU auch auf Kommunikationskanäle mit Iran angewiesen sein wird, solange sie nicht allein auf militärische Mittel setzen möchte. Die Garden spielen hier als maßgeblicher politischer Akteur und bedeutendes Machtzentrum im politischen System der Islamischen Republik eine herausragende Rolle. Solche Kanäle zu schließen, ohne einen substanziellen Mehrwert zu erzielen, wäre kurzsichtig. Dennoch sprach sich das Europäische Parlament in einer Resolution vom Januar 2023 für eine Listung der Garden aus. Noch ist der Rat dieser Empfehlung nicht gefolgt, doch die Debatte geht weiter, auch in der deutschen Politik.
Feministischer Anspruch deutscher Außenpolitik
Die von Deutschland und der EU beschlossenen Maßnahmen sind als erste Schritte zu begrüßen, gehen jedoch über Symbolpolitik kaum hinaus. Dabei ist bislang ebenfalls offen, wie die Bundesregierung ihr Bekenntnis zu einer feministischen Außenpolitik, das im Koalitionsvertrag und in den neuen Leitlinien des Auswärtigen Amts festgehalten ist, im Falle Irans konkret umsetzen will. Die derzeitige Iranpolitik knüpft zwar stellenweise an feministische Grundsätze an, lässt sie aber in wesentlichen Punkten außer Acht. Dies zeigt sich vor allem daran, dass sich die deutsche Politik auf den iranischen Staat als Adressat fokussiert, wohingegen gesellschaftliche Akteure nur am Rande Berücksichtigung finden.
Feministische Außenpolitik beansprucht aber gerade, inklusiv und intersektional zu sein und damit über die staatliche Ebene hinaus Zivilgesellschaften und gesellschaftliche Bewegungen in außenpolitische Belange einzubeziehen. Im Kern geht es darum, Staatszentriertheit zu überwinden, insbesondere marginalisierte Teile der Gesellschaft unmittelbar zu berücksichtigen und sie aktiv in Prozesse außenpolitischer Entscheidungsfindung einzubinden. Des Weiteren wird ein ganzheitliches Verständnis von Sicherheit in der internationalen Politik zugrunde gelegt, nach dem Sicherheit nicht als reine Abwesenheit von Gewalt oder Konflikt aufgefasst wird, sondern auch Themen wie Geschlechter- und Klimagerechtigkeit oder das Aufbrechen sexistischer, rassistischer und kolonialer Strukturen beinhaltet. Dies legt nahe, das Sicherheitsverständnis deutscher Außenpolitik zu erweitern und die eigenen institutionellen Prozesse mit Blick auf Inklusivität und Repräsentanz zu hinterfragen.
Wenn die Bundesregierung sich von einem feministischen Ansatz leiten lassen will, wäre daher ein Perspektivwechsel geboten, der nicht länger den iranischen Staat, sondern die iranische Gesellschaft ins Zentrum rückt. Die Iranpolitik könnte hier diesen vier Grundsätzen folgen: (1) Überwindung des traditionellen Begriffs »nationaler Sicherheit« zugunsten »menschlicher Sicherheit«, (2) Beachtung und Inklusion marginalisierter Gruppen in außenpolitischen Entscheidungen, (3) Stärkung gesellschaftlicher Kräfte und zivilgesellschaftlicher Organisationen sowie Ausbau ihrer Kapazitäten, (4) Schutz vor unintendierten Folgen von Maßnahmen (beispielsweise von Sanktionen), die unterdrückte Teile der Gesellschaft treffen und in ihren Widerstandsbemühungen schwächen.
Ein von derartigen Prinzipien getragener Ansatz bedeutet keineswegs, den iranischen Staat und seine Handlungen zu ignorieren. Menschenrechtsverletzungen klar zu benennen und zu verurteilen ist dabei ebenso wichtig wie Personen und Entitäten gezielt zu sanktionieren, die an diesen beteiligt sind. Der Schutz von Menschenrechten gehört zu den wesentlichen Anliegen feministischer Außenpolitik. Deutschland sollte an regelmäßigen Sanktionspaketen festhalten. Diese helfen einerseits dabei, die Aufmerksamkeit für die Lage vor Ort wachzuhalten; andererseits senden sie Teheran beständig das Signal, dass die Menschenrechtslage auf der politischen Agenda der EU verbleiben wird, ungeachtet bestehender oder künftiger sicherheitspolitischer Vereinbarungen.
Praktische Unterstützung jenseits von Symbolpolitik
Genauso wichtig bleibt der Einsatz für politische Gefangene und insbesondere für Personen, die zum Tode verurteilt worden sind. Um hierfür alle zur Verfügung stehenden Kanäle nutzen zu können, müssen die diplomatischen Beziehungen auch in Zukunft aufrechterhalten werden. Hier sollte es eine stärkere konsularische Unterstützung für Iranerinnen und Iraner geben, die das Land verlassen wollen. Nicht der Abbau, sondern der Ausbau von Botschaftskapazitäten sollte im Fokus stehen, da er schnellere Visa- und Asylverfahren möglich macht. Dieser Kapazitätsausbau muss gegebenenfalls in den Nachbarstaaten erfolgen, die von iranischen Bürgerinnen und Bürgern visafrei bereist werden können, allen voran in der Türkei.
