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Die Zukunft europäisch-chinesischer Rohstofflieferketten

Drei Szenarien für das Jahr 2030 – und was sich daraus ergibt

SWP-Aktuell 2023/A 15, 01.03.2023, 8 Seiten

doi:10.18449/2023A15

Forschungsgebiete

Die künftige Rohstoffversorgung Europas ist mit einer Reihe von Herausforderungen verbunden. Dazu gehören die Diversifizierung europäischer Lieferketten, die Um­set­zung effektiver Nachhaltigkeitsstandards und nicht zuletzt der Abbau strategischer Abhängigkeiten von China. Wie werden im Jahr 2030 die europäisch-chinesi­schen Rohstofflieferketten aussehen? Dazu werden im Folgenden drei Szenarien durch­gespielt. Sie können politischen Akteuren helfen, plausible Vorstellungen von der Zukunft zu gewinnen und mögliche Entwicklungen gedanklich voneinander ab­zu­grenzen. Die Szenarien zeigen, welche Effekte politische wie sozio-ökonomische Faktoren auf die europäisch-chinesischen Lieferketten haben und wie sich europäische Akteure darauf einstellen können.

Der Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Deutschlands Abhängigkeit von Energie­importen aus Russland offengelegt. Wäh­rend sich die Bundesregierung bemühte, Energie­sicherheit jenseits von Moskau zu gewährleisten, verstärkte sich die öffent­liche Debatte, inwiefern Deutschland auch von Rohstoffen aus anderen autoritären Staaten abhängig ist.

China rückte hierbei besonders in den Fokus. Obwohl die Volksrepublik auch 2022 Deutschlands wichtigster Handelspartner war, hat sich die politische Wahr­nehmung von ihr deutlich ins Nega­tive gewendet. Deutschland und die EU blicken immer kritischer auf die Pekinger Führung unter Xi Jinping, was befördert wird durch Chinas herausfordernde Außenpolitik, seine »mahnende Neutralität« gegenüber Russlands Invasion, die Menschenrechts­verletzungen in Xinjiang und die chinesische Zero-Covid-Politik samt ihrem radi­kalen Ende.

Der künftige Umgang mit China dürfte stark durch die Erfahrung mit Russland beeinflusst sein. Auf deutscher und euro­päischer Seite lautet die Devise, »nicht noch einmal die gleichen Fehler zu begehen« und deshalb strategische Abhängigkeiten von China zu reduzieren. Denn bei den mineralischen Rohstoffen – darunter vor allem bei Metallen und Industriemetallen – hat sich die Volksrepublik in den letzten zwanzig Jahren eine markante Vormachtstellung erarbeitet.

Zentrale Abhängigkeit von China

Die EU bezieht den Großteil ihrer mineralischen Rohstoffe aus Drittländern, allen vor­an China. 44 Prozent der dreißig Rohstoffe, die die EU als kritisch einstuft, wurden zwi­schen 2012 und 2016 von dort importiert; bei den seltenen Erden kommen nach aktu­ellen Angaben der EU sogar rund 98 Pro­zent des EU-Bedarfs aus China. Im Rahmen von Pekings Belt and Road Initiative (BRI) investieren chinesische Staatsunternehmen zunehmend in den weltweiten Rohstoff­abbau, auch um den nationalen Eigen­bedarf abdecken zu können. Außerdem hat Peking mit anderen Regierungen strate­gische Ab­kommen geschlossen, die chinesi­schen Staatsfirmen den Zugang zu Roh­stof­fen er­leichtern; gleichzeitig werden Roh­stoff­projekte gezielt mit Krediten chine­si­scher Banken gefördert.

Mittlerweile ist China an allen Stufen mineralischer Lieferketten als zentraler Akteur beteiligt. Besonders relevant ist da­bei die Schmelz- und Raffinadeproduktion in der Volksrepublik. Das Land kon­trolliert fast die Hälfte der globalen Raffina­de­produktion. Chinesische Akteure ver­binden folglich Orte des Rohstoffabbaus – häufig im sogenannten Globalen Süden gelegen – mit Ländern, in denen die indus­trielle Wei­terverarbeitung erfolgt. In der EU findet hingegen kaum noch Schmelz- und Raffi­nadeproduktion statt, woraus eine fun­da­men­tale Abhängigkeit von China resultiert.

