Die 27. Vertragsstaatenkonferenz (COP 27) der UN-Klimarahmenkonvention im ägyptischen Scharm El-Scheich stand im Zeichen multipler Krisen und angeschlagenen Vertrauens der Entwicklungsländer in den multilateralen Prozess. Trotz allem ist es aber gelungen, beim kritischen Thema Schäden und Verluste (Loss and Damage) eine Einigung zu erzielen, auch wenn viele zentrale Aspekte noch zu klären sind. Bei der Emissionsreduzierung droht sich die aktuelle Glaubwürdigkeitskrise noch zu verschärfen, nicht nur weil sich nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine politische Prioritäten offenkundig verschoben haben. Für die internationale Klimakooperation der nächsten Jahre wird es entscheidend sein, vereinbarte Zusagen und Prozesse einzuhalten und diplomatisches Fingerspitzengefühl im Umgang mit Partnerländern zu zeigen.
Eine angespannte Versorgungssicherheitslage, hohe Inflationsraten sowie geopolitische Spannungen – der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat Auswirkungen auf die kurzfristigen Prioritäten vieler Regierungen. Für die internationale Klimapolitik bleibt das nicht ohne Folgen. Akute Krisen binden dabei nicht nur fiskalische Ressourcen. Der Kohleausstieg wurde verlangsamt, und die Bundesregierung sah sich aus energiepolitischen Erwägungen genötigt, um neue Gaslieferanten zu werben. Im politischen Kontext der UN-Klimarahmenkonvention (UNFCCC) nehmen vor allem Länder des globalen Südens solche Schritte als einen Mangel an Kohärenz und Glaubwürdigkeit wahr.
Angespannt war die Stimmung im Vorfeld der COP 27 auch deshalb, weil sich unter den vom Klimawandel besonders betroffenen Entwicklungsländern ein hohes Maß an Frustration angestaut hatte. Zu Fortschritten in den multilateralen Verhandlungen über wichtige Themen war es trotz alter und neuer Zusagen kaum gekommen. Bereits 2009 wurde auf dem Kopenhagener Klimagipfel – der COP 15 – versprochen, bis 2020 jährlich 100 Milliarden US-Dollar an Finanzierung für Klimaschutz (Mitigation) und Klimafolgenanpassung (Adaptation) zur Verfügung zu stellen. Dieses Ziel wurde um fast 17 Milliarden US‑Dollar verfehlt und soll nun erst 2023 erreicht werden. Dabei sind insbesondere die Gelder für Klimafolgenanpassung deutlich unzureichend, misst man sie am geschätzten Bedarf. Die Diskrepanz zwischen Zusagen und tatsächlich geleisteter Unterstützung ist zwar nicht neu, hat aber in der Wahrnehmung vieler Vertreter des globalen Südens einen kritischen Punkt erreicht. Wie es der Premierminister der Bahamas, Philip Davis, ausdrückte: »We are commitment-fatigued and we are pledge-fatigued.«
Schäden und Verluste: Ein wichtiger erster Schritt
Die Frustration bezog sich auch auf das Thema Schäden und Verluste, dem schon im Vorfeld eine Schlüsselrolle für die COP 27 zugemessen wurde. Jene Länder, die kaum zum Klimawandel beigetragen haben, aber besonders unter ihm leiden, fordern schon seit Beginn der 1990er Jahre finanzielle Hilfen angesichts entsprechender Zerstörungen, etwa durch den Anstieg des Meeresspiegels oder Extremwetterereignisse. 2021 wurde bei der COP 26 in Glasgow ein neuer Dialog über Schäden und Verluste angestoßen, und die neue Bundesregierung zeigte sich sensibel für die Bedeutung des Themas. Im Juli 2022 reiste die Außenministerin eigens nach Palau, um besonders betroffenen kleinen Inselstaaten Solidarität zu signalisieren. Die Regierungen Schottlands und Dänemarks machten vor der COP 27 finanzielle Ankündigungen, die als Zeichen aufgefasst wurden, dass sich die Position unter den Industrieländern zu verändern beginnt. Dem stand jedoch gegenüber, dass der Glasgower Dialog während der Zwischenverhandlungen in Bonn im Juni 2022 nicht vorangekommen war. Vor diesem Hintergrund war es bei der COP 27 essentiell, das Vertrauen in den Prozess wiederherzustellen und greifbare Fortschritte zu erzielen.
