Ein französischer Nuklearschirm für Europa als Ersatz für die US-Nukleargarantie stände vor großen politischen und militärisch-technischen Herausforderungen. Dennoch wäre es aufgrund der wachsenden Unsicherheit in Europa und Asien sinnvoll, wenn die Bundesregierung sich mit Szenarien und Optionen auseinandersetzte, die über die heutige Abschreckungsarchitektur hinausgehen. Denkbar wäre vor allem, dass Frankreich eine sichtbarere ergänzende Rolle zur erweiterten nuklearen Abschreckung der USA übernähme. Dies könnte unterschiedliche Formen annehmen, von gestärkten Konsultationen bis hin zu gemeinsamen Nuklearübungen. Auch wenn solche Schritte zurzeit unwahrscheinlich sind, scheinen sich die Interessen der USA und der Europäer in einer Weise anzunähern, die eine besser abgestimmte westliche Abschreckungspolitik ermöglichen könnte.
Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Nuklearrhetorik haben in Deutschland eine neue Diskussion über Abschreckung entfacht. In diesem Kontext werfen politische Eliten, besonders aus dem bürgerlichen Spektrum, immer wieder die Idee einer französischen nuklearen Rückversicherung für Europa auf. Hinzu kommen aber auch Zweifel, dass die nuklearen US-Sicherheitsgarantien für Europa bestehen bleiben, da sich Washington trotz des Ukraine-Krieges immer mehr auf Asien konzentriert.
Seit den Anfängen des Kalten Krieges stützen die europäischen Nato-Verbündeten ihre Sicherheit auf die Schutzversprechen Washingtons. Daher hängt die europäische Sicherheit letztlich weiterhin von der Glaubwürdigkeit der US-Regierung ab, im Extremfall nicht nur einen konventionellen Krieg zu führen, sondern auch Atomwaffen einzusetzen. Die US-Reaktion auf Pekings wachsende Ambitionen, aber auch der zunehmende innenpolitische Druck in den USA haben die Zweifel an deren langfristigem Engagement in Europa verschärft.
Angesichts dessen richtet sich der Blick einiger Beobachter und Beobachterinnen immer wieder auf Paris. Zwei Forderungen werden dabei regelmäßig aufgestellt. Einerseits wird von Zeit zu Zeit die Idee geäußert, dass Frankreichs Atomwaffen die erweiterte nukleare Abschreckung der USA in Gänze ersetzen könnten. Im Gegensatz dazu verlangen andere lediglich, Frankreich solle Washingtons nukleare Rückversicherung stärken.
Die europäische Dimension
Die Vorschläge der französischen Regierung waren jedoch stets wesentlich begrenzter. So sprach Präsident Emmanuel Macron in einer Grundsatzrede zur französischen Abschreckungspolitik im Februar 2020 besonders zwei Aspekte an. Er unterstrich erneut die Solidarität Frankreichs mit seinen europäischen Verbündeten und betonte, Frankreichs »vitale Interessen« besäßen eine »europäische Dimension«. Schon während des Kalten Krieges hatten französische Entscheidungsträger darauf hingewiesen, dass eine Bedrohung der grundlegenden Sicherheitsinteressen seiner Nachbarn auch Frankreichs Sicherheit betreffe. Auch hat Frankreich in den letzten Jahren einige bilaterale Sicherheitsvereinbarungen mit Nachbarstaaten abgeschlossen, unter anderem mit Deutschland 2019 im Vertrag von Aachen. Neu in Macrons Rede war der Vorschlag, einen »strategischen Dialog« über die Rolle der französischen Atomwaffen in der kollektiven Verteidigung Europas zu initiieren. Die europäischen Partner könnten beispielsweise an Übungen der französischen Abschreckungskräfte teilnehmen. Ein solcher Austausch könne dazu beitragen, die Entwicklung einer europäischen strategischen Kultur voranzutreiben.
