Am 1. Januar 2023 tritt Luiz Inácio »Lula« da Silva seine dritte Präsidentschaft in Brasilien an. Damit endet gleichzeitig die von vielen politischen Beobachtern als destruktiv eingestufte Amtszeit von Präsident Jair Bolsonaro. Vieles deutet darauf hin, dass es zu einem geordneten Prozess der Übergabe des Präsidentenamts kommen wird, obwohl Bolsonaro seine Niederlage bislang nicht eingestanden hat und seine Anhänger Protestkundgebungen angekündigt haben. Der gewählte Präsident wird seine Regierungspolitik auf neue Grundlagen stellen müssen. Eine Rückkehr zu den Leitlinien seiner früheren Präsidentschaft wird nicht möglich sein, denn die Verwerfungen der Regierungszeit Bolsonaros lassen sich nicht ignorieren. Angesichts der komplexen innenpolitischen Lage – nicht zuletzt die für ihn ungünstigen Mehrheitsverhältnisse im nationalen Parlament – wird es für Lula schwierig werden, die starke Ablehnung seiner Person im eignen Land zu mindern und zudem die hohen internationalen Erwartungen an eine geordnete Regierungsführung zu erfüllen.
Nach seinen zwei Regierungszeiten im Präsidentenamt (2003–2011) kehrt Luiz Inácio »Lula« da Silva am 1. Januar 2023 im Alter von 77 Jahren wieder als Präsident nach Brasilia zurück. Mit der Stichwahl vom 30. Oktober 2022 hat die Demokratie Brasiliens entgegen verbreiteter Befürchtungen einen Beweis ihrer Stärke erbracht, und dies unter den Umständen eines extrem polarisierten Wahlkampfs, einer hohen Mobilisierung der Bevölkerung und der befürchteten Intervention des Militärs in den Wahlprozess. Der letztlich sehr enge Wahlausgang in der Stichwahl (nachdem Lula in den Umfragen lange vorne gelegen hatte) kann sich als große Bürde herausstellen, denn der Bolsonarismus hat sich als robust erwiesen und wird ihm die Amtsführung erschweren.
So steht Lula im Parlament einer oppositionellen Mehrheit gegenüber, zudem sind nur 10 der 27 Gouverneure dem Lula-Lager zuzurechnen. Dass bei den Wahlen auch der Gouverneursposten in dem bevölkerungsreichsten und wirtschaftlich bedeutendsten Bundesstaat São Paulo an einen Minister aus Bolsonaros Kabinett verloren ging, dürfte Lula besonders schmerzen. Der neue Präsident wird daher nicht »durchregieren« können. Er wird gezwungen sein, nicht nur innerhalb seines durchaus heterogenen Regierungsbündnisses Kompromisse zu schließen, sondern auch bei zentralen Entscheidungen große Zugeständnisse an das gegnerische Lager zu machen. Lula wird nicht umhinkönnen, Brücken zu bauen und in einem extrem gespaltenen Land Schritte zur Versöhnung zu initiieren. Dies gilt nicht zuletzt auch im Hinblick auf das Militär, das unter Bolsonaro eine enge Beziehung zu dessen Regierung gepflegt hat: Im Jahr 2020 belief sich die Zahl der Offiziere in der Verwaltung des Staates auf über 6.000, eine Verdoppelung gegenüber dem Stand des Jahres 2016. Nicht umsonst sind aus dem Bolsonaro-Lager im Rahmen von Demonstrationen immer wieder Aufforderungen an die militärische Führung ergangen, durch einen Staatsstreich die Übernahme des Präsidentenamts durch den Wahlsieger zu verhindern. Angesichts der oppositionellen Mehrheit im Parlament muss Lula zudem befürchten, dass radikale Bolsonaro-Anhänger bald ein Amtsenthebungsverfahren anstreben könnten, um die Machtbalance im Land zu verändern.
Der Bolsonarismus – nur ein Betriebsunfall?
