Die künftige Rohstoffversorgung Europas ist mit einer Reihe von Herausforderungen verbunden. Dazu gehören die Diversifizierung europäischer Lieferketten, die Umsetzung effektiver Nachhaltigkeitsstandards und nicht zuletzt der Abbau strategischer Abhängigkeiten von China. Wie werden im Jahr 2030 die europäisch-chinesischen Rohstofflieferketten aussehen? Dazu werden im Folgenden drei Szenarien durchgespielt. Sie können politischen Akteuren helfen, plausible Vorstellungen von der Zukunft zu gewinnen und mögliche Entwicklungen gedanklich voneinander abzugrenzen. Die Szenarien zeigen, welche Effekte politische wie sozio-ökonomische Faktoren auf die europäisch-chinesischen Lieferketten haben und wie sich europäische Akteure darauf einstellen können.
Der Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Deutschlands Abhängigkeit von Energieimporten aus Russland offengelegt. Während sich die Bundesregierung bemühte, Energiesicherheit jenseits von Moskau zu gewährleisten, verstärkte sich die öffentliche Debatte, inwiefern Deutschland auch von Rohstoffen aus anderen autoritären Staaten abhängig ist.
China rückte hierbei besonders in den Fokus. Obwohl die Volksrepublik auch 2022 Deutschlands wichtigster Handelspartner war, hat sich die politische Wahrnehmung von ihr deutlich ins Negative gewendet. Deutschland und die EU blicken immer kritischer auf die Pekinger Führung unter Xi Jinping, was befördert wird durch Chinas herausfordernde Außenpolitik, seine »mahnende Neutralität« gegenüber Russlands Invasion, die Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang und die chinesische Zero-Covid-Politik samt ihrem radikalen Ende.
Der künftige Umgang mit China dürfte stark durch die Erfahrung mit Russland beeinflusst sein. Auf deutscher und europäischer Seite lautet die Devise, »nicht noch einmal die gleichen Fehler zu begehen« und deshalb strategische Abhängigkeiten von China zu reduzieren. Denn bei den mineralischen Rohstoffen – darunter vor allem bei Metallen und Industriemetallen – hat sich die Volksrepublik in den letzten zwanzig Jahren eine markante Vormachtstellung erarbeitet.
Zentrale Abhängigkeit von China
Die EU bezieht den Großteil ihrer mineralischen Rohstoffe aus Drittländern, allen voran China. 44 Prozent der dreißig Rohstoffe, die die EU als kritisch einstuft, wurden zwischen 2012 und 2016 von dort importiert; bei den seltenen Erden kommen nach aktuellen Angaben der EU sogar rund 98 Prozent des EU-Bedarfs aus China. Im Rahmen von Pekings Belt and Road Initiative (BRI) investieren chinesische Staatsunternehmen zunehmend in den weltweiten Rohstoffabbau, auch um den nationalen Eigenbedarf abdecken zu können. Außerdem hat Peking mit anderen Regierungen strategische Abkommen geschlossen, die chinesischen Staatsfirmen den Zugang zu Rohstoffen erleichtern; gleichzeitig werden Rohstoffprojekte gezielt mit Krediten chinesischer Banken gefördert.
Mittlerweile ist China an allen Stufen mineralischer Lieferketten als zentraler Akteur beteiligt. Besonders relevant ist dabei die Schmelz- und Raffinadeproduktion in der Volksrepublik. Das Land kontrolliert fast die Hälfte der globalen Raffinadeproduktion. Chinesische Akteure verbinden folglich Orte des Rohstoffabbaus – häufig im sogenannten Globalen Süden gelegen – mit Ländern, in denen die industrielle Weiterverarbeitung erfolgt. In der EU findet hingegen kaum noch Schmelz- und Raffinadeproduktion statt, woraus eine fundamentale Abhängigkeit von China resultiert.
Für die Versorgung europäischer Industrieakteure besteht daher ein erhebliches »Klumpenrisiko«. Im Herbst 2021 wurden deutsche Unternehmen bereits mit möglichen Auswirkungen konfrontiert. Aufgrund von Energiesparmaßnahmen in den Provinzen Shaanxi und Shanxi waren einige chinesische Magnesiumhütten gezwungen, ihre Produktion zu drosseln. Dies führte auf dem Weltmarkt zur Verknappung des Magnesiumangebots und zu massiven Preisanstiegen von teilweise bis zu 260 Prozent. Wie das Beispiel verdeutlicht, können lokale Vorkommnisse in China unmittelbare Folgen für das globale Wirtschaftsgeschehen haben.