Auch spätere Klarstellungen französischer Offizieller unterstreichen, wie restriktiv Frankreichs Vorstellungen sind. Zwar möchte Paris die Sorgen seiner Verbündeten um ihre Sicherheit ernst nehmen, will aber die vollständige Entscheidungsgewalt über sein Atomwaffenarsenal behalten. Laut offizieller Lesart stärken französische Kernwaffen die europäische Sicherheit, indem sie Kalkulationen von Gegnern erschweren. Jegliche Art nuklearer Teilhabe kommt bisher allerdings nicht in Frage.
Dabei lassen sich die französischen Ideen zur nuklearen Zusammenarbeit in Europa in zwei Komponenten unterteilen. Die erste und wichtigere hat einen pädagogischen Impetus: Französische Offizielle sind der Ansicht, dass es Frankreichs engsten Verbündeten sowohl an soliden Kenntnissen über nukleare Abschreckung als auch an politischer Unterstützung für deren Notwendigkeit mangelt. Paris würde gerne dazu beitragen, dieses Verständnis zu verbessern, um unter anderem den eigenen Einfluss auf die Abschreckungs- und Verteidigungspolitik der Nato auszuweiten.
Die zweite Komponente betrifft die praktische Zusammenarbeit. Paris möchte, dass enge Verbündete an französischen Nuklearübungen teilnehmen. Sie sollen dabei aber keine entscheidenden, sondern nur zusätzliche Aufgaben und Fähigkeiten der nuklearen Mission übernehmen. Das Hauptziel besteht nicht darin, dass die Partner an der nuklearen Abschreckung teilhaben, sondern dass sie sich mit deren Prozessen vertraut machen.
In Berlin und anderen europäischen Hauptstädten wurden diese Vorschläge mit Skepsis aufgenommen. Unklar blieb, ob Paris mittels seines Atomwaffenarsenals die strategische Autonomie Europas auf Kosten Washingtons vorantreiben wollte oder lediglich eine ergänzende Ebene der nuklearen Rückversicherung innerhalb des Bündnisses anstrebte. Während des Kalten Krieges und Anfang der 1990er Jahre glaubten französische Strategen, dass diese Ziele sich gegenseitig verstärkten: Solange sich die USA für die europäische Sicherheitsarchitektur einsetzten, wollte Paris mit seinem eigenen Nuklearpotential seine Position in einer von Washington dominierten internationalen Ordnung festigen, eine konstruktive Rolle in der Nato spielen sowie Sicherheit und Stabilität in Europa fördern. Frankreich bereitete sich aber auch darauf vor, im Fall eines US-Rückzugs mehr Verantwortung zu übernehmen.
Abgesehen von den wenigen Phasen, in denen sich Washington nur mäßig interessiert an europäischen Belangen zeigte, waren Frankreichs Nachbarn daher nicht sonderlich geneigt, dessen differenzierten Ansatz zu akzeptieren. So wurde auch nur wenig aus Macrons Angeboten an seine Verbündeten zur nuklearen Zusammenarbeit. Und gerade in Anbetracht der Zweifel, die am Engagement der USA unter Präsident Trump in Europa aufkamen, sowie angesichts Macrons Kritik an der Nato fürchteten deutsche Regierungsvertreter, dass es die Präsenz der USA in Europa und das Bündnis nur noch mehr gefährden könnte, wenn Berlin auf die Ideen aus Paris einginge.
Begrenzte Fähigkeiten …
Die Antwort auf die Frage, ob Frankreich überhaupt den US-Nuklearschirm ersetzen könnte, hängt sowohl von politischen Standpunkten als auch von technischen Fähigkeiten ab. Kern des Problems ist, dass erweiterte nukleare Abschreckung – also die Androhung, zur Verteidigung eines Alliierten notfalls Nuklearwaffen einzusetzen und damit das Risiko eines nuklearen Gegenschlags einzugehen – per se wenig glaubwürdig ist. Über die Glaubwürdigkeit von Abschreckung und Rückversicherung entscheiden am Ende die Gegner und die Verbündeten. In der Forschung werden vor allem drei Faktoren als zentral angesehen: der politische Wille und die Interessen des rückversichernden Staates, dessen militärische Fähigkeiten und das sicherheitspolitische Umfeld.