Für die Versorgung europäischer Indus­trieakteure besteht daher ein erhebliches »Klumpenrisiko«. Im Herbst 2021 wurden deutsche Unternehmen bereits mit mögli­chen Auswirkungen konfrontiert. Aufgrund von Energiesparmaßnahmen in den Pro­vinzen Shaanxi und Shanxi waren einige chinesische Magnesiumhütten gezwungen, ihre Produktion zu drosseln. Dies führte auf dem Weltmarkt zur Verknappung des Mag­nesiumangebots und zu massiven Preis­anstiegen von teilweise bis zu 260 Prozent. Wie das Beispiel verdeutlicht, können lokale Vorkommnisse in China unmittel­bare Folgen für das globale Wirtschafts­geschehen haben.

Europäisch-chinesische Roh­stoff­lieferketten im Jahr 2030

Um verschiedene Zukunftsentwicklungen abzubilden, bietet sich der Entwurf von Szenarien an. Dabei steht, anders als bei Prognosen, nicht der Grad an Wahrscheinlichkeit im Vordergrund, mit dem der ent­sprechende Fall eintreten wird. Maßgeblich sind vielmehr Plausibilität und innere Kohä­renz. Auf Basis eines zweitägigen Foresight-Workshops mit Akteuren aus Politik, Wirt­schaft und Wissenschaft wurden drei Sze­narien gebildet, wie sich die europäisch-chinesischen Rohstofflieferketten im Jahr 2030 gestalten könnten (Näheres dazu auf S. 8 unten). Alle Szenarien basieren dabei auf zwei Annahmen: Erstens ist die Roh­stoffnachfrage in Europa und der Welt 2030 weiterhin hoch, zweitens weist die EU bei mineralischen Rohstoffen eine starke Importabhängigkeit auf, auch wenn ihre eigenen Abbau- und Weiterverarbeitungskapazitäten steigen sollten.

Inhaltlich liegt der Fokus besonders auf der Verflechtung von Versorgungssicherheit, Nachhaltigkeit, Geopolitik und Geo­ökonomie. Grundlage der Szenarien bilden sechs Schlüsselfaktoren, die im Workshop als zentral identifiziert wurden. Sie betref­fen sowohl wirtschaftliche und politische Entwicklungen in China und der EU als auch Chinas Positionierung innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft. Andere Faktoren wie etwa die sino-ameri­kanische Rivalität, die sicherheitspolitische Lage in Ostasien oder die Folgen des Klima­wandels für Abbau und Verarbeitung mine­ralischer Rohstoffe spielen zwar auch eine Rolle, wurden im Workshop aber weniger stark priorisiert. Die Schlüsselfaktoren sind damit:

1. Politische und sozio-ökonomische Entwicklung innerhalb Chinas, auch mit Blick auf Nachhaltigkeit

2. Europäische Beziehungen mit China (im Allgemeinen ebenso wie speziell im Bereich Rohstoffe)

3. Standort- und Logistikrisiken (in China und von der chinesischen Politik ausgehend)

4. Stand der Diversifizierung europäischer Rohstofflieferketten (in der Analyse zusammen mit dem zweiten Faktor behan­delt)

5. Entwicklung des relativen Preisniveaus und der Preisvolatilität chinesischer Roh­stoffe

6. Relevanz und Wirksamkeit von Nachhaltigkeitsstandards (in der EU, in China und global)

Bei der Auswertung dieser Schlüssel­faktoren wurde der ersten Aspekt, also die innere Entwicklung in China, besonders stark gewichtet. Dies gilt umso mehr, als beim zweiten Faktor – dem europäischen Umgang mit China – der EU vor allem eine reaktive Rolle zugeschrieben wurde, auch mit spezifischem Blick auf die Zukunft der Rohstofflieferketten. Darüber hinaus wurde der vierte Faktor, der Stand bei der Diver­si­fizierung europäischer Lieferketten, in star­ker Abhängigkeit von den allgemeinen Beziehungen der EU zu China betrachtet. In der Analyse wurden diese beiden Aspekte daher zusammengezogen.