Europäisch-chinesische Rohstofflieferketten im Jahr 2030
Um verschiedene Zukunftsentwicklungen abzubilden, bietet sich der Entwurf von Szenarien an. Dabei steht, anders als bei Prognosen, nicht der Grad an Wahrscheinlichkeit im Vordergrund, mit dem der entsprechende Fall eintreten wird. Maßgeblich sind vielmehr Plausibilität und innere Kohärenz. Auf Basis eines zweitägigen Foresight-Workshops mit Akteuren aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft wurden drei Szenarien gebildet, wie sich die europäisch-chinesischen Rohstofflieferketten im Jahr 2030 gestalten könnten (Näheres dazu auf S. 8 unten). Alle Szenarien basieren dabei auf zwei Annahmen: Erstens ist die Rohstoffnachfrage in Europa und der Welt 2030 weiterhin hoch, zweitens weist die EU bei mineralischen Rohstoffen eine starke Importabhängigkeit auf, auch wenn ihre eigenen Abbau- und Weiterverarbeitungskapazitäten steigen sollten.
Inhaltlich liegt der Fokus besonders auf der Verflechtung von Versorgungssicherheit, Nachhaltigkeit, Geopolitik und Geoökonomie. Grundlage der Szenarien bilden sechs Schlüsselfaktoren, die im Workshop als zentral identifiziert wurden. Sie betreffen sowohl wirtschaftliche und politische Entwicklungen in China und der EU als auch Chinas Positionierung innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft. Andere Faktoren wie etwa die sino-amerikanische Rivalität, die sicherheitspolitische Lage in Ostasien oder die Folgen des Klimawandels für Abbau und Verarbeitung mineralischer Rohstoffe spielen zwar auch eine Rolle, wurden im Workshop aber weniger stark priorisiert. Die Schlüsselfaktoren sind damit:
1. Politische und sozio-ökonomische Entwicklung innerhalb Chinas, auch mit Blick auf Nachhaltigkeit
2. Europäische Beziehungen mit China (im Allgemeinen ebenso wie speziell im Bereich Rohstoffe)
3. Standort- und Logistikrisiken (in China und von der chinesischen Politik ausgehend)
4. Stand der Diversifizierung europäischer Rohstofflieferketten (in der Analyse zusammen mit dem zweiten Faktor behandelt)
5. Entwicklung des relativen Preisniveaus und der Preisvolatilität chinesischer Rohstoffe
6. Relevanz und Wirksamkeit von Nachhaltigkeitsstandards (in der EU, in China und global)
Bei der Auswertung dieser Schlüsselfaktoren wurde der ersten Aspekt, also die innere Entwicklung in China, besonders stark gewichtet. Dies gilt umso mehr, als beim zweiten Faktor – dem europäischen Umgang mit China – der EU vor allem eine reaktive Rolle zugeschrieben wurde, auch mit spezifischem Blick auf die Zukunft der Rohstofflieferketten. Darüber hinaus wurde der vierte Faktor, der Stand bei der Diversifizierung europäischer Lieferketten, in starker Abhängigkeit von den allgemeinen Beziehungen der EU zu China betrachtet. In der Analyse wurden diese beiden Aspekte daher zusammengezogen.
Szenario 1: Verfestigung des Status quo
Entwicklung innerhalb Chinas: Der 21. Nationalkongress der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) im Oktober 2027 bestätigt erneut die Führungsrolle von Staats- und Parteichef Xi Jinping. Keine innerparteiliche Fraktion ist einflussreich genug, um seine Macht aufzubrechen. Die Wirtschaftspolitik der »zwei Kreisläufe«, also die Stärkung und Förderung des Binnenmarktes gepaart mit einem komplementären Außenwirtschaftskurs, zeigt robuste Erfolge. Der Binnenmarkt des Landes wächst, so dass Chinas Wirtschaft im Jahr 2027 unabhängiger von ausländischer Nachfrage ist. In einigen Sektoren hat sich die Volksrepublik als führende Technologiemacht etabliert. Gerade dem westlich-liberalen Ausland gegenüber zeigt man sich daher selbstbewusst. Der chinesische Weg gilt als Erfolgsstory und begründet einen starken Nationalstolz. Gleichzeitig setzt Peking weiterhin darauf, Souveränität und territoriale Integrität des chinesischen Staates zu wahren und die nationale Sicherheit aufrechtzuerhalten.