So hatten die USA schon immer Schwierigkeiten, glaubhaft ihre Bereitschaft zu signalisieren, dass sie im Extremfall auch bei einer begrenzten Aggression gegen Verbündete ihre Drohungen wahr machen würden und durch die Verteidigung ihrer Alliierten einen begrenzten Nuklearangriff gegen eigenes Territorium akzeptieren würden. Der hohe Stellenwert Europas in Washingtons globaler Strategie und für die US-geprägte Weltordnung stützte jedoch die Sicherheitsversprechen. Außerdem versuchten die USA zu verhindern, dass ihre Sicherheitsgarantien gegenüber Alliierten in Frage gestellt werden. Zu diesem Zweck verwarfen sie eine Strategie der Minimalabschreckung, diversifizierten stattdessen ihre Nuklearfähigkeiten und schufen die nukleare Teilhabe, die auch einen institutionellen Rahmen für Konsultationen zu Nuklearpolitik bietet.
Washingtons Dilemmata kann auch Paris nicht einfach umgehen. Französische Experten argumentieren zwar, dass Frankreichs räumliche Nähe und Identität als europäische Atommacht der Glaubwürdigkeit einer erweiterten französischen Abschreckung grundsätzlich förderlich sei. Dennoch kann Paris in der heutigen strategischen Architektur Europas nur schwerlich glaubhaft machen, seine Interessen an der europäischen und internationalen Ordnung seien so gewichtig, dass es für die Verteidigung seiner Verbündeten die Zerstörung des eigenen Landes in Kauf nähme. Selbst wenn Frankreich eine größere Rolle in Europas politischer Architektur spielte, ständen einer glaubwürdigen französischen Abschreckung immer noch fundamentale geographische und wirtschaftliche Aspekte im Wege. Im Gegenteil hat Paris mit seiner Russlandpolitik der letzten Jahre vor allem unter den Zentral- und Osteuropäern grundsätzliche Zweifel daran genährt, dass es nationale Interessen hinter gesamteuropäische Ziele zurückstellen würde.
Derlei Zweifel kann Paris auch nicht mit dem Verweis auf seine nuklearen Fähigkeiten und seine Abschreckungsdoktrin ausräumen. Frankreich verfügt mit rund 300 Atomsprengköpfen über ein wesentlich kleineres und weniger breitgefächertes Arsenal als die USA. Die meisten dieser Sprengköpfe sind für U-Boot-gestützte ballistische Raketen vorgesehen. Eine zweite, luftgestützte Komponente besteht aus nuklearen Marschflugkörpern, die von einigen Dutzend Kampfflugzeugen eingesetzt werden können. Anders als Washington verfolgt Paris zudem eine Politik der Minimalabschreckung. Demnach will Paris einem gegnerischen Staat »inakzeptablen Schaden« zufügen können. Frankreichs Kernwaffen richten sich daher nicht gegen Nuklearstreitkräfte eines potentiellen Kontrahenten, sondern gegen dessen »politische, wirtschaftliche und militärische Nervenzentren«. Ferner verfügt Frankreich im Gegensatz zu den USA kaum über begrenztere Nuklearoptionen, die eine »abgestuftere« Eskalation ermöglichten.
Weil Frankreichs atomares Arsenal also eher klein und wenig flexibel ist, müsste Paris als Reaktion auf einen russischen konventionellen Angriff etwa auf die baltischen Staaten den Einsatz strategischer Kernwaffen gegen russische Städte androhen. Damit müsste Paris einen russischen nuklearen Vergeltungsschlag gegen französisches Territorium in Kauf nehmen. Selbst in einer Welt, in der die USA nicht mehr die nukleare Abschreckung für Europa garantieren, dürfte es daher unwahrscheinlich sein, dass Frankreichs Alliierte ihre Sicherheit ohne Wenn und Aber Paris anvertrauen.