Szenario 1: Verfestigung des Status quo

Entwicklung innerhalb Chinas: Der 21. Natio­nalkongress der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) im Oktober 2027 bestätigt erneut die Führungsrolle von Staats- und Parteichef Xi Jinping. Keine innerpartei­liche Fraktion ist einflussreich genug, um seine Macht aufzubrechen. Die Wirtschafts­politik der »zwei Kreisläufe«, also die Stär­kung und Förderung des Binnenmarktes gepaart mit einem komplementären Außen­wirtschaftskurs, zeigt robuste Erfolge. Der Binnenmarkt des Landes wächst, so dass Chinas Wirtschaft im Jahr 2027 unabhän­giger von ausländischer Nachfrage ist. In einigen Sektoren hat sich die Volksrepublik als führende Technologiemacht etabliert. Gerade dem westlich-liberalen Ausland gegenüber zeigt man sich daher selbstbewusst. Der chinesische Weg gilt als Erfolgs­story und begründet einen starken Natio­nalstolz. Gleichzeitig setzt Peking weiterhin darauf, Souveränität und territoriale Inte­grität des chinesischen Staates zu wahren und die nationale Sicherheit aufrechtzu­erhalten.

China hat eigene Standards für Nachhaltigkeit und Sorgfaltspflichten in Lieferketten entworfen und umgesetzt – unabhängig von internationalen Regimen. Die Füh­rung lanciert globale Initiativen (wie zuletzt die Global Climate and Due Diligence Initia­tive), um die eigenen Standards und Leit­linien zu internationalisieren. Auf diese Weise will China seinen globalen Führungs­anspruch im In- und Ausland stärken.

Europäisch-chinesische Beziehungen und Diver­sifizierungsstrategie der EU: Zwischen Europa und der Volksrepublik herrschen Miss­trau­en und Verunsicherung. China ist (hinter den USA) zwar noch immer der zweitwichtigste Handelspartner der EU, doch gibt es zahlreiche Konfliktpunkte zwischen beiden Seiten. Sie betreffen Chinas restriktive Wirt­schaftspolitik, die gravierenden Menschenrechtsverletzungen im Land, Pekings globa­len Führungsanspruch und die geopolitischen Spannungen, die daraus resultieren. Diese Auseinandersetzungen spiegeln sich in der Neufassung der europäischen China-Strategie. Dort wird Xis Volksrepublik aus­schließlich als Wettbewerber und Rivale betrachtet. Ziel der EU ist, die Wirtschaftsbeziehungen mit China in Bereichen auf­­rechtzuerhalten, die für Europa wichtig sind – was vor allem für den Rohstoffhandel gilt.

Um die Abhängigkeit von China auf diesem Sektor zu reduzieren, hat die EU im Laufe der 20er Jahre große Summen in den europäischen Bergbau investiert. So werden 2030 wichtige Rohstoffe wie Lithium und seltene Erden zum Teil in Europa abgebaut, zudem wird ein höherer Anteil an Rohstof­fen recycelt. Auch muss die Wertschöpfungskette, etwa bei Kupfer, weniger oft den Umweg über China nehmen. Die Wei­terverarbeitung findet mittlerweile in Europa oder in anderen Ländern jenseits der Volksrepublik statt. Dies wird von der EU finanziell unterstützt, damit europäische Firmen bevorzugt beliefert werden. Seit den geopolitischen Krisen zu Beginn der 20er Jahre setzt die EU außerdem ver­stärkt auf die Strategie des »Friendshorings«, also der Kooperation mit »gleichgesinnten« und risikoarmen Ländern. Zu diesem Zweck hat sie Rohstoffpartnerschaften revitalisiert und auf diesem Feld ein weltweites Netz an strategischen Partnern geschaffen. Zeit­gleich jedoch ist in der EU der Bedarf an bestimmten kritischen Rohstoffen wie etwa seltenen Erden so stark gewachsen, dass hier weiterhin hohe Abhängigkeiten von China bestehen.

Standort- und Logistikrisiken: Im Handel mit China nehmen standort- und logistikbezogene Risiken zu. Häufige Extremwetter­ereignisse, Probleme im Gesundheitssystem und der demographische Wandel stellen chine­sische Unternehmen vor eine ganze Reihe an Herausforderungen. Allerdings nutzt die chinesische Führung alle ihr möglichen Mittel, um die wirtschaftliche Produktion am Laufen zu halten.

Preisniveau und Volatilität: Mineralische Rohstoffe aus China sind teuer, dabei ist die Preisentwicklung volatil. Um den Eigen­bedarf zu decken, die Vorgaben der »Zwei Kreisläufe«-Politik zu erfüllen und die eige­nen Klimaziele nicht zu verfehlen, hat die Volksrepublik in den letzten Jahren immer wieder Exportbeschränkungen erlassen. Dadurch wurde das Angebot an bestimmten Rohstoffen auf dem internationalen Markt verknappt. Daneben häufen sich Energie-Engpässe und durch den Klimawandel be­dingte Naturkatastrophen. Solchen Not­lagen muss Peking zunehmend mit kosten­intensiven Subventions- und Wiederaufbaumaßnahmen begegnen. Dass die Preise mineralischer Rohstoffe sich auf hohem Niveau bewegen, hat zugleich mit anhaltenden politischen Spannungen im Verhält­nis zu EU und USA zu tun.