China hat eigene Standards für Nachhaltigkeit und Sorgfaltspflichten in Lieferketten entworfen und umgesetzt – unabhängig von internationalen Regimen. Die Führung lanciert globale Initiativen (wie zuletzt die Global Climate and Due Diligence Initiative), um die eigenen Standards und Leitlinien zu internationalisieren. Auf diese Weise will China seinen globalen Führungsanspruch im In- und Ausland stärken.
Europäisch-chinesische Beziehungen und Diversifizierungsstrategie der EU: Zwischen Europa und der Volksrepublik herrschen Misstrauen und Verunsicherung. China ist (hinter den USA) zwar noch immer der zweitwichtigste Handelspartner der EU, doch gibt es zahlreiche Konfliktpunkte zwischen beiden Seiten. Sie betreffen Chinas restriktive Wirtschaftspolitik, die gravierenden Menschenrechtsverletzungen im Land, Pekings globalen Führungsanspruch und die geopolitischen Spannungen, die daraus resultieren. Diese Auseinandersetzungen spiegeln sich in der Neufassung der europäischen China-Strategie. Dort wird Xis Volksrepublik ausschließlich als Wettbewerber und Rivale betrachtet. Ziel der EU ist, die Wirtschaftsbeziehungen mit China in Bereichen aufrechtzuerhalten, die für Europa wichtig sind – was vor allem für den Rohstoffhandel gilt.
Um die Abhängigkeit von China auf diesem Sektor zu reduzieren, hat die EU im Laufe der 20er Jahre große Summen in den europäischen Bergbau investiert. So werden 2030 wichtige Rohstoffe wie Lithium und seltene Erden zum Teil in Europa abgebaut, zudem wird ein höherer Anteil an Rohstoffen recycelt. Auch muss die Wertschöpfungskette, etwa bei Kupfer, weniger oft den Umweg über China nehmen. Die Weiterverarbeitung findet mittlerweile in Europa oder in anderen Ländern jenseits der Volksrepublik statt. Dies wird von der EU finanziell unterstützt, damit europäische Firmen bevorzugt beliefert werden. Seit den geopolitischen Krisen zu Beginn der 20er Jahre setzt die EU außerdem verstärkt auf die Strategie des »Friendshorings«, also der Kooperation mit »gleichgesinnten« und risikoarmen Ländern. Zu diesem Zweck hat sie Rohstoffpartnerschaften revitalisiert und auf diesem Feld ein weltweites Netz an strategischen Partnern geschaffen. Zeitgleich jedoch ist in der EU der Bedarf an bestimmten kritischen Rohstoffen wie etwa seltenen Erden so stark gewachsen, dass hier weiterhin hohe Abhängigkeiten von China bestehen.
Standort- und Logistikrisiken: Im Handel mit China nehmen standort- und logistikbezogene Risiken zu. Häufige Extremwetterereignisse, Probleme im Gesundheitssystem und der demographische Wandel stellen chinesische Unternehmen vor eine ganze Reihe an Herausforderungen. Allerdings nutzt die chinesische Führung alle ihr möglichen Mittel, um die wirtschaftliche Produktion am Laufen zu halten.
Preisniveau und Volatilität: Mineralische Rohstoffe aus China sind teuer, dabei ist die Preisentwicklung volatil. Um den Eigenbedarf zu decken, die Vorgaben der »Zwei Kreisläufe«-Politik zu erfüllen und die eigenen Klimaziele nicht zu verfehlen, hat die Volksrepublik in den letzten Jahren immer wieder Exportbeschränkungen erlassen. Dadurch wurde das Angebot an bestimmten Rohstoffen auf dem internationalen Markt verknappt. Daneben häufen sich Energie-Engpässe und durch den Klimawandel bedingte Naturkatastrophen. Solchen Notlagen muss Peking zunehmend mit kostenintensiven Subventions- und Wiederaufbaumaßnahmen begegnen. Dass die Preise mineralischer Rohstoffe sich auf hohem Niveau bewegen, hat zugleich mit anhaltenden politischen Spannungen im Verhältnis zu EU und USA zu tun.