… schaffen begrenzte Optionen
Sollten die Europäer eines Tages aufgrund geopolitischer Entwicklungen dennoch ernsthaftes Interesse an einer französischen Rückversicherung hegen, wären theoretisch unterschiedliche Optionen denkbar. Diese würden jedoch neue Kosten und Probleme verursachen.
Ein Szenario könnte darin bestehen, dass Paris seinen Alliierten Entscheidungsgewalt über die französischen Atomwaffen überträgt. Frankreichs Verbündete könnten so glaubhaft drohen, angesichts einer Aggression im Notfall Kernwaffen einzusetzen. Dafür müsste aber das französische Nuklearwaffenarsenal ausgebaut und diversifiziert werden. Notwendig wäre auch ein institutioneller Rahmen zur gemeinsamen Kontrolle und Steuerung. Darüber hinaus käme eine derartige Anpassung einer gezielten Proliferation gleich. Diese wäre aus heutiger Perspektive nicht nur unvereinbar mit dem Völkerrecht, sondern zöge vermutlich auch unübersehbare sicherheitspolitische Konsequenzen nach sich. In erster Linie stellte sich allerdings die Frage, ob Paris überhaupt ein politisches Interesse daran hätte, die Entscheidungsgewalt so breit zu teilen und damit seine herausgehobene Rolle als Nuklearmacht zu verlieren.
Solange Paris die Kontrolle über sein Atomwaffenarsenal nicht abgibt, könnte Frankreich seine Sicherheitsversprechen nur dadurch untermauern, dass es einen institutionellen Rahmen errichtet, der die Alliierten bis zu einem gewissen Grad einbindet. Eine Möglichkeit wäre, ein Arrangement zu schaffen, welches dem heutigen System der nuklearen Teilhabe der USA gliche. Doch auch solche Mechanismen wären ohne Abkehr von der Minimalabschreckung und ohne massiven Ausbau von Frankreichs Fähigkeiten wenig glaubwürdig – und selbst dann noch von Frankreichs politischem Interessengefüge abhängig.
Eine solche französische nukleare Teilhabe würde hohe Investitionen Frankreichs und der Verbündeten erfordern. Vor allem müssten Optionen für eine begrenzte Eskalation aufgewertet werden. In Gestalt der oben erwähnten luftgestützten Komponente bietet Frankreichs Arsenal dafür durchaus eine Basis. Der gegenwärtige Bestand an Nuklearsprengköpfen für bombergestützte Marschflugkörper dürfte allerdings zu klein sein, um eine erweiterte Abschreckung zu gewährleisten. Um die Drohung, man werde auch auf begrenztere Aggressionen reagieren, glaubwürdiger zu machen, wäre es wohl notwendig, französische Atomsprengköpfe mit geringerer Sprengkraft zu produzieren.
Die an diesem Teilhabemechanismus mitwirkenden Nato-Staaten wiederum müssten Lagerstätten stellen. Bei den fünf Staaten, die zurzeit in die nukleare Teilhabe einbezogen sind und über Bunkeranlagen verfügen, wäre dies mutmaßlich mit weniger Aufwand verbunden. Neue Gastländer jedoch müssten Lagerstätten erst errichten. Darüber hinaus müssten die beteiligten Staaten Trägerflugzeuge bereitstellen. Amerikanische F‑35-Kampfflugzeuge für französische Waffen zu nutzen wäre indes wegen möglicher politischer Differenzen und fehlender technischer Zertifizierung keine Option. Daher müssten neue europäische Kampfflugzeuge für diese Aufgabe konstruiert werden. In Frage käme hier das Future Combat Air System (FCAS). Es wird derzeit von Frankreich, Deutschland und Spanien entwickelt und soll frühestens 2040 in Betrieb genommen werden.
Und schließlich stellten sich Fragen über die institutionelle Einbettung sowie die Steuerung und Kontrolle eines solchen Teilhabemechanismus. Eine vollständige institutionelle Anbindung an die Nato bliebe unwahrscheinlich, solange die USA Teil des Bündnisses sind. In dem Fall wäre ein neues institutionelles Gefüge vonnöten. Zudem wäre zu klären, wie ein Entscheidungs- und Konsultationsprozess zwischen Frankreich und beteiligten Staaten abliefe.