Bedeutung von Nachhaltigkeitsstandards: Die EU hat Mitte der 20er Jahre ein umfassendes Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz verabschiedet, das von den Mitgliedstaaten umgesetzt wird. Jedoch gibt es gravierende Unterschiede gegenüber ähnlichen Rege­lungen in China, die weniger umfassend sind, lediglich ökologische Standards setzen und dem Ziel folgen, die CO2-Neutralität bis 2060 zu erreichen. Zudem wird die Schmelz- und Raffinadeproduktion in der Volks­republik von großen, einflussreichen Staats­unternehmen kontrolliert, wobei die Abläu­fe oft intransparent sind. All dies erschwert es europäischen Unternehmen, die Liefer­ketten nachzuverfolgen. Auch werden die in China geltenden Sozial- und Arbeits­rechte den hohen Standards der EU nicht gerecht. Aus der europäischen Zivil­gesell­schaft gibt es daher Rufe, sich gänz­lich oder zumindest teilweise aus China zurückzuziehen. Stattdessen solle mit Staa­ten koope­riert werden, die sich bereit zei­gen, strenge Nachhaltigkeitsanforderungen zu erfüllen. Die Rohstoffpartnerschaften spielen dabei eine zentrale Rolle, da sie anderen Ländern effektive Anreize zur nachhaltigen Gestal­tung ihrer Lieferketten bieten.

Hieraus ergeben sich für die europäisch-chinesischen Rohstofflieferketten sowohl Chancen als auch Risiken:

Chancen: Die Abhängigkeit Europas von chinesischen Rohstoffen ist deutlich redu­ziert, gleichzeitig wurde die eigene Ver­sorgungssicherheit gestärkt. Über Rohstoffpartnerschaften konnten neue Lieferketten erschlossen und Nachhaltigkeitsstandards in Drittländern erhöht werden. Auf dem Feld von Forschung und Entwicklung gibt es eine Vielzahl an Kooperationen und Investitionen. Ihnen verdankt sich eine Zunahme technologischer Innovationen, die es ermöglichen, Rohstoffabbau und ‑verarbeitung umweltverträglicher zu gestalten.

Risiken: Die EU verliert als Akteur weltweit an Glaubwürdigkeit, weil sie im Han­del mit China Ausnahmeregelungen bei Nachhaltigkeitsstandards zulässt. Durch den verstärkten Abbau von Rohstoffen innerhalb Europas werden nicht nur Liefer­ketten zurückverlagert. Vielmehr erwachsen aus dem »Reshoring« auch Probleme in der EU, etwa mit Blick auf Umweltrisiken und sozialen Widerstand. Geopolitisch befördern Rohstoffpartnerschaften und Zusammenschlüsse »befreundeter« Staaten einerseits sowie die strategische Außen­politik Chinas andererseits eine Block­bildung.

Szenario 2: Kooperation für Nachhaltigkeit und Versorgungs­sicherheit

Entwicklung innerhalb Chinas: Die Regierung Xi ist in den 20er Jahren mit einer Reihe politischer und wirtschaftlicher Heraus­for­derungen konfrontiert. Zunehmend lange Dürreperioden sowie Versteppung lassen Engpässe bei Wasser und Nahrungs­mitteln entstehen. Die unkontrollierte Corona-Durchseuchung der Bevölkerung zu Beginn der Dekade hat langfristige Folgen; dazu gehören eine hohe Zahl an »Long Covid«-Fällen bei den 20- bis 30-Jährigen und ein Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit auf bis zu 30 Prozent (2026). Der Ausbau des Gesundheitssystems, der Mangel an Arbeits- und Fachkräften sowie die jahrelange Stag­nation der Kaufkraft führen zu massiven Einbußen der chinesischen Wirtschafts­leistung. Vor diesem Hintergrund erstarken in der KPCh neue oppositionelle Kräfte. Die unumstrittene Loyalität gegenüber Xi ist gebrochen. Nach dem 21. Parteikongress rückt er in den Hintergrund und behält einzig den Vorsitz der Zentralen Militärkommission. An die Spitze tritt eine ver­jüngte Führung, die bemüht ist, wirtschaftliche und sozialpolitische Reformen durch­zusetzen. Der Ansatz der »zwei Kreisläufe« wird abgelöst von der Devise »Re‑open China«, die eine neue Ära des Austauschs mit Europa und den asiatischen Nachbarstaaten einleiten soll. Global rücken plane­tarische Herausforderungen in den Mittel­punkt von Verhandlungen. Dabei zeigt sich Peking bei Klimaschutz und nachhaltiger Gestaltung von Lieferketten zunehmend zur Kooperation bereit.