Bedeutung von Nachhaltigkeitsstandards: Die EU hat Mitte der 20er Jahre ein umfassendes Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz verabschiedet, das von den Mitgliedstaaten umgesetzt wird. Jedoch gibt es gravierende Unterschiede gegenüber ähnlichen Regelungen in China, die weniger umfassend sind, lediglich ökologische Standards setzen und dem Ziel folgen, die CO2-Neutralität bis 2060 zu erreichen. Zudem wird die Schmelz- und Raffinadeproduktion in der Volksrepublik von großen, einflussreichen Staatsunternehmen kontrolliert, wobei die Abläufe oft intransparent sind. All dies erschwert es europäischen Unternehmen, die Lieferketten nachzuverfolgen. Auch werden die in China geltenden Sozial- und Arbeitsrechte den hohen Standards der EU nicht gerecht. Aus der europäischen Zivilgesellschaft gibt es daher Rufe, sich gänzlich oder zumindest teilweise aus China zurückzuziehen. Stattdessen solle mit Staaten kooperiert werden, die sich bereit zeigen, strenge Nachhaltigkeitsanforderungen zu erfüllen. Die Rohstoffpartnerschaften spielen dabei eine zentrale Rolle, da sie anderen Ländern effektive Anreize zur nachhaltigen Gestaltung ihrer Lieferketten bieten.
Hieraus ergeben sich für die europäisch-chinesischen Rohstofflieferketten sowohl Chancen als auch Risiken:
Chancen: Die Abhängigkeit Europas von chinesischen Rohstoffen ist deutlich reduziert, gleichzeitig wurde die eigene Versorgungssicherheit gestärkt. Über Rohstoffpartnerschaften konnten neue Lieferketten erschlossen und Nachhaltigkeitsstandards in Drittländern erhöht werden. Auf dem Feld von Forschung und Entwicklung gibt es eine Vielzahl an Kooperationen und Investitionen. Ihnen verdankt sich eine Zunahme technologischer Innovationen, die es ermöglichen, Rohstoffabbau und ‑verarbeitung umweltverträglicher zu gestalten.
Risiken: Die EU verliert als Akteur weltweit an Glaubwürdigkeit, weil sie im Handel mit China Ausnahmeregelungen bei Nachhaltigkeitsstandards zulässt. Durch den verstärkten Abbau von Rohstoffen innerhalb Europas werden nicht nur Lieferketten zurückverlagert. Vielmehr erwachsen aus dem »Reshoring« auch Probleme in der EU, etwa mit Blick auf Umweltrisiken und sozialen Widerstand. Geopolitisch befördern Rohstoffpartnerschaften und Zusammenschlüsse »befreundeter« Staaten einerseits sowie die strategische Außenpolitik Chinas andererseits eine Blockbildung.
Szenario 2: Kooperation für Nachhaltigkeit und Versorgungssicherheit
Entwicklung innerhalb Chinas: Die Regierung Xi ist in den 20er Jahren mit einer Reihe politischer und wirtschaftlicher Herausforderungen konfrontiert. Zunehmend lange Dürreperioden sowie Versteppung lassen Engpässe bei Wasser und Nahrungsmitteln entstehen. Die unkontrollierte Corona-Durchseuchung der Bevölkerung zu Beginn der Dekade hat langfristige Folgen; dazu gehören eine hohe Zahl an »Long Covid«-Fällen bei den 20- bis 30-Jährigen und ein Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit auf bis zu 30 Prozent (2026). Der Ausbau des Gesundheitssystems, der Mangel an Arbeits- und Fachkräften sowie die jahrelange Stagnation der Kaufkraft führen zu massiven Einbußen der chinesischen Wirtschaftsleistung. Vor diesem Hintergrund erstarken in der KPCh neue oppositionelle Kräfte. Die unumstrittene Loyalität gegenüber Xi ist gebrochen. Nach dem 21. Parteikongress rückt er in den Hintergrund und behält einzig den Vorsitz der Zentralen Militärkommission. An die Spitze tritt eine verjüngte Führung, die bemüht ist, wirtschaftliche und sozialpolitische Reformen durchzusetzen. Der Ansatz der »zwei Kreisläufe« wird abgelöst von der Devise »Re‑open China«, die eine neue Ära des Austauschs mit Europa und den asiatischen Nachbarstaaten einleiten soll. Global rücken planetarische Herausforderungen in den Mittelpunkt von Verhandlungen. Dabei zeigt sich Peking bei Klimaschutz und nachhaltiger Gestaltung von Lieferketten zunehmend zur Kooperation bereit.