Eine glaubwürdige erweiterte französische Abschreckung wäre also zeitaufwendig und teuer. Bisher profitieren die europäischen Nato-Staaten nicht nur von den nuklearen, sondern auch von den konventionellen Fähigkeiten der USA, ohne sich selbst maßgeblich einbringen zu müssen. Trittbrettfahren bei konventionellen Fähigkeiten aber könnte Frankreich, das wirtschaftlich schwächer ist als Deutschland, nicht mehr akzeptieren.
Rückversicherung durch Paris?
Die europäische und internationale Ordnung müsste sich fundamental verändern, damit eine französische erweiterte Abschreckung als Ersatz für jene der USA zur Option wird. Dafür müssten wohl zwei Bedingungen erfüllt sein. Zum einen müssten sich die USA als Ordnungsmacht und Sicherheitsgarant vollständig aus Europa zurückziehen. Zum anderen müsste die Bedrohung der Sicherheit in Europa gleich bleiben oder sogar wachsen. Und als Konsequenz dieser beiden Bedingungen müsste sich die Haltung der Nato-Staaten zu Frankreichs Rolle als Ordnungs- und Nuklearmacht in Europa verändern. Dass sich diese Voraussetzungen in absehbarer Zukunft erfüllen, ist jedoch kaum zu erwarten.
Erstens ist ein Rückzug der USA als Ordnungsmacht aus Europa äußerst unwahrscheinlich. Zwar stehen die transatlantischen Partner vor zahlreichen Herausforderungen infolge Chinas Aufstiegs, des Erstarkens isolationistischer und populistischer Kräfte in den USA und wirtschaftlicher Spannungen. Doch hat Washingtons Reaktion auf den Ukraine-Krieg verdeutlicht, dass die USA ihr Engagement für die europäische Sicherheit bis auf Weiteres fortsetzen werden. Und auch mittel- bis langfristig scheinen weder die Europäer noch die Amerikaner viele Alternativen zu haben. Um weiterhin seine globalen politischen, militärischen und wirtschaftlichen Interessen verfolgen zu können, ist Washington auf die Zusammenarbeit mit den Europäern angewiesen. Umgekehrt brauchen diese die USA, um ihre Sicherheit zu gewährleisten und Russland einzudämmen.
Selbst eine US-Regierung, die entschlossen wäre, die Kosten ihres europäischen Engagements zu senken, gäbe die erweiterte nukleare Abschreckung wahrscheinlich nur dann auf, wenn sie sich völlig von ihren globalen Verpflichtungen lösen wollte. Seit langem drängt Washington die Europäer zu mehr Investitionen in ihre Verteidigung. Gemeint sind hier aber vor allem konventionelle Streitkräfte. Mit Blick auf die nukleare Abschreckung hat Washington nach wie vor erhebliche komparative Vorteile. Einerseits werden die USA wegen eines wiedererstarkenden Russlands und eines nuklear aufrüstenden Chinas ihre nuklearen Fähigkeiten weiter modernisieren und erweitern müssen. Andererseits verfügen die USA bereits über ein großes und breitgefächertes Atomwaffenarsenal, das für eine erweiterte Abschreckung viel besser geeignet ist als alles, was Frankreich oder Europa im Verbund binnen kurzem aufbieten könnten.
Ein künftiger US-Präsident, der die US-Sicherheitsgarantien noch rigoroser als Donald Trump in Frage stellt, dürfte bei vielen Europäern gesteigertes Interesse an ergänzenden Sicherheitsmechanismen hervorrufen. Die europäischen Reaktionen auf Trumps Politik deuten jedoch nicht darauf hin, dass die Haltung eines solchen Präsidenten die Europäer veranlassen würde, alternative Formate wie einen französischen Nuklearschirm ernsthaft zu forcieren.