Schäden und Verluste waren zwar schon im Kontext früherer Verhandlungsrunden thematisiert worden, etwa im Rahmen des Warschauer Mechanismus, der aus der COP 19 (2013) hervorgegangen war. Doch in Scharm El-Scheich wurde nun erstmals explizit über finanzielle Unterstützung gesprochen. Dabei geht es nicht um Hilfen zur Anpassung an neue Umweltbedingungen, sondern darum, Betroffenen einen finanziellen Ausgleich für die Zerstörungen zu bieten, die der fortschreitende Klimawandel mit sich bringt.
Die Opposition der Industrieländer gegen dieses Ansinnen speist sich in erster Linie aus der Sorge vor rechtlichen Implikationen, die eine formale Anerkennung von Verantwortlichkeit haben könnte. Insbesondere US-amerikanische Regierungen haben sich hier deutlich ablehnend gezeigt. Auf die Vereinigten Staaten fällt ein hoher Anteil an den globalen Treibhausgas-Emissionen seit Beginn der Industrialisierung, aus dem sich immense finanzielle Verpflichtungen ableiten ließen. Gemäß der von Washington bereits im Rahmen des Pariser Abkommens durchgesetzten Logik wurden Entschädigungszahlungen und Haftungsfragen daher explizit aus den Verhandlungen bei der COP 27 ausgeschlossen. Stattdessen bestand die Kernforderung der Entwicklungsländer darin, einen eigenen Fonds für Schäden und Verluste einzurichten, aus dem anspruchsberechtigte Staaten Unterstützungszahlungen erhalten können.
Deutschland kam bei den Verhandlungen eine herausgehobene Rolle zu. Die deutsche Sonderbeauftragte für internationale Klimapolitik, Jennifer Morgan, leitete zusammen mit der chilenischen Umweltministerin Maisa Rojas die Verhandlungen zu Loss and Damage Finance. Überdies hatte Deutschland schon zuvor im Rahmen einer Kooperation der G7 mit den Vulnerable 20 (V20), einer Gruppe besonders vom Klimawandel betroffener Staaten, die Idee des sogenannten Globalen Schutzschirms als Versicherungslösung für Schäden und Verluste lanciert. Dieser Global Shield war dazu gedacht, eine kurz- bis mittelfristig praktikable Lösung zu präsentieren; dabei wurden allerdings die Implikationen für den politischen Einigungsprozess unterschätzt. Aus Sicht vieler Entwicklungsländer wirkte die Initiative wie ein Versuch, der Forderung nach einem Fonds im UNFCCC-Kontext den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Die Verhandlungen zu Schäden und Verlusten verliefen erwartungsgemäß zäh. Ein zentraler Streitpunkt war die von der EU in ungewohnter Deutlichkeit aufgeworfene Frage, ob China nach wie vor als Entwicklungsland eingestuft werden kann oder als inzwischen größter Treibhausgas-Emittent auch zu Unterstützungsleistungen bei Schäden und Verlusten verpflichtet sein sollte. Zwar erscheint es mit Blick auf Wirtschaftsleistung und Emissionen fragwürdig, wenn an einer 1992 im UNFCCC-Kontext etablierten Unterscheidung zwischen Industrie- und Entwicklungsländern auch 30 Jahre später noch festgehalten wird. Dabei stehen Staaten wie Burkina Faso oder Tuvalu auf derselben Ebene wie China, Südkorea oder Saudi-Arabien. Für die Klimarahmenkonvention ist diese dichotome Länderklassifizierung aber nach wie vor ein zentrales Prinzip der internen Organisation (etwa bei der Zusammensetzung von Gremien), zudem spiegelt sie oftmals die relevanten politischen Konfliktlinien wider.
In Scharm El-Scheich zeigte sich China, wie auch auf anderen Feldern der internationalen Klimafinanzierung, nur zu freiwilligen Beiträgen bereit. Die USA und die EU lenkten spät ein und zeigten sich schließlich offen für die Forderung nach einem Fonds für Schäden und Verluste. Eingangs vor allem als Angebot im Gegenzug für Zugeständnisse gedacht, stellte sich dieses Einlenken als essentieller Schritt heraus, um das Vertrauen der Entwicklungsländer in den multilateralen Prozess ein Stück weit wiederherzustellen. Viele westliche Länder hätten zwar andere Lösungen zur Unterstützung bei Schäden und Verlusten präferiert. Doch dass beschlossen wurde, einen Fonds für besonders vulnerable Entwicklungsländer zu schaffen, war ein entscheidendes Zugeständnis mit großer symbolischer Bedeutung.