Europäisch-chinesische Beziehungen und Diversifizierungsstrategie der EU: Die drastischen Veränderungen in China zusammen mit der Perspektive auf eine Volksrepublik nach Xi ermutigen europäische Entscheidungsträgerinnen und -träger, wieder aktiv auf Peking zuzugehen. Der EU-China-Sondergipfel im Frühjahr 2028 besiegelt diesen Neuanfang. Gegenseitige Sanktionen werden aufgehoben, und eine Delegation des Europa-Parlaments reist nach Xinjiang und Tibet. In der gemeinsam erarbeiteten Gipfelerklärung werden Leuchtturmprojekte der Zusammenarbeit benannt. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf dem Rohstoffsektor. Die politische Stabilität und eine anhaltend positive Wirtschaftsentwicklung in der EU haben dafür günstige Bedingungen geschaffen. Der Rohstoffhandel zwischen EU und China wird durch ein umfassendes Handelsabkommen gefestigt.
Angesichts der guten Beziehungen zu China fehlt in der EU der politische Wille wie auch der zivilgesellschaftliche Druck, um eine umfassende Diversifizierung europäischer Lieferketten anzugehen. Daneben scheitern mehrere Versuche, innerhalb der EU neue Bergbauprojekte zu realisieren und Raffinerien aufzubauen, am Widerstand der lokalen Bevölkerung.
Standort- und Logistikrisiken: Im europäisch-chinesischen Rohstoffhandel spielen Standort- und Logistikrisiken nur eine geringe Rolle. Die EU und China etablieren ein gemeinsames Disaster Response Network, um sich gerade mit Blick auf Katastrophenschutz und die Zunahme von Extremwettersituationen gegenseitig mit Expertise, Gerät und Fachwissen zu unterstützen. Ein neuartiges Frühwarnsystem trägt dazu bei, dass sich die Zuverlässigkeit von Produktionsketten und Infrastruktur in den meisten Fällen aufrechterhalten lässt.
Bedeutung von Nachhaltigkeitsstandards: Rohstofflieferketten sind 2030 von höherer Nachhaltigkeit geprägt als noch vor einigen Jahren. Damit einhergehend ist auch die Versorgungssicherheit innerhalb der EU gestiegen. Zwar ist der Anteil chinesischer Rohstoffe dabei noch immer hoch; angesichts kooperativer, stabiler Beziehungen gilt dies jedoch als handhabbar. Gleichzeitig erkennen sowohl die EU als auch China die Notwendigkeit des Klimaschutzes und der Klimafolgenanpassung an. In China werden zunehmend einheimische NGOs in die Diskussion um Nachhaltigkeit und Sorgfaltspflichten einbezogen. Die Plattform für den Austausch mit europäischen NGOs bildet das frühere Deutsch-Chinesische Zentrum für Nachhaltige Entwicklung (ZNE), das seit 2028 als Europäisch-Chinesisches Zentrum gemeinsame Leitlinien für hohe Nachhaltigkeitsstandards erarbeitet. Dies bietet eine Basis für internationale Kooperation.
Preisniveau und Volatilität: Auf dem Rohstoffmarkt gibt es wenig Unsicherheit; die Preise sind hoch, aber stabil. Grund dafür sind eine starke innerchinesische und internationale Nachfrage sowie die Umsetzung strenger Nachhaltigkeitsstandards. Sofern diese eingehalten werden, akzeptieren Verbraucher und Verbraucherinnen die erhöhten Preise.
Chancen: Konvergenz der Interessen und einvernehmliche Zusammenarbeit haben bewirkt, dass in den europäisch-chinesischen Rohstofflieferketten sowohl die Versorgungssicherheit als auch die Nachhaltigkeit deutlich gestiegen sind. Die EU-China-Beziehungen gewinnen eine Vorbildrolle und setzen so einen Trend, der weltweit zu höheren Nachhaltigkeitsstandards führt.