Viele internationale Beobachter betrachten die Amtszeit von Jair Bolsonaro zuweilen als abseitige Episode in der Geschichte Brasiliens, mit Lulas Wahl sei das Land wieder zur Normalität zurückgekehrt. Doch diese Sicht verkennt den Epochenbruch, den Bolsonaro innen- und außenpolitisch in Brasilien bewirkt hat und der weiterhin das Land prägen wird. Dieser besteht in der Ideologisierung vieler politischer Fragen, von der Abtreibung über den Waffenbesitz bis zur wirtschaftlichen Nutzung des Amazonas-Gebiets. Dadurch wird es Lula erheblich schwerer haben, Kurskorrekturen durchzusetzen: Das Dreierbündnis zwischen dem Militär, evangelikalen Kirchen und neoliberalen Technokraten, das die Basis des Bolsonarismus bildet, ist zwar heterogen, besitzt aber eine hohe Mobilisierungsfähigkeit.
Die Hoffnung, mit Brasilien »werde nicht alles gut, aber vieles leichter« und es komme jetzt auf einen guten Neustart im deutsch- und europäisch-brasilianischen Verhältnis an, könnte zu kurz greifen. Mit der Rückkehr Lulas in den Präsidentenpalast eröffnet sich zwar die Chance, einen starken Partner (wieder)zugewinnen, der einem kooperativen Handlungsansatz folgt und mit Blick auf die Lösung globaler Probleme einen substanziellen Beitrag zur Wiederherstellung des multilateralen Rahmens internationaler Verständigung leisten kann und will. Dies hat Lula auch mit seiner Ansage, »Ich möchte sagen, dass Brasilien zurück ist. Wir sind zurück, um uns wieder mit der Welt zu verbinden«, nachdrücklich unterstrichen. Die isolationistische Ausrichtung der Außenpolitik Bolsonaros wird also tatsächlich der Vergangenheit angehören. Der Bolsonarismo jedoch wird auch weiterhin das politische Leben des Landes mitprägen. In den vergangenen vier Jahren haben sich die politischen und gesellschaftlichen Koordinaten in Brasilien mit einem massiv gewachsenen Nationalismus und einem neuen Souveränitätsdenken massiv verschoben. Dies wird es Lula unmöglich machen, an seine früheren Regierungszeiten unmittelbar anzuknüpfen. Bolsonaro selbst, seine politisch aktive Familie und die auf Fundamentalopposition angelegte Mobilisierungspolitik seiner Gefolgsleute werden die Amtsführung des neuen Präsidenten dauerhaft begleiten, wenn es diesem nicht gelingt, zu Teilen des Bolsonaro-Lagers einen Gesprächsfaden zu knüpfen. Bolsonaro wird den »Anti-Lulismo«, der in der brasilianischen Gesellschaft schon tief verankert ist, permanent befeuern. Das Feindbild lässt sich bei vielen gesellschaftspolitischen Fragen immer neu aktivieren und in massiven politischen Druck umsetzen, der sich auch im Parlament und in einer Justizialisierung der Politik niederschlagen wird.
Hohe Erwartungen an Präsident Lula – national und international
So stark, wie der Wahlkampf durch eine extreme Personalisierung zwischen Amtsinhaber Bolsonaro und Lula angelegt war, so vage gestaltete sich die programmatische Auseinandersetzung dieser Konfrontation. Lulas inhaltliches Angebot an die Wählerschaft orientierte sich stark an den Rezepten, mit denen er in der Vergangenheit Erfolg hatte, und stützte sich nicht zuletzt auf das Versprechen des sozialen Aufstiegs für alle. Seine ersten Bemühungen waren daher auch darauf ausgerichtet, im weitgehend leeren Bundeshaushalt Mittel zu mobilisieren, die er direkt mit Amtsantritt für Sozialprogramme einsetzen kann. Lula will seine Wähler dauerhaft an sich binden und ihr Abwandern oder auch nur ihre Demobilisierung verhindern.