Zweitens ist unmöglich vorherzusagen, wie sich die Sicherheitslage in Europa entwickeln wird und wie sich die eurasischen Beziehungen im Fall eines kompletten Rückzugs der USA aus der europäischen Ordnung verändern würden. Einerseits könnten Russlands revisionistische Ambitionen die europäischen Nationen zwingen, bestimmte widerstreitende politische, wirtschaftliche und sicherheitspolitische Ziele aufzugeben, um eine glaubwürdige Abschreckung gegenüber Moskau zu schaffen. Andererseits ist es ebenso plausibel, dass Frankreich, Italien oder Deutschland infolge eines Rückzugs der USA geneigt sein könnten, einen kooperativeren Ansatz gegenüber Russland zu finden.
Drittens ist ebenso schwierig einzuschätzen, ob sicherheitspolitische Herausforderungen zu einer Stärkung der französischen Rolle oder aber zu einer europäischen Nuklearfähigkeit führen würden. Einerseits dürften sich unter den oben genannten Zwängen Fragen über unterschiedliche strategische Kulturen und Einstellungen zu Sicherheitspolitik erübrigen. Andererseits sind die Ziele und Interessen Frankreichs und der anderen europäischen Nationen nur schwer in Einklang zu bringen. Eine dramatisch verschlechterte Sicherheitslage könnte Frankreich dazu bewegen, mehr Verantwortung für Verbündete zu übernehmen und unter anderem mit nuklearer Abschreckung dafür zu sorgen, dass die Sicherheit Europas gewährleistet bliebe. Das hieße aber wohl, dass Frankreich im Gegenzug eine Vormachtstellung in Europa anstreben würde. Bisher lehnen die eher transatlantisch orientierten Staaten in Zentral- und Osteuropa eine dominantere Rolle Frankreichs ab und misstrauen dessen Solidarität. Sollten die USA ihre Sicherheit und Stabilität und damit auch die Basis von Demokratie und Wohlstand jedoch nicht mehr garantieren, würden die zentral- und osteuropäischen Staaten womöglich ein stärker deutsch-französisch dominiertes System in Europa als naheliegenden Ersatz sehen. Dafür müssten sie zwar eine untergeordnete Rolle akzeptieren, könnten aber weiterhin die Verantwortung für ihre Sicherheit an Dritte auslagern. Dennoch spricht vieles dagegen: Weder hat Frankreich vergleichbare wirtschaftliche oder militärische Fähigkeiten wie die USA, noch wäre der Preis, den Paris für seine Sicherheitsleistungen verlangen würde, ähnlich gering. Wahrscheinlicher wäre daher mutmaßlich, dass sich Europa in einem solchen Szenario für eine gemeinsame Nuklearoption entscheiden würde. In diesem Kontext würden auch die Kernwaffen und strategischen Interessen des Vereinigten Königreichs eine bedeutende Rolle spielen. Der Aufbau einer europäischen Option wäre dann aber nicht der erste Schritt in dieser neuen Ära der europäischen Integration, sondern der letzte.
Gestärkte Zusammenarbeit in der Nuklearpolitik
Es ist sehr unwahrscheinlich, dass französische Atomwaffen in absehbarer Zeit eine entscheidende Rolle in der europäischen Sicherheit spielen werden. Der russische Krieg gegen die Ukraine hat erwiesen, dass die USA nach wie vor eine zentrale Rolle in der europäischen Sicherheitsarchitektur einnehmen. Solange sich die Situation in Europa und den USA nicht dramatisch verändert, werden daher vermutlich nur wenige Europäer die Rolle Washingtons als Europas Sicherheitsgarant in Frage stellen. Daher werden die Europäer aller Voraussicht nach auch von Schritten absehen, welche die erweiterte nukleare Abschreckung der USA politisch gefährden könnten. Aufgrund des sich wandelnden strategischen Umfelds und dessen Auswirkungen auf die europäischen Verteidigungspolitiken könnten gleichwohl begrenzte Schritte möglich sein. Dabei sind vermutlich besonders zwei Überlegungen relevant:
Einerseits wächst wegen Moskaus Vorgehen im Ukraine-Krieg das Interesse zahlreicher europäischer Staaten, die nukleare Abschreckung aufzuwerten. Damit könnte auch ihre Motivation steigen, sich enger mit Frankreich abzustimmen. Positiv auf die Einstellung der zentral- und osteuropäischen Staaten dürfte sich auswirken, dass Paris erstmals bereit war, sich an robusteren Truppenstationierungen an der Süd-Ost-Flanke der Nato zu beteiligen und sich damit stillschweigend der amerikanischen »Stolperdraht-Strategie« anzunähern.