Risiken: Die Abhängigkeit von chinesischen Rohstoffen verfestigt sich, das Klumpenrisiko ist unvermindert hoch. Auf mögliche Zukunftsgefahren, etwa einen Führungswechsel und Instabilität in China, ist die EU kaum vorbereitet. Der innereuropäische Bergbau stagniert, und auch der Fortschritt beim Recycling ist weit hinter den einstigen Erwartungen geblieben, wird man doch stetig mit Primärrohstoffen versorgt, die sich zudem auch effizienter nutzen lassen. Der gemeinsamen Zielsetzung beim Klimaschutz sucht man in erster Linie über CO2-Reduktionen im Rohstoffsektor gerecht zu werden.
Szenario 3: Politische und wirtschaftliche Entkoppelung
Entwicklung innerhalb Chinas: Ende der 20er Jahre befindet sich China im Dauerkrisenmodus. Eine anhaltende Wirtschafts- und Finanzkrise sowie Extremwettersituationen erschüttern das Land; das Gesundheitssystem ist überfordert. Die alternde Führung unter Xi erscheint ratlos, und im ganzen Land brechen Unruhen aus. Anfangs können diese noch relativ leicht von der bewaffneten Volkspolizei eingehegt werden, doch vereinzelt kommt es zu brutalen Übergriffen der Sicherheitskräfte, die im Tod eines zwölfjährigen Jungen kulminieren. Dies löst eine Gewaltspirale aus, die Großstädte wie Shanghai, Shenzhen und Qingdao zeitweise vollständig lähmt. Innerhalb der KPCh wird der Ruf lauter, die Ordnung wiederherzustellen. Auch viele Akteure, die bislang loyal zu Xi standen, distanzieren sich öffentlich von ihm und befürworten ein hartes Vorgehen der Volkspolizei. Eine Reihe hochrangiger Kader unterstützt den Beschluss, die Volksbefreiungsarmee zur Befriedung zentraler Brennpunkte einzusetzen.
Während die Proteste gewaltsam niedergeschlagen werden, übernimmt eine kleine Gruppe von Hardlinern und Gefolgsleuten des Militärs die politischen Geschicke des Landes. Der 21. Parteikongress besiegelt dann auch offiziell das Ende der Ära Xi. In der Folge verschlechtert sich die Menschenrechtslage im Land massiv. Ein digitales Kontrollsystem wird eingeführt, das – ähnlich wie zu Zeiten der Null-Covid-Politik – den Aktivitätsraum der Menschen extrem verengt. Ausländische Journalistinnen und Journalisten müssen China verlassen. Informations- und Meinungsfreiheit werden immer weiter beschränkt, und die Eingriffe des Staates in das Privatleben der Bevölkerung verschärfen sich.
Europäisch-chinesische Beziehungen und Diversifizierungsstrategie der EU: Als Antwort auf die Repressionen der chinesischen Führung im Innern hat die EU, abgestimmt mit internationalen Partnern, Sanktionen gegen die Volksrepublik erlassen. Peking reagiert seinerseits mit Handelsbeschränkungen und einem Exportverbot für seltene Erden, auch weil das chinesische Militär die nationale Versorgung priorisiert. Gegenüber westlichen Industriestaaten zeigt sich China zunehmend feindselig. Parallel dazu baut es seine Allianzen mit Autokratien und Diktaturen weltweit aus; offen proklamiert man die baldige Wiedervereinigung mit Taiwan um jeden Preis.
Die angespannten Beziehungen mit China und die andauernden Krisen im Innern des Landes lassen die EU um ihre Versorgungssicherheit bei Rohstoffen fürchten. Als Konsequenz verstärkt sie die Rohstoffpartnerschaften mit strategischen und aus ihrer Sicht vertrauenswürdigen Akteuren wie Australien, Kanada sowie zentralen Staaten in Lateinamerika und Afrika. Zugleich treibt sie Bergbau und Rohstoffverarbeitung in den eigenen Mitgliedstaaten voran. Für diese Diversifizierungsstrategie werden massive Finanzmittel bereitgestellt; die Global-Gateway-Initiative der EU wird ausgeweitet zur European Infrastructure Resilience Initiative.
Standort- und Logistikrisiken: Die politische und wirtschaftliche Instabilität Chinas trägt zu hohen Standort- und Logistikrisiken bei. Verhaftungswellen, lokale Unruhen und Naturkatastrophen sorgen immer wieder für Lieferunterbrechungen.