Aber auch die international besonders hoch gehandelte Zuversicht, dass mit Lula ein schneller Umschwung beim Schutz natürlicher Ressourcen und der Reduzierung der Entwaldung des Amazonas eintreten wird, könnte zu seiner innenpolitischen Überforderung beitragen. Sein gefeierter Auftritt auf der COP27-Konferenz in Sharm El Sheikh, wo er eine neue Amazonas-Politik zusicherte, hat viele Hoffnungen und die Erwartung genährt, in Brasilien stehe nun eine Rückkehr zu den Eckpunkten seiner früheren Regierungszeit bevor.
Doch Lulas Regierung steht vor einem gravierenden Problem: Die Kassen sind leer, nicht zuletzt aufgrund der von Bolsonaro ausgeteilten Wahlgeschenke in Form von direkten Cash-Transfers an seine Wählerschaft. Diese schwierige Haushaltslage steht damit in klarem Kontrast zu der Boomphase, die Lulas erste Amtszeit kennzeichnete, als Brasilien durch den Aufstieg Chinas massiv von hohen Exportpreisen für seine Rohstoffe profitierte. Lula wird daher voraussichtlich mit der Forderung an die internationale Gemeinschaft herantreten, dass diese sich finanziell stärker für die Bewahrung des Regenwalds engagiert und Brasilien Möglichkeiten zur Entwicklung neuer wirtschaftlicher Optionen eröffnet, zum Beispiel durch eine höhere heimische Wertschöpfung bei der Ausbeutung von Rohstoffen. Hier wird es für Deutschland als Partner darauf ankommen, mit einem attraktiven Angebot auf die neue Regierung zuzugehen und nicht nur etablierte Investitions- und Projektansätze fortzuführen.
Brasilien als internationaler Akteur
Mit dem Amtsantritt von Jair Bolsonaro driftete Brasilien in eine internationale Isolation und verlor seine Führungsrolle in der Region und den internationalen Status als gestalterische Kraft innerhalb der BRICS-Gruppe und der G20. Bolsonaros Anti-Globalisierungsdiskurs, seine Allianz mit dem Agrobusiness zulasten einer nachhaltigen Amazonas-Politik und das stark ideologisch aufgeladene Muster des außenpolitischen Handelns beschädigten nicht nur die Reputation, sondern auch die Substanz der bilateralen Beziehungen des Landes. Die frühere Berechenbarkeit brasilianischer Außenpolitik ging dabei ebenso verloren wie deren lang gepflegte Orientierung am Multilateralismus. Verpflichtungen aus internationalen Vereinbarungen wie dem Pariser Klimaabkommen wurden nur noch symbolisch wahrgenommen, aus dem Global Compact für Migration und dem regionalen Verbund lateinamerikanischer und karibischer Staaten (CELAC) zog sich Brasilien ganz zurück. Auch das Verhältnis zu den USA hatte sich seit dem Amtsantritt von Joe Biden deutlich abgekühlt, Gleiches lässt sich mit Blick auf die EU sagen, wo nicht zuletzt Bolsonaros Amazonas-Politik den Ratifizierungsprozess des bereits ausgehandelten EU-Mercosur-Abkommens behinderte. Auch mit dem unmittelbaren Nachbarn und Mercosur-Partner Argentinien entwickelten sich die Beziehungen eher konfliktiv.
Manche dieser Verwerfungen wird Präsident Lula schnell reparieren können, indem er der Außenpolitik seines Landes wieder eine aktive Rolle zuweisen und auch so dazu beitragen wird, den Ruf Brasiliens als international verantwortlich handelnder Akteur wiederherzustellen. Andere Entscheidungen, insbesondere wenn sie der Zustimmung des Parlaments bedürfen wie internationale Verträge und die Bestellung von Botschaftern, dürften schnell in den Strudel der nationalen politischen Polarisierung geraten. Nicht zuletzt die Gouverneure der drei bevölkerungsreichsten Bundesstaaten São Paulo, Rio de Janeiro und Minas Gerais treten mit eigenen außenpolitischen Agenden auf, die Lulas Interessen oft entgegenlaufen dürften. Die Strategie des neuen Präsidenten, durch außenpolitische Erfolge innenpolitische Vorteile zu erringen, könnte schnell scheitern: So kündigte Lula an, Brasilien wolle die für 2025 geplante COP30 im brasilianischen Amazonasgebiet abhalten. Allerdings hat er gerade dort seine schwächsten Wahlergebnisse erzielt. Bis dahin wird er die Grundlagen des Ressourcen- und Umweltschutzes in der Region deutlich erweitern und den legitimen Bedürfnissen der indigenen Bevölkerungsgruppen gerecht werden müssen. Aber auch die ökonomischen Interessen der Landwirtschaft, der Holzindustrie und anderer großer wirtschaftlicher Stakeholder wird er in sein Regierungshandeln einbinden müssen, um dauerhaften Widerstand von Seiten des Agrobusiness zu vermeiden.