Die Deutsche Botschaft in Teheran bleibt auch abseits konsularischer Tätigkeiten ein wertvoller Standort, um belastbare Informationen sammeln und Protestnoten übergeben zu können. Darüber hinaus ermöglicht er, sich für Aktivistinnen und Aktivisten und nicht zuletzt für Menschen mit deutscher oder doppelter Staatsbürgerschaft einzusetzen, die in Iran inhaftiert sind und von Teheran als außenpolitisches Faustpfand missbraucht werden.
Daneben sollte die technische Unterstützung zur Umgehung der Internetzensur gestärkt werden. Das erfordert eine enge Absprache mit deutschen Firmen, um geeignete VPNs und Clouddienste bereitzustellen. Dies muss kostenfrei geschehen, wenn sie im Land genutzt werden sollen. Andernfalls stehen praktische Hürden einer erfolgreichen Umsetzung im Wege, darunter die wirtschaftliche Lage iranischer Bürgerinnen und Bürger oder der Umstand, dass häufig ausländische Kreditkarten notwendig sind, um Anwendungen zu erwerben.
Die wirtschaftlichen Einschränkungen der iranischen Bevölkerung stellen eines der größten Hindernisse für die Protestbewegung dar. Sie erschweren die Realisierung eines Generalstreiks und lassen der iranischen Zivilgesellschaft wenig Raum, ihre Kapazitäten auszubauen. Deutschland sollte daher Möglichkeiten eruieren, Finanzkanäle für die iranische Bevölkerung einzurichten, zum Beispiel über europäische Staatsbanken, die nicht ohne Weiteres Ziel US-amerikanischer Sekundärsanktionen werden können.
Die desaströse Wirtschaftslage in Iran ist in erster Linie Folge staatlichen Missmanagements, weitverbreiteter Korruption und der intransparenten Rolle von Wirtschaftsakteuren wie religiösen Stiftungen und Unternehmen der Revolutionsgarden. Internationale Sanktionen im Zuge der »Politik des maximalen Drucks« unter der Trump-Administration, die auch unter dem derzeitigen US-Präsidenten Joe Biden noch weitgehend in Kraft sind, haben die angespannte Lage weiter verschärft. Flächendeckende Sanktionen im Banken- und Finanzwesen behindern die iranische Diaspora darin, ihren Angehörigen im Land Geld zu überweisen. Doch finanzielle Unterstützung wird dringend benötigt, um den Protest aufrechtzuerhalten, Anwälte für Gefangene zu engagieren, Kautionen zu begleichen, zivilgesellschaftliche Organisationen zu stärken, die Arbeit niederlegen oder auch um einfach nur den Alltag bewältigen zu können.
Nicht zuletzt braucht es einen strukturierten Dialog mit der iranischen Menschen- und Frauenrechtscommunity in der Diaspora. Bisher gibt es keinen formalisierten Austausch mit deutschen Entscheidungsträgerinnen und ‑trägern. Dabei ist die professionelle Menschenrechtscommunity in der iranischen Diaspora nicht nur bestens mit den inneriranischen Strukturen vertraut, sondern hier auch gut vernetzt. Das Potenzial dieser Gemeinschaft wird bislang nur punktuell genutzt. Regelmäßige Treffen mit der Menschenrechtscommunity in Form von institutionalisierten Iran-Runden sind auch deshalb wichtig, weil geplante Sanktionen stets auf eventuelle Folgen für die Bevölkerung abgeklopft werden sollten, um Schaden von ihr abzuwenden. Solche Gruppen einzubinden wäre eine von vielen Möglichkeiten, dem feministischen Ansatz von Inklusion in außenpolitischen Entscheidungsprozessen gerecht zu werden.
Zum Austausch mit dieser Gemeinschaft sollte die Förderung der zivilgesellschaftlichen Vernetzung in der Region, finanziell wie logistisch, hinzukommen. Die Priorität könnte darauf liegen, vornehmlich der iranischen Frauenrechtsbewegung Wege zu ebnen, aus der nationalen Isolation auszubrechen, die diese in den letzten Jahren immer wieder beklagt hat. Das gelingt dann, wenn sie mit anderen Frauenrechtsbewegungen der Region Erfahrungen teilen und gemeinsame Strategien für gesellschaftlichen Widerstand entwerfen kann.
Anpassungen in der Sicherheitspolitik
Auch in Bereichen, in denen die europäische Sicherheit durch die Handlungen der iranischen Führung gefährdet wird, sind politische Anpassungen notwendig. In der Nuklearfrage hat Deutschland stets eine diplomatische, multilaterale Lösung angestrebt, nicht zuletzt mit dem Ziel, die regelbasierte internationale Ordnung zu stärken. Im Grundsatz deckt sich das mit den Zielen feministischer Außenpolitik.