Der in Scharm El-Scheich vereinbarte Text zu diesem Fonds fällt an zentralen Stellen sehr vage aus – ein typisches Beispiel für den Einsatz konstruktiver Mehrdeutigkeit bei den UN-Klimaverhandlungen (constructive ambiguity). Es erleichterte vorerst die Einigung, dass strittige Punkte ausgeklammert wurden; wichtige Details sind somit aber erst noch auszuhandeln. So hat der Fonds es etwa zum Ziel, Entwicklungsländer zu unterstützen, die von den negativen Auswirkungen des Klimawandels besonders betroffen sind. Welche Länder genau unterstützungsberechtigt sind, wurde allerdings offengelassen, ebenso wer die Unterstützungsbeiträge zahlt oder welche Finanzierungsmodelle genutzt werden. Ein Übergangskomitee wird sich mit solchen Fragen auseinandersetzen; es soll schon bis zur diesjährigen COP 28 in Dubai erste Ergebnisse vorlegen.
Diese nachgeschalteten, nicht weniger kritischen Verhandlungen rufen Erinnerungen an den Green Climate Fund (GCF) hervor. Diesen zu etablieren erwies sich nach der initialen Entscheidung als langwieriger Prozess. Der Fonds wurde bei der COP 15 in Kopenhagen 2009 ersonnen und ein Jahr später in Cancún beschlossen, doch es dauerte bis 2015, ehe daraus die ersten Projekte finanziert werden konnten. Auch die Vereinbarung zum GCF hatte viele zentrale Fragen offengelassen, etwa wie die geforderte Balance zwischen Geldern für Klimaschutz und für Klimafolgenanpassung interpretiert würde. Das Nahen des Pariser Klimagipfels 2015 (COP 21), das politischen Druck erzeugte, dürfte die Dinge beschleunigt haben; wichtige Fragen zum institutionellen Design des GCF wurden dennoch bis weit nach dessen Start aufgeschoben. Den neuen Fonds für Schäden und Verluste erwartet nun ebenfalls ein schwieriger und potentiell schleppender Prozess der Operationalisierung.
Emissionsreduktionen: Zunehmende Glaubwürdigkeitslücke
Die Rahmenentscheidung der COP 26, der Glasgow Climate Pact, war von Beobachtern noch weitgehend positiv aufgenommen worden. Schließlich schien darin das Versprechen enthalten, noch vor der COP 27 würden die Vertragsstaaten Updates ihrer Nationally Determined Contributions (NDCs) für 2030 vorlegen und damit ihre Minderungszusagen verschärfen. Dagegen stieß der äquivalente Sharm el-Sheikh Implementation Plan fast einhellig auf Kritik, obwohl sich die Formulierungen in beiden Rahmenbeschlüssen nicht wesentlich unterscheiden. Dieser Stimmungswandel ist vor allem auf zwei Faktoren zurückzuführen: zum einen die klima- und energiepolitischen Entwicklungen seit der COP 26, zum anderen die äußerst mühsamen Verhandlungen auf der Konferenz in Ägypten selbst.
Die multiple Krisenlage, die spätestens mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine virulent wurde, hat die kurzfristigen Prioritäten bei vielen klimapolitischen Vorreiterstaaten Europas verschoben. Nicht nur in Deutschland liegt der Fokus nun stärker auf Energieversorgungssicherheit und Energiepreisen. Wenig überraschend ist der Stellenwert von Klimapolitik angesichts der enormen sicherheitspolitischen Herausforderungen zumindest vorübergehend gesunken. Fraglich ist allerdings, in welchem Maße mangelnde Fortschritte seit der COP 26 ursächlich auf die Krisenverdichtung zurückzuführen sind. Zahlreiche G20-Mitglieder, darunter selbst die EU, hatten schon kurz nach dem Glasgower Klimagipfel signalisiert, ihre NDCs 2022 nicht um schärfere Minderungsziele zu ergänzen (siehe SWP-Aktuell 81/2021). Die einzige signifikante Ambitionssteigerung eines G20-Mitglieds für 2030 wurde schließlich von Australien angekündigt, eine direkte Folge des dortigen Regierungswechsels im Mai 2022.