Aber auch das internationale Umfeld wird von Lula andere politische Fähigkeiten verlangen. Hohe Energie- und Nahrungsmittelpreise, eine Inflation von 8,3 Prozent (2021), eine Verschärfung der Verschuldung des Landes durch steigende Zinsen und die angespannte Haushaltslage lassen erwarten, dass der Präsident nur sehr begrenzte Handlungsspielräume haben wird. Zudem will Lula Brasilien im Spannungsfeld zwischen Washington und Peking nicht einseitig positionieren, um auch die angestrebte Aufwertung Brasiliens in den BRICS nicht zu gefährden und den Einfluss des Landes mit Blick auf den G20-Vorsitz im Jahr 2024 zu maximieren. Auf die neuen geopolitischen Herausforderungen wird Lula also erwartungsgemäß mit einer autonomieorientierten Aufstellung Brasiliens reagieren und dabei insbesondere auch Positionen des Globalen Südens aufnehmen. Zu den Schlüsselfragen gehört auch die Entscheidung, ob er die von Bolsonaro betriebene OECD-Mitgliedschaft seines Landes weiter verfolgen wird, die nach Ansicht seiner Berater für Brasilien keinerlei Vorteile erbringen würde. Viel wird sich an der Frage entscheiden, wie der neue Präsident die Beziehungen zu China anlegen wird, um die brasilianischen Exportinteressen abzusichern, die hohe innenpolitische Bedeutung besitzen. Gerade an dieser Front kommt seinem Vizepräsidenten Geraldo Alckmin, einem früheren Gouverneur von São Paulo, die Aufgabe zu, dem Präsidenten gegenüber dem Druck der verschiedenen Interessengruppen den Rücken frei zu halten und Dialogfähigkeit zu beweisen.
Eine neue Ära der deutsch-brasilianischen Beziehungen
Mit der geplanten Teilnahme von Bundespräsident Steinmeier an der Amtseinführung von Lula setzt Deutschland ein klares Zeichen, dass es die Beziehungen zu Brasilien wieder enger gestalten will. Dieser Auftakt sollte genutzt werden, um bestehende oder politisch suspendierte Kooperationen nicht nur wieder aufzunehmen, sondern auch neu zu gestalten. Hierzu zählen das Konflikt- und Kooperationsfeld der Amazonas-Politik (vgl. hierzu SWP-Aktuell 78/2022), die gemeinsame Technologieentwicklung und eine nachhaltige Ressourcennutzung. Hinzu kommt die von Lula angestrebte Nachverhandlung des eigentlich unterschriftsreifen EU-Mercosur-Abkommens, der möglicherweise auch durch eine Protokollergänzung beider Seiten Rechnung getragen werden kann. Es wäre eine Fehleinschätzung, erneut Brasilien als den Schlüssel zur Region Lateinamerika zu betrachten. Die vergangenen Jahre haben in vielen Ländern der Region eine starke Rückbesinnung auf nationale Prioritäten mit sich gebracht, so dass die Führungsrolle Brasiliens auch im Licht der wenig ertragreichen regionalen Integrationsbemühungen mit Zurückhaltung bewertet wird. In diesem Sinne sollten die neuen Möglichkeiten, die sich mit dem brasilianischen Partner ergeben, genutzt werden, ohne aber den Rest der Region aus dem Blick zu verlieren.
Prof. Dr. Günther Maihold ist Stellvertretender Direktor der SWP.
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DOI: 10.18449/2022A81