Andererseits käme es auch Paris angesichts des wachsenden Interesses der Europäer an Abschreckung womöglich gelegen, den Austausch zu intensivieren. Auf die französische Haltung in Nuklearfragen werden dabei voraussichtlich auch innereuropäische Dynamiken Einfluss haben. Deutschland hat sich mit der European Sky Shield Initiative (ESSI) zum Ziel gesetzt, wegen der Bedrohungslage in Europa die europäische Luftverteidigung zu verbessern. Dieser Ansatz der Abschreckung durch Verweigerung (deterrence by denial) widerspricht jedoch Frankreichs traditionellem Vorrang einer Abschreckung durch Bestrafung (deterrence by punishment), bei der die Franzosen in erster Linie auf ihr Nuklearpotential setzen. Zudem befürchtet Paris, dass ein solches Programm negative Folgen für die europäische Kooperation und Verteidigungsindustrie hätte und die Abhängigkeit von den USA eher noch verschärfen würde. Daher gehen französische Beobachter davon aus, dass Paris versuchen könnte, die Berliner Pläne zu bremsen, indem es seine Angebote für einen strategischen Dialog erneuert und eventuell ausweitet.
Optionen und Empfehlungen
Aufgrund der beschriebenen Entwicklungen sind unterschiedliche Optionen denkbar. Damit sie erfolgreich sein können, müssten die Ziele lauten, (1) Europas Abschreckungspolitiken besser zu koordinieren, (2) Frankreichs Rolle als europäische Atommacht nach außen aufzuwerten und besser sichtbar zu machen sowie (3) mehr Vertrauen der Alliierten in Frankreichs Solidarität zu schaffen.
Am realistischsten erscheint eine wichtigere Rolle Frankreichs, wenn es darum geht, in Europa ein gemeinsames Verständnis der Erfordernisse nuklearer Abschreckung zu erzielen. Putins Drohungen mit Atomwaffen haben offenbart, dass es in Europa an vertieften Kenntnissen über Nuklearstrategie mangelt. So dürften viele Europäer verstärkte französische Anstrengungen in diesem Bereich begrüßen.
Daneben könnte Frankreich sich auch um intensivere Zusammenarbeit aller Nato-Staaten in Nuklearfragen bemühen. Sinnvoll wäre es, Konsultationen zu Nuklearpolitik unter Einbindung Frankreichs aufzuwerten und zu institutionalisieren. Die Nukleare Planungsgruppe (NPG) der Nato wäre dafür der perfekte Rahmen, doch wird es kaum möglich sein, Frankreich zur Mitwirkung darin zu bewegen. Bisher ist es wegen Souveränitätsbedenken nicht Teil der nuklearen Kommandostruktur der Nato und beteiligt sich deswegen nicht an Konsultationen in der NPG oder an Nuklearübungen der Allianz. Zwar nimmt Paris seit 2010 eine proaktivere Rolle mit Blick auf Nuklearfragen im Bündnis ein, und einige französische Experten halten einen französischen NPG-Beitritt für unproblematisch. Dennoch dürfte ein solcher Schritt auf massiven innenpolitischen Widerstand stoßen, da viele darin die Gefahr sähen, dass Frankreich seine nukleare Sonderrolle und Souveränität verlieren könnte. Parallelstrukturen oder bilaterale Formate wiederum wären nicht im Interesse der anderen Nato-Staaten. Damit wäre eine Intensivierung des Nukleardialogs allein im Nordatlantikrat denkbar, wo bereits unregelmäßige Sitzungen zu allgemeinen Fragen nuklearer Abschreckung stattfinden.