Europäisch-chinesische Beziehungen und Diver­sifizierungsstrategie der EU: Die drastischen Veränderungen in China zusammen mit der Perspektive auf eine Volksrepublik nach Xi ermutigen europäische Entscheidungsträgerinnen und -träger, wieder aktiv auf Peking zuzugehen. Der EU-China-Son­dergipfel im Frühjahr 2028 besiegelt diesen Neuanfang. Gegenseitige Sanktionen wer­den aufgehoben, und eine Delegation des Europa-Parlaments reist nach Xinjiang und Tibet. In der gemeinsam erarbeiteten Gip­felerklärung werden Leuchtturmprojekte der Zusammenarbeit benannt. Ein beson­derer Fokus liegt dabei auf dem Rohstoff­sektor. Die politische Stabilität und eine anhaltend positive Wirtschaftsentwicklung in der EU haben dafür günstige Bedingungen geschaffen. Der Rohstoffhandel zwi­schen EU und China wird durch ein umfas­sendes Handelsabkommen gefestigt.

Angesichts der guten Beziehungen zu China fehlt in der EU der politische Wille wie auch der zivilgesellschaftliche Druck, um eine umfassende Diversifizierung euro­päischer Lieferketten anzugehen. Daneben scheitern mehrere Versuche, innerhalb der EU neue Bergbauprojekte zu realisieren und Raffinerien aufzubauen, am Widerstand der lokalen Bevölkerung.

Standort- und Logistikrisiken: Im europäisch-chinesischen Rohstoffhandel spielen Stand­ort- und Logistikrisiken nur eine geringe Rolle. Die EU und China etablieren ein gemeinsames Disaster Response Network, um sich gerade mit Blick auf Katastrophenschutz und die Zunahme von Extrem­wettersituationen gegenseitig mit Expertise, Gerät und Fachwissen zu unterstützen. Ein neuartiges Frühwarnsystem trägt dazu bei, dass sich die Zuverlässigkeit von Produk­tionsketten und Infrastruktur in den meis­ten Fällen aufrechterhalten lässt.

Bedeutung von Nachhaltigkeitsstandards: Rohstofflieferketten sind 2030 von höherer Nachhaltigkeit geprägt als noch vor einigen Jahren. Damit einhergehend ist auch die Versorgungssicherheit innerhalb der EU gestiegen. Zwar ist der Anteil chinesischer Rohstoffe dabei noch immer hoch; ange­sichts kooperativer, stabiler Beziehungen gilt dies jedoch als handhabbar. Gleich­zeitig erkennen sowohl die EU als auch China die Notwendigkeit des Klimaschutzes und der Klimafolgenanpassung an. In China werden zunehmend einheimische NGOs in die Diskussion um Nachhaltigkeit und Sorgfaltspflichten einbezogen. Die Plattform für den Austausch mit europäischen NGOs bildet das frühere Deutsch-Chinesische Zentrum für Nachhaltige Ent­wicklung (ZNE), das seit 2028 als Europäisch-Chinesisches Zentrum gemeinsame Leitlinien für hohe Nachhaltigkeits­standards erarbeitet. Dies bietet eine Basis für internationale Kooperation.

Preisniveau und Volatilität: Auf dem Rohstoffmarkt gibt es wenig Unsicherheit; die Preise sind hoch, aber stabil. Grund dafür sind eine starke innerchinesische und inter­nationale Nachfrage sowie die Umsetzung strenger Nachhaltigkeitsstandards. Sofern diese eingehalten werden, akzeptieren Verbraucher und Verbraucherinnen die erhöhten Preise.

Chancen: Konvergenz der Interessen und einvernehmliche Zusammenarbeit haben bewirkt, dass in den europäisch-chinesi­schen Rohstofflieferketten sowohl die Ver­sorgungssicherheit als auch die Nachhaltigkeit deutlich gestiegen sind. Die EU-China-Beziehungen gewinnen eine Vorbildrolle und setzen so einen Trend, der weltweit zu höheren Nachhaltigkeitsstandards führt.