Preisniveau und Volatilität: Die instabile Gesamtsituation führt weltweit zu volatilen Rohstoffpreisen auf anhaltend hohem Niveau, die weder durch eigenen Abbau noch durch Vereinbarungen mit Rohstoffpartnern abgefedert werden können.
Bedeutung von Nachhaltigkeitsstandards: In China spielt Nachhaltigkeit keine Rolle mehr, soziale und ökologische Standards haben sich in vieler Hinsicht sogar weiter verschlechtert. Auf Druck der Zivilgesellschaft in EU-Staaten werden die Beziehungen europäischer zu chinesischen Unternehmen zum Teil ausgesetzt, was signifikante Einbußen für die europäische Wirtschaft mit sich bringt. Die Sorge um mögliche Engpässe bei der Versorgung mit wichtigen Rohstoffen überlagert einstige Initiativen zugunsten von mehr Nachhaltigkeit in globalen Lieferketten. Das EU-Sorgfaltspflichtengesetz wird letztlich auf Eis gelegt und der Fokus ausschließlich darauf gerichtet, neue Bezugsquellen für Rohstoffe zu finden.
Chancen: Temporäre Versorgungsengpässe der EU bei wichtigen Rohstoffen lassen sich teilweise auffangen, weil die Bezugsquellen diversifiziert werden. Aus der Not heraus sind neue Partnerschaften entstanden, die der EU ein Mehr an Zugang und Planbarkeit sichern. Um die Abhängigkeit von Rohstoffimporten zu reduzieren, hat die EU außerdem massive Investitionen im Bereich von Rohstoffgewinnung und -nutzung sowie beim Recycling angestoßen.
Risiken: Die instabile Lage und der Führungswechsel in China stören die Handelsströme weltweit und stellen viele Länder vor Versorgungsengpässe. Die daraus resultierende Notwendigkeit, neue Rohstoffquellen zu erschließen, zieht Konkurrenzkämpfe nach sich – zwischen den geopolitischen Blöcken, aber auch innerhalb bestehender Allianzen. Unterdessen sind Bestrebungen für Nachhaltigkeitsstrategien gänzlich in den Hintergrund gerückt. Die global hohe Nachfrage nach schneller Versorgung lässt in vielen Rohstofflieferketten die menschenrechtlichen Risiken erheblich steigen, etwa weil Sozial- und Arbeitsstandards abgebaut oder Umweltprüfverfahren verkürzt werden. Dies wiederum beeinflusst die Versorgungssicherheit negativ, denn weltweit kommt es vermehrt zu Streiks und Protesten im Rohstoffsektor, was Bergbauprojekte gefährdet. Die Energiewende in der EU stagniert mangels notwendiger Rohstoffe. Als Folge der Sanktionen gegen China erleben die europäischen Staaten erhebliche Wirtschaftseinbrüche und Wohlstandsverluste.
Politikempfehlungen
Die hier beschriebenen Szenarien verdeutlichen: Politische Entscheidungsträger in der EU müssen ein breites Geflecht an Faktoren berücksichtigen, wenn sie langfristige Strategien zur Versorgungssicherheit in mineralischen Lieferketten formulieren. Nur so lassen sich tragfähige und zukunftsorientierte Lösungen finden. Ein zentraler Aspekt ist dabei die Entwicklung innerhalb Chinas – sie hat in diesen Szenarien maßgeblichen Einfluss auf die europäisch-chinesischen (Rohstoff-)Beziehungen. Unter dieser Prämisse ist der Aufbau von China-Kompetenz durch strategische Analyse für Politik und Unternehmen die Grundvoraussetzung, um auf unterschiedliche Situationen und Ereignisse vorbereitet zu sein. Entscheidend ist die Fähigkeit zum Dekodieren der chinesischen Debatte. Es gilt also zu erkennen, wie sich Pekings Leitlinien, Gesetze und Pläne zu nachhaltiger Entwicklung oder Sorgfaltspflicht inhaltlich entwickeln, inwiefern sie von EU-Verordnungen abweichen und wie China seine Rohstoffpolitik strategisch gestaltet.