Auch ist das Vertrauen, dass die Industriestaaten ihre nationalen Emissionsminderungsziele, gleich welcher Höhe, auch tatsächlich erreichen, 2022 nicht eben größer geworden. Der globale Ausstoß an Treibhausgasen hat inzwischen wieder das Niveau von 2019 erreicht, dem letzten Jahr vor Ausbruch der Covid-Pandemie. Doch müssten die Emissionen laut dem jüngsten Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) zwischen 2019 und 2030 um 43 Prozent sinken, damit sich die Welt auf einen 1,5-Grad-Pfad bringen lässt.
Der Biden-Administration ist es mit dem Inflation Reduction Act im August 2022 überraschend gelungen, ein umfangreiches klimapolitisches Paket durch den Kongress zu bringen. Weil dieses im Kern auf Subventionen für klimafreundliche Technologien setzt, nicht aber auf Bepreisung oder gar Begrenzung der Emissionen, lässt sich sein Effekt noch nicht exakt beziffern. Für Irritation sorgt jedoch insbesondere bei Entwicklungsländern, dass auf europäischer Seite in der Stromproduktion eine Verschiebung von Erdgas zu Kohle stattfindet und für Gas wie Öl neue Infrastrukturen und Lieferbeziehungen entstehen. Selbst wenn sich die mittel- bis langfristigen Lock-in-Effekte innerhalb der EU als begrenzt herausstellen sollten – aufgrund des Emissionshandelssystems sowie begleitender Einsparmaßnahmen –, so agiert das in hohem Maße von fossiler Energie abhängige Europa hier weit pragmatischer, als es Entwicklungsländern bislang zugesteht. Deutschland hat sich gemeinsam mit weiteren EU-Mitgliedstaaten noch bei der COP 26 verpflichtet, die staatliche Kofinanzierung von Kohle-, Erdöl- und Erdgasprojekten im Ausland bis Ende 2022 zu beenden. Der Elmauer G7-Gipfel von Juni 2022 ließ hier eine Kurskorrektur erkennen. Staatlich unterstützte Investitionen im Gassektor sollten, so das Kommuniqué der Staats- und Regierungschefs, »im Einklang mit unseren Klimazielen und ohne die Erzeugung von Lock-in-Effekten umgesetzt werden«. Das würde sich im vieldiskutierten Fall einer Erschließung zusätzlicher Gasfelder in Entwicklungsländern wie dem Senegal nicht einlösen lassen.
Während der politische Schwerpunkt der COP 27 unzweifelhaft auf dem Thema Loss and Damage lag, gab es in den für Klimaschutz relevanten Verhandlungssträngen wenig Bewegung, bei gleichzeitig verhärteten Positionen. Dies gilt sowohl für die Implementierung internationaler Kooperationsmechanismen (nach Artikel 6 des Pariser Abkommens) als auch für das in Glasgow vereinbarte Mitigation Work Programme. Letzteres sollte nicht zuletzt dazu dienen, den angelaufenen Prozess einer Globalen Bestandsaufnahme der Fortschritte unter dem Pariser Abkommen zu ergänzen und vor allem zu dynamisieren. Dass die abschließende Rahmenentscheidung der COP 27 beim Klimaschutz die Glasgower Beschlüsse im Wesentlichen wiederholt, muss angesichts des Verhandlungsverlaufs schon als Erfolg gelten. Im Unterschied zur COP 26 wurde Scharm El-Scheich auch kaum als Bühne genutzt, um neue sektorspezifische Initiativen jenseits des UNFCCC-Verhandlungsprozesses auf den Weg zu bringen. Beim G20-Gipfel auf Bali, der parallel zur COP 27 stattfand, wurde die Just Energy Transition Partnership (JETP) einer Reihe von Industrieländern mit Indonesien verkündet, die einer ähnlichen Vereinbarung mit Südafrika folgte. Im Dezember kam es zum Abschluss einer weiteren JETP mit Vietnam. In allen drei Fällen unterstützen Gebergemeinschaften, an denen jeweils auch Deutschland beteiligt ist, stark kohleabhängige Schwellenländer dabei, ihren Energiesektor zu dekarbonisieren.
Pariser Inventur
Als Lackmustest für die Fähigkeit des UN-Klimaregimes, Netto-Emissionsreduktionen anzustoßen, die mit dem 1,5-Grad-Ziel vereinbar sind, kann die erste Globale Bestandsaufnahme (Global Stocktake, GST) gelten. Dieser alle fünf Jahre stattfindende Prozess wurde bei den Bonner Zwischenverhandlungen im Juni 2022 gestartet. Er dient dazu, die kollektiven Fortschritte in den Bereichen Klimaschutz, Anpassung und Finanzierung zu bewerten und mit Paris-kompatiblen Orientierungsmarken abzugleichen.