Risiken: Die Abhängigkeit von chinesischen Rohstoffen verfestigt sich, das Klum­penrisiko ist unvermindert hoch. Auf mögliche Zukunftsgefahren, etwa einen Führungswechsel und Instabilität in China, ist die EU kaum vorbereitet. Der innereuropäische Bergbau stagniert, und auch der Fortschritt beim Recycling ist weit hinter den einstigen Erwartungen geblieben, wird man doch stetig mit Primärrohstoffen ver­sorgt, die sich zudem auch effizienter nut­zen lassen. Der gemeinsamen Zielsetzung beim Klimaschutz sucht man in erster Linie über CO2-Reduktionen im Rohstoffsektor gerecht zu werden.

Szenario 3: Politische und wirtschaftliche Entkoppelung

Entwicklung innerhalb Chinas: Ende der 20er Jahre befindet sich China im Dauerkrisenmodus. Eine anhaltende Wirtschafts- und Finanzkrise sowie Extremwettersituationen erschüttern das Land; das Gesundheits­system ist überfordert. Die alternde Füh­rung unter Xi erscheint ratlos, und im ganzen Land brechen Unruhen aus. An­fangs können diese noch relativ leicht von der bewaffneten Volkspolizei eingehegt werden, doch vereinzelt kommt es zu brutalen Übergriffen der Sicherheitskräfte, die im Tod eines zwölfjährigen Jungen kulminieren. Dies löst eine Gewaltspirale aus, die Großstädte wie Shanghai, Shen­zhen und Qingdao zeitweise vollständig lähmt. Innerhalb der KPCh wird der Ruf lauter, die Ordnung wiederherzustellen. Auch viele Akteure, die bislang loyal zu Xi standen, distanzieren sich öffentlich von ihm und befürworten ein hartes Vorgehen der Volkspolizei. Eine Reihe hochrangiger Kader unterstützt den Beschluss, die Volks­befreiungsarmee zur Befriedung zentraler Brennpunkte einzusetzen.

Während die Proteste gewaltsam niedergeschlagen werden, übernimmt eine kleine Gruppe von Hardlinern und Gefolgsleuten des Militärs die politischen Geschicke des Landes. Der 21. Parteikongress besiegelt dann auch offiziell das Ende der Ära Xi. In der Folge verschlechtert sich die Menschenrechtslage im Land massiv. Ein digitales Kontrollsystem wird eingeführt, das – ähnlich wie zu Zeiten der Null-Covid-Politik – den Aktivitätsraum der Menschen ex­trem verengt. Ausländische Journalistinnen und Journalisten müssen China ver­lassen. Infor­mations- und Meinungsfreiheit werden immer weiter beschränkt, und die Eingriffe des Staates in das Privatleben der Bevölkerung verschärfen sich.

Europäisch-chinesische Beziehungen und Diversifizierungsstrategie der EU: Als Antwort auf die Repressionen der chinesischen Führung im Innern hat die EU, abgestimmt mit internationalen Partnern, Sanktionen gegen die Volksrepublik erlassen. Peking reagiert seinerseits mit Handelsbeschränkungen und einem Exportverbot für seltene Erden, auch weil das chinesische Militär die nationale Versorgung priorisiert. Gegenüber westlichen Industriestaaten zeigt sich China zunehmend feindselig. Parallel dazu baut es seine Allianzen mit Autokratien und Diktaturen weltweit aus; offen prokla­miert man die baldige Wiedervereinigung mit Taiwan um jeden Preis.

Die angespannten Beziehungen mit China und die andauernden Krisen im Innern des Landes lassen die EU um ihre Versorgungssicherheit bei Rohstoffen fürch­ten. Als Konsequenz verstärkt sie die Roh­stoffpartnerschaften mit strategischen und aus ihrer Sicht vertrauenswürdigen Akteu­ren wie Australien, Kanada sowie zentra­len Staaten in Lateinamerika und Afrika. Zu­gleich treibt sie Bergbau und Rohstoff­ver­arbeitung in den eigenen Mitgliedstaaten voran. Für diese Diversifizierungsstrategie werden massive Finanzmittel bereitgestellt; die Global-Gateway-Initiative der EU wird ausgeweitet zur European Infrastructure Resilience Initiative.