Politische Entscheidungsträger in der EU können den Gang der Dinge in China nicht aktiv beeinflussen. Sie können aber sehr wohl die Resilienz der europäischen Rohstofflieferketten erhöhen, indem sie sich auf unterschiedliche Szenarien vorbereiten. So ist der Critical Raw Materials Act der EU, der gerade von der Kommission erarbeitet wird, die entscheidende Grundlage, um Europas Rohstoffversorgung langfristig zu gewährleisten. Bei der Umsetzung einer solchen Strategie sollten politische Entscheidungsträger die hier entworfenen Szenarien im Blick behalten.
Szenario 1 zeigt Umwelt- und Nachhaltigkeitsrisiken auf, die durch Reshoring in die EU entstehen und mit Akzeptanzproblemen in der Bevölkerung einhergehen. Folglich kann die EU sich nicht nur darauf konzentrieren, ob Rohstoffvorhaben in eigenen Mitgliedstaaten technisch realisierbar sind. Nötig ist ebenso, eine gesellschaftliche Debatte über Rohstoffabbau in Europa zu führen und gleichzeitig hohe Nachhaltigkeitsstandards umzusetzen. Auch sollte die EU gezielt einer Blockbildung entgegenwirken, wenn sie Friendshoring im Rohstoffsektor betreibt. Jenseits der Staaten, die schon hohe Standards umsetzen, könnte sie beispielsweise solchen Staaten Angebote unterbreiten, die bereit sind, die Bedingungen im Rohstoffsektor zu verbessern. Zudem könnte die EU offerieren, Governance-Reformen zu unterstützen, und dadurch Anreize setzen, dass sie für den Fall erfolgreicher Implementierung eine Kooperation im Rohstoffsektor in Aussicht stellt.
Szenario 2 gibt zu erkennen, dass die EU sich nicht auf positive Entwicklungen in China verlassen kann, sondern unabhängig davon Ansätze zu Diversifizierung und Kreislaufwirtschaft verfolgen sollte. Dies bedeutet nicht, eine Entkopplung von China anzustreben, die weder realistisch noch politisch zielführend wäre. Vielmehr sollte die EU strategisch relevante Sektoren identifizieren, die jeweiligen Rohstoffbedarfe ermitteln und das Klumpenrisiko dort verringern.
Szenario 3 verdeutlicht, dass die EU aktiv daran arbeiten muss, entlang globaler Lieferketten hohe Nachhaltigkeitsstandards und Sorgfaltspflichten zu verankern wie auch umzusetzen. Nachhaltigkeit bildet ein grundlegendes Element von Versorgungssicherheit und Lieferkettenresilienz, nicht zuletzt deshalb, weil in Zeiten zunehmender Unsicherheit garantiert sein muss, dass Menschenrechte und Umweltstandards eingehalten werden. Die Umsetzung des europäischen Sorgfaltspflichtengesetzes bietet die Möglichkeit, ein »level playing field« für europäische Firmen zu schaffen. Ferner sollte die EU sich aktiv in UN-Verhandlungen zur Schaffung verbindlicher und global gültiger Sorgfaltspflichten einbringen.
Im Falle einer Verschlechterung der europäisch-chinesischen Beziehungen sollte sich die EU bemühen, ihre Kontakte in den politischen Apparat der Volksrepublik zu wahren und offizielle Kommunikationskanäle weiter zu bespielen. Schon jetzt ist daher wichtig, strategische Zugänge zum Regime in Peking zu identifizieren. Bestehende Plattformen wie das Deutsch-Chinesische Zentrum für Nachhaltige Entwicklung sollten genutzt werden, damit sich auch in Krisenzeiten der Informationsfluss aus China heraus gewährleisten lässt.
Dr. Nadine Godehardt ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Asien. Dr. Melanie Müller ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten sowie Leiterin des SWP-Anteils am Forschungsnetzwerk Nachhaltige Globale Lieferketten. Inga Carry arbeitet an der SWP als Wissenschaftlerin in diesem Projekt. Das Projekt wird vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) gefördert.
Der Foresight-Workshop, aus dem die Szenarien dieses Papiers hervorgegangen sind, wurde gemeinsam mit der Organisationsberatung »Foresight Intelligence« unter Leitung von Dr. Johannes Gabriel durchgeführt. Der erste Termin fand im April 2022, der zweite im Juni 2022 statt.
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DOI: 10.18449/2023A15