Diese verfolgt einen antimilitaristischen Ansatz in der internationalen Politik und setzt auf Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung, die in erster Linie mit diplomatischen Mitteln und nur im äußersten Fall militärisch durchgesetzt werden sollen. Doch der Fokus liegt dabei nicht auf der Sicherheit von Staaten, sondern auf der Sicherheit von Individuen. Damit stehen in feministischen Ansätzen zur Nuklearpolitik nicht Fragen der Abschreckung oder Zweitschlagfähigkeit im Zentrum, sondern das Recht von Gesellschaften, ein Leben frei von jeglicher atomaren Bedrohung führen zu können.
Doch im Falle Irans sind die Bemühungen deutscher Politik, weitere Atomwaffen zu verhindern, zurzeit gefährdet. Zwar haben die EU-Mitgliedstaaten im Dezember 2022 bekräftigt, dass sie weiterhin an der Nuklearvereinbarung von 2015 festhalten wollen, so auch Deutschland. Aber es bleibt unklar, inwieweit das mit dem Bestreben, die Revolutionsgarden als Terrororganisation zu listen, vereinbar sein soll. Auch sonst ist eine Wiederbelebung des Atomabkommens nicht in Sicht. Denn schon bevor die Proteste im September 2022 ausbrachen, waren wesentliche Streitpunkte mit Teheran über die Bedingungen für eine vollständige Implementierung des Abkommens ungeklärt.
Daher sollte sich Berlin für einen niedrigschwelligen Ansatz stark machen. Statt das gesamte Abkommen neu zu beleben und dafür weitreichende Sanktionserleichterungen zu gewähren, sollte sich der Fokus darauf richten, eine Einigung über die Kontroll- und Verifikationsmaßnahmen zu erzielen, eine der wichtigsten Säulen der Vereinbarung. Das iranische Atomprogramm wieder unter umfassende Aufsicht der IAEO zu stellen ist der drängendste Aspekt der gegenwärtigen Nuklearkrise. Eine derartige Einigung würde zurzeit die besten Aussichten bieten, um in Nuklearfragen auf einen Deeskalationspfad zurückzukehren und eine militärische Eskalation zu verhindern.
Als Reaktion auf das Drohnenprogramm hat die EU bereits erste Sanktionen gegen Iran verhängt. Die Drohnenproduktion einzudämmen und den Export nach Russland zu verhindern ist nur schwer möglich. Teile der in iranischen Drohnen verbauten Komponenten stammen aus amerikanischer Produktion. Bislang ist es selbst mit strikten Exportkontrollen nicht gelungen, die Weitergabe entsprechender Komponenten über Drittanbieter zu unterbinden. Europäische Politik kann jedoch die politischen Kosten solcher Lieferungen erhöhen und weitere Sanktionen gegen iranische Entitäten erlassen, die am Drohnenprogramm beteiligt sind.
Vor allem muss sichergestellt werden, dass bisherige EU-Sanktionen, sowohl gegen das iranische Drohnenprogramm als auch gegen die Revolutionsgarden, nicht wieder ausgesetzt werden, wenn im Oktober 2023 einige Restriktionen, die Iran unter anderem im Bereich von Raketentechnologie auferlegt worden sind, gemäß der VN-Sicherheitsratsresolution 2231 auslaufen. Deutschland sollte sich hier in Absprache mit europäischen Verbündeten klar positionieren: Da Iran durch fortlaufende Nuklearaktivitäten, Raketentests und Drohnenexporte gegen die Resolution 2231 verstößt, sollten bestehende EU-Sanktionen in diesem Bereich nach Ablauf der VN-Restriktionen weiterhin in Kraft bleiben.
Trotz anhaltender Nuklearkrise und des Gefahrenpotenzials iranischer Drohnentechnologie sollten diese Themen nicht alleiniger Schwerpunkt der politischen Aufmerksamkeit in Deutschland sein. Auch weniger beachtete Felder wie Umwelt- oder Gesundheitspolitik sollten eine Rolle in der sicherheitspolitischen Betrachtung spielen. Zu all diesen Themen steht eine substanzielle Debatte noch aus. Eine veränderte Iranpolitik könnte sich vom bisherigen Ansatz darin unterscheiden, menschliche Sicherheit in den Vordergrund zu rücken und die Stärkung zivilgesellschaftlicher Kapazitäten als eigenständige Säule in der Außenpolitik zu verankern. Deutsche Politik steht mit Blick auf die vielfältigen Umsetzungsmöglichkeiten feministischer Ansätze noch am Anfang. Die Iranpolitik bietet Chancen, erste Weichen für eine veränderte außenpolitische Praxis zu stellen.
Dr. Azadeh Zamirirad ist Stellvertretende Leiterin der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.
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DOI: 10.18449/2023A16