Standort- und Logistikrisiken: Die politische und wirtschaftliche Instabilität Chinas trägt zu hohen Standort- und Logistikrisiken bei. Verhaftungswellen, lokale Unruhen und Naturkatastrophen sorgen immer wieder für Lieferunterbrechungen.

Preisniveau und Volatilität: Die instabile Gesamtsituation führt weltweit zu volatilen Rohstoffpreisen auf anhaltend hohem Niveau, die weder durch eigenen Abbau noch durch Vereinbarungen mit Rohstoffpartnern abgefedert werden können.

Bedeutung von Nachhaltigkeitsstandards: In China spielt Nachhaltigkeit keine Rolle mehr, soziale und ökologische Standards haben sich in vieler Hinsicht sogar weiter verschlechtert. Auf Druck der Zivilgesellschaft in EU-Staaten werden die Beziehungen europäischer zu chinesischen Unternehmen zum Teil ausgesetzt, was signifikante Einbußen für die europäische Wirt­schaft mit sich bringt. Die Sorge um mög­liche Engpässe bei der Versorgung mit wichtigen Rohstoffen überlagert einstige Initiativen zugunsten von mehr Nachhaltigkeit in globalen Lieferketten. Das EU-Sorgfaltspflichtengesetz wird letztlich auf Eis gelegt und der Fokus ausschließlich darauf gerichtet, neue Bezugsquellen für Rohstoffe zu finden.

Chancen: Temporäre Versorgungsengpässe der EU bei wichtigen Rohstoffen lassen sich teilweise auffangen, weil die Bezugsquellen diversifiziert werden. Aus der Not heraus sind neue Partnerschaften entstanden, die der EU ein Mehr an Zugang und Planbarkeit sichern. Um die Abhängigkeit von Rohstoff­importen zu reduzieren, hat die EU außer­dem massive Investitionen im Bereich von Rohstoffgewinnung und -nutzung sowie beim Recycling angestoßen.

Risiken: Die instabile Lage und der Führungswechsel in China stören die Handelsströme weltweit und stellen viele Länder vor Versorgungsengpässe. Die daraus resul­tierende Notwendigkeit, neue Rohstoff­quellen zu erschließen, zieht Konkurrenzkämpfe nach sich – zwischen den geo­politischen Blöcken, aber auch innerhalb be­stehender Allianzen. Unterdessen sind Bestrebungen für Nachhaltigkeitsstrategien gänzlich in den Hintergrund gerückt. Die global hohe Nachfrage nach schneller Ver­sorgung lässt in vielen Rohstofflieferketten die menschenrechtlichen Risiken erheblich steigen, etwa weil Sozial- und Arbeitsstandards abgebaut oder Umweltprüfverfahren verkürzt werden. Dies wiederum beeinflusst die Versorgungssicherheit negativ, denn weltweit kommt es vermehrt zu Streiks und Protesten im Rohstoffsektor, was Berg­bauprojekte gefährdet. Die Ener­giewende in der EU stagniert mangels not­wendiger Rohstoffe. Als Folge der Sanktionen gegen China erleben die europäischen Staaten er­hebliche Wirtschaftseinbrüche und Wohl­standsverluste.

Politikempfehlungen

Die hier beschriebenen Szenarien verdeutlichen: Politische Entscheidungsträger in der EU müssen ein breites Geflecht an Fak­toren berücksichtigen, wenn sie lang­fristige Strategien zur Versorgungssicherheit in mineralischen Lieferketten formulieren. Nur so lassen sich tragfähige und zukunftsorientierte Lösungen finden. Ein zentraler Aspekt ist dabei die Entwicklung innerhalb Chinas – sie hat in diesen Szenarien maß­geblichen Einfluss auf die europäisch-chinesischen (Rohstoff-)Beziehungen. Unter dieser Prämisse ist der Aufbau von China-Kompetenz durch strategische Analyse für Politik und Unternehmen die Grundvoraussetzung, um auf unterschiedliche Situationen und Ereignisse vorbereitet zu sein. Ent­scheidend ist die Fähigkeit zum Dekodieren der chinesischen Debatte. Es gilt also zu er­kennen, wie sich Pekings Leitlinien, Gesetze und Pläne zu nachhaltiger Entwicklung oder Sorgfaltspflicht inhaltlich entwickeln, inwiefern sie von EU-Verordnungen abwei­chen und wie China seine Rohstoffpolitik strategisch gestaltet.