Bislang ist der Prozess allerdings nicht über technische Expertendialoge hinausgekommen. Bei der COP 28 in Dubai soll er abgeschlossen werden und einen Anstoß dafür liefern, die Ambitionen der NDCs bis zur nächsten Frist 2025 erheblich zu steigern. Falls die größten Emittenten in der nachfolgenden Runde keine massiv verschärften Reduktionsziele für 2030 und 2035 melden, wird der 2015 mit dem Pariser Abkommen rechtlich festgeschriebene Pledge and Review-Ansatz unweigerlich in eine tiefe Glaubwürdigkeitskrise geraten – und mit ihm die internationale Klimadiplomatie. Ein ähnliches Resultat, wenn auch verzögert, ist zu erwarten, sollten insbesondere die Industrieländer ihre Zusagen für 2030 nicht einhalten oder die zuletzt vereinbarten JETPs nicht die in sie gesetzten Hoffnungen erfüllen.
Europa weiter gefordert
Die EU steht bei Zielformulierung und Implementierung vergleichsweise gut da. Mit einem Netto-Reduktionsziel von 55 Prozent bis 2030 (Basisjahr 1990) wird ihr NDC von kaum einem Industrieland übertroffen. Wichtiger aber noch ist die für 2023 erwartete Komplettierung des Fit for 55-Pakets, mit dem das EU-Gesamtziel durch mehr als ein Dutzend Richtlinien und Verordnungen auch tatsächlich umgesetzt wird. Der verschärfte Emissionshandel könnte nicht nur die Folgen der krisenbedingten Verschiebung von Erdgas zu Kohle begrenzen. Während der ersten Woche der COP 27 einigten sich Rat und Parlament darauf, die Netto-CO2-Entnahmen aus Landnutzung und Forstwirtschaft zu steigern (LULUCF-Verordnung). Auf dieser Basis konnte Vize-Kommissionspräsident Frans Timmermans schon in Scharm El-Scheich in Aussicht stellen, dass das Ambitionsniveau der EU bis 2030 auf 57 Prozent erhöht wird.
Weit konfliktreicher wird innerhalb der Europäischen Union die nahende Debatte über die Ziele für 2035 und 2040 ausfallen. Im EU-Klimagesetz ist bereits festgelegt, dass bis 2050 netto null Treibhausgas-Emissionen erreicht werden sollen. Für die Festlegung der Zwischenziele wird die Kommission im Gesetz verpflichtet, jeweils sechs Monate nach Abschluss eines GST konkrete Vorschläge für den Pfad zur Klimaneutralität vorzulegen, erstmals also 2024, im Jahr der Europawahlen. Mit jedem Fünfjahresschritt wird die Frage der EU-internen Lastenverteilung virulenter werden. Dies nicht nur, weil die Verpflichtungsniveaus in Mittel- und Südosteuropa nach wie vor relativ niedrig sind, sondern weil das Klimaneutralitätsziel für 2050 die EU als Ganzes betrifft, also nicht zwingend von jedem Mitgliedstaat erreicht werden muss – sofern andere Mitgliedstaaten dieses Ziel übererfüllen. Wegweisend sein könnte hier das Netto-Emissionsminderungsziel von 110 Prozent bis 2050, das von Dänemarks neuer Regierung wenige Wochen nach der COP 27 angekündigt wurde.
Nationale netto-negative Minderungsziele bis 2050 erweitern nicht nur die Verhandlungsspielräume innerhalb der EU. Sie signalisieren auch, dass von klimapolitischen Vorreitern langfristig erwartet werden kann, jährlich mehr CO2 aus der Atmosphäre zu entfernen, als sie selbst noch emittieren. Methoden dafür sind etwa Aufforstung oder die Abscheidung von CO2 aus der Umgebungsluft mit anschließender geologischer Speicherung (Direct Air Carbon Capture and Storage, DACCS – siehe SWP-Studie 10/2020). Die jüngsten Berichte des Weltklimarats zeigen, dass netto-negative Emissionspfade unabdingbar sein werden, um die 1,5-Grad-Marke nach einer zwischenzeitlichen Überschreitung des Schwellenwerts ab den 2030er Jahren dann bis Ende des 21. Jahrhunderts doch noch zu erreichen (Overshoot).