Schließlich wäre eine verstärkte Kooperation auch bei Nuklearübungen möglich. Dies könnte nicht nur die militärische Koordinierung unter den Nato-Verbündeten verbessern, sondern auch Frankreichs Sichtbarkeit und Rolle als europäische Atommacht nach außen unterstreichen, vor allem gegenüber Moskau. Schon jetzt nehmen Nato-Staaten unregelmäßig als Beobachter an den viermal im Jahr abgehaltenen »Poker«-Übungen der französischen luftgestützten Nuklearstreitkräfte teil. Vertreter Frankreichs waren auch schon als Beobachter bei Nato-Nuklearübungen zugegen. Diese Besuche könnten intensiviert werden und den Weg zu weitergehenden Schritten ebnen. Erstens könnten sie dahingehend ausgeweitet werden, dass Nato-Staaten, die keine Atomwaffen besitzen, gelegentlich aktiv an französischen Übungen teilnehmen, indem sie bestimmte konventionelle Fähigkeiten stellen. Zweitens könnten Frankreich und die Nato gleichzeitig Nuklearübungen abhalten, um nachdrücklichere strategische Signale (Signalling) an Moskau zu senden. Drittens könnte Frankreich nuklearfähige Kampfflugzeuge reihum auf Stützpunkten Verbündeter stationieren. Das wäre ein Zeichen der Solidarität mit den Verbündeten und könnte Moskaus Kalkulationen zusätzlich erschweren.
Diesen Optionen zum Trotz befindet sich der deutsch-französische Austausch zu Nuklearfragen derzeit in einer Sackgasse: Paris scheint nach Macrons Vorschlägen von 2020 eine Antwort von Berlin zu erwarten, während Berlin die Vorschläge für zu unkonkret hält und keine klare Vorstellung von Paris’ Überlegungen hat. Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, könnte die Bundesregierung offen auf die französische Regierung zugehen. Sinnvoll wäre dies besonders für den Fall, dass die Bundesregierung wegen der verschärften Bedrohungslage die europäische nukleare Abschreckung inklusive Frankreichs Potential aufwerten möchte oder im Nukleardialog mit Paris die bilateralen Beziehungen und mittel- bis langfristig auch die europäische Sicherheitspolitik verbessern will. Ein ergebnisoffener Austausch könnte aber auch helfen, gegenseitiges Verständnis für die unterschiedlichen Vorstellungen, Erwartungen und Positionen zu schaffen. Solche Gespräche könnten nicht nur ein Gegengewicht zu den wiederholten Rufen nach einer französischen Rückversicherung bilden. Darüber hinaus könnten sie als Grundlage für eine differenziertere europäische strategische Szenarienplanung in einem zunehmend instabilen internationalen Umfeld dienen.
Berlin müsste sich aber auch fragen, welche konkreten Ziele es mit einer bilateralen Nuklearkooperation verfolgen würde und welche Kosten es dafür zu tragen bereit wäre. Paris nämlich dürfte unter anderem anstreben, dass Deutschland sich öffentlich zur Bedeutung des französischen Atomwaffenarsenals für Europas Sicherheit bekennt. Möglicherweise erzeugt dies innenpolitische Kosten für Berlin. Diese könnten aber unter Umständen durch politische, militärische und strategische Vorteile aufgewogen werden, etwa durch eine Teilnahme an französischen Nuklearübungen. Vorstellbar wäre auch, dass Berlin mittels eines Dialogs längerfristig Möglichkeiten für eine gewichtigere Rolle Frankreichs in den nuklearen Strukturen der Nato auslotet. Am Ende kann aber nur ein gemeinsames Verständnis die Basis für weitergehende Schritte schaffen.
Lydia Wachs und Dr. Liviu Horovitz sind Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Das Aktuell entstand im Rahmen des Projekts STAND (Strategic Threat Analysis and Nuclear (Dis-)Order).
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ISSN (Online) 2747-5018
DOI: 10.18449/2023A07