Politische Entscheidungsträger in der EU können den Gang der Dinge in China nicht aktiv beeinflussen. Sie können aber sehr wohl die Resilienz der europäischen Roh­stofflieferketten erhöhen, indem sie sich auf unterschiedliche Szenarien vorbereiten. So ist der Critical Raw Materials Act der EU, der gerade von der Kommission erarbeitet wird, die entscheidende Grundlage, um Europas Rohstoffversorgung langfristig zu gewährleisten. Bei der Umsetzung einer sol­chen Strategie sollten politische Ent­schei­dungsträger die hier entworfenen Szenarien im Blick behalten.

Szenario 1 zeigt Umwelt- und Nachhaltigkeitsrisiken auf, die durch Reshoring in die EU entstehen und mit Akzeptanz­problemen in der Bevölkerung einhergehen. Folglich kann die EU sich nicht nur darauf konzentrieren, ob Rohstoffvorhaben in eigenen Mitgliedstaaten technisch reali­sierbar sind. Nötig ist ebenso, eine gesell­schaftliche Debatte über Rohstoffabbau in Europa zu führen und gleichzeitig hohe Nachhaltigkeitsstandards umzusetzen. Auch sollte die EU gezielt einer Block­bil­dung entgegenwirken, wenn sie Friend­shoring im Rohstoffsektor betreibt. Jenseits der Staaten, die schon hohe Standards um­setzen, könnte sie beispielsweise solchen Staaten Angebote unterbreiten, die bereit sind, die Bedingungen im Rohstoffsektor zu verbessern. Zudem könnte die EU offerieren, Governance-Reformen zu unterstützen, und dadurch Anreize setzen, dass sie für den Fall erfolgreicher Implementierung eine Kooperation im Rohstoffsektor in Aus­sicht stellt.

Szenario 2 gibt zu erkennen, dass die EU sich nicht auf positive Entwicklungen in China verlassen kann, sondern unabhängig davon Ansätze zu Diversifizierung und Kreislaufwirtschaft verfolgen sollte. Dies be­deutet nicht, eine Entkopplung von China anzustreben, die weder realistisch noch poli­tisch zielführend wäre. Vielmehr sollte die EU strategisch relevante Sektoren iden­­­tifizieren, die jeweiligen Rohstoffbedarfe ermitteln und das Klumpenrisiko dort verringern.

Szenario 3 verdeutlicht, dass die EU aktiv daran arbeiten muss, entlang globaler Lie­ferketten hohe Nachhaltigkeitsstandards und Sorgfaltspflichten zu verankern wie auch umzusetzen. Nachhaltigkeit bildet ein grundlegendes Element von Versorgungs­sicherheit und Lieferkettenresilienz, nicht zuletzt deshalb, weil in Zeiten zunehmender Unsicherheit garantiert sein muss, dass Menschenrechte und Umweltstandards ein­gehalten werden. Die Umsetzung des euro­päischen Sorgfaltspflichtengesetzes bietet die Möglichkeit, ein »level playing field« für europäische Firmen zu schaffen. Ferner sollte die EU sich aktiv in UN-Verhand­lun­gen zur Schaffung verbindlicher und global gültiger Sorgfaltspflichten einbringen.

Im Falle einer Verschlechterung der europäisch-chinesischen Beziehungen sollte sich die EU bemühen, ihre Kontakte in den politischen Apparat der Volksrepublik zu wahren und offizielle Kommunikations­kanäle weiter zu bespielen. Schon jetzt ist daher wichtig, strategische Zugänge zum Regime in Peking zu identifizieren. Beste­hende Plattformen wie das Deutsch-Chinesi­sche Zentrum für Nachhaltige Entwicklung sollten genutzt werden, damit sich auch in Krisenzeiten der Informationsfluss aus China heraus gewährleisten lässt.

Dr. Nadine Godehardt ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Asien. Dr. Melanie Müller ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten sowie Leiterin des SWP-Anteils am Forschungsnetzwerk Nachhaltige Globale Lieferketten. Inga Carry arbeitet an der SWP als Wissenschaftlerin in diesem Projekt. Das Projekt wird vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) gefördert.

Der Foresight-Workshop, aus dem die Szenarien dieses Papiers hervorgegangen sind, wurde gemeinsam mit der Organisa­tionsberatung »Foresight Intelligence« unter Leitung von Dr. Johannes Gabriel durchgeführt. Der erste Termin fand im April 2022, der zweite im Juni 2022 statt.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2023

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