Kooperation mit Fingerspitzengefühl
Weil trotz des Pariser Abkommens die Emissionen global noch immer nicht sinken, wird der Umgang mit den Klimafolgen auch politisch ein immer drängenderes Thema, selbst wenn es gelingt, die Erderwärmung bis Mitte des Jahrhunderts anzuhalten. Wird die 1,5-Grad-Marke signifikant überschritten, verschärfen sich die Probleme noch. In den Verhandlungen der COP 27 wurde sehr deutlich, welche politische Dimension die existentiellen physischen Auswirkungen des Klimawandels haben. Wegen der aktuellen Prioritäten im multilateralen Prozess standen dabei Schäden und Verluste stark im Fokus. Demgegenüber ist die politische Aufmerksamkeit für die Anpassung an klimabedingt veränderte Umweltbedingungen – sowie deren internationale Finanzierung – zuletzt abgefallen. Nicht nur wird die Zusage, jährlich 100 Milliarden US-Dollar an internationaler Klimafinanzierung bereitzustellen, erst mit einigen Jahren Verspätung erfüllt werden. Auch ist der geschätzte Mittelbedarf für die Anpassung nicht ausreichend gedeckt.
In den UNFCCC-Verhandlungen wird indes weiterhin um eine einheitliche Definition für internationale Klimafinanzierung gerungen. Parallel verhandelt man ein neues kollektives quantifiziertes Klimafinanzierungsziel (New Collective Quantified Goal on Climate Finance, NCQG). Es soll auf den versprochenen 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr aufbauen und bis 2024 beschlossen werden. Im Blickpunkt stehen dabei sowohl die Höhe des neuen Ziels – dabei geht es buchstäblich um die erforderliche Größenordnung zwischen Milliarden und Billionen – als auch die Finanzierungsquellen. Während gerade Anpassungsfinanzierung ohne staatliche Unterstützung oftmals nicht rentabel ist und daher öffentliche Geldquellen erfordert, bestehen Industrieländer angesichts der notwendigen Summen darauf, in erheblichem Maße private Investoren einzubinden. Auch hier macht sich der oben angesprochene Konflikt darüber bemerkbar, ob die Beiträge von Staaten wie China wie jene der Industrieländer festgeschrieben werden sollen. Die entsprechenden Verhandlungen – ebenso wie die um ein globales Anpassungsziel (Global Goal on Adaptation, GGA) – sind in Scharm El-Scheich nur langsam vorangekommen. Der Umgang mit Klimafolgen und dessen Finanzierung bilden daher eine Frage, die sachlich wie politisch weiterhin einen steigenden Druck auf die internationale Gemeinschaft ausüben wird.
Angesichts dieses Drucks, des Vertrauensverlustes der Entwicklungsländer und des zumindest kurzfristig angenommenen Zielkonflikts zwischen Energieversorgungssicherheit und Klimaschutz wird es diplomatischen Fingerspitzengefühls bedürfen, um den multilateralen Prozess in Zeiten multipler Krisen effektiv weiterzuführen. Die Bundesregierung hat immer wieder versichert, ihr Bemühen, Gasimporte aus Russland zu ersetzen, bedeute keineswegs einen Rückschritt der deutschen Ambitionen bei der Emissionsreduzierung. Allein die Tatsache jedoch, dass insbesondere Länder des globalen Südens hinter den – wenn auch temporären – Maßnahmen einen Mangel an Kohärenz wahrnehmen, ist auf diplomatischer Ebene zum Problem geworden.
Mit dem G7-Klimaclub (siehe SWP-Aktuell 33/2022) oder dem Global Shield hat sich Deutschland durchaus als einfallsreich und flexibel erwiesen, was neue Initiativen und Kooperationsformate angeht. Wichtig ist darüber hinaus jedoch, die prozessualen Herausforderungen strategisch zu antizipieren, die bewältigt werden müssen, damit sich über solche Initiativen und Mechanismen mit spezifischen Partnern eine Einigung erzielen lässt. Gerade das hat der Klimagipfel in Scharm El-Scheich bei den Verhandlungen über Schäden und Verluste deutlich gemacht.
Dr. Marian Feist ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Globale Fragen und im Projekt »Green Deal Diplomacy«.
Dr. Oliver Geden ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU/Europa und Leitautor für den 6. Sachstandsbericht des IPCC.
© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2023
Alle Rechte vorbehalten
Das Aktuell gibt die Auffassung der Autoren wieder.
SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfahren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org
ISSN (Print) 1611-6364
ISSN (Online) 2747-5018
DOI: 10.18449/2023A08