Die deutsch-tschechischen Beziehungen fanden in den letzten Jahren wenig Aufmerksamkeit, standen sie doch im Schatten der großen europäischen und internationalen Krisen. Nachdem es 2021 in Berlin und Prag zu Regierungswechseln gekommen ist, hat sich das bilaterale Verhältnis spürbar intensiviert, auch weil der Krieg in der Ukraine eine verstärkte Abstimmung erforderlich machte. Deutschland und die Tschechische Republik weichen zwar bei einer Vielzahl europäischer Fragen voneinander ab, etwa in der Debatte über Zukunft, Erweiterung und Reform der EU oder bei der militärischen Unterstützung für die Ukraine. Gleichzeitig aber bestehen zahlreiche Schnittmengen, so dass die Unterschiede keineswegs unüberwindbar sind, zumal beide Länder in der Europapolitik nach wie vor einem pragmatischen Ansatz folgen. Im Gegenteil: Die Spannbreite der Positionen und ein konstruktiver Dialog können die deutsch-tschechischen Beziehungen zu einem der wenigen funktionierenden Bilateralismen mit europäischem Mehrwert machen.
Die deutsch-tschechischen Beziehungen befinden sich gegenwärtig in einem positiven Zustand. Das ist angesichts historischer Belastungen sowie potentieller Differenzen in der Europa- und Sicherheitspolitik keine Selbstverständlichkeit. Anders als im deutsch-polnischen Verhältnis kam es nicht zu Dauerkonflikten und strukturellen Erosionen.
Dies heißt nicht, dass in den vergangenen Jahren keine Dissonanzen aufgetreten wären. Bei der Migrationskrise von 2015 standen beide Länder auf unterschiedlichen Seiten, und die unkoordinierten Grenzschließungen im Zuge der Corona-Pandemie unterbrachen Kontakte zumindest vorübergehend. Die russische Aggression gegen die Ukraine wiederum brachte unterschiedliche geopolitische Ansätze zum Vorschein – Prag zeigte sich aktiv, Berlin zögerlich. Diese Herausforderungen stellten Belastungstests für den gemeinsamen Umgang dar; sie trieben die beiden Länder aber nicht auseinander. Eine dichte Infrastruktur des bilateralen Austauschs, allen voran der Strategische Dialog zwischen den beiden Regierungen, sowie der Wille, den Kontakt auf hoher politischer Ebene aufrechtzuerhalten, ermöglichten ein Ausbalancieren von Gegensätzen.
Infolge von Parlamentswahlen im Herbst 2021 kam es in beiden Ländern zu Regierungswechseln. Auf politischer Ebene entfielen dabei zunächst zwei langjährige Konstanten zwischen den Nachbarstaaten – zum einen die persönliche Beziehung von Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Tschechischen Republik, zum anderen die parteipolitische Brückenfunktion zwischen den regierenden Sozialdemokraten auf deutscher und tschechischer Seite. Die Tschechische Sozialdemokratische Partei (ČSSD) ist nach drei Jahrzehnten nicht einmal mehr im Parlament vertreten und damit als Dialogpartner obsolet. Überdies kam es im parlamentarischen Bereich zu einem umfassenderen Generationswechsel, so dass hier die traditionelle Vertrautheit verschwunden ist.
Fortführung der Kooperationsagenda
In beiden Ländern entstanden neue Regierungsbündnisse. Die Berliner Ampelkoalition sprach sich klar für eine pro-europäische Politik aus. Sie forderte, die europäische Integration zu vertiefen und die »strategische Souveränität« der EU zu stärken. In Prag bildete sich eine Fünferkoalition der rechten Mitte. Sie führte die »eurorealistische« Demokratische Bürgerpartei (ODS) des neuen Premiers Petr Fiala mit europafreundlichen Koalitionspartnern zusammen, setzte aber vor allem konservative und pro-atlantische Akzente. Parteipolitisch gab es keine größeren Berührungspunkte zwischen den beiden Regierungen. Gleichwohl zeichneten sich von Beginn an gemeinsame Schnittmengen ab, etwa was den Anspruch einer stärker wertegeleiteten Außenpolitik betrifft. Dies galt insbesondere für einen kritischeren Umgang mit Russland und China, wie er von einzelnen Regierungsparteien in beiden Ländern gefordert wurde.
Im ersten Jahr nach den Wahlen belebten sich schon bald die wechselseitigen Beziehungen. Hierzu trugen der Krieg in der Ukraine und dessen Folgen ebenso bei wie die tschechische EU-Ratspräsidentschaft. So kam es zu bilateralen Treffen zwischen den Leitungen aller bedeutenden Ministerien, darunter der Außen- und der Wirtschaftsressorts. Der Prag-Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz im August 2022 und seine an der Karls-Universität gehaltene Grundsatzrede zur Zukunft der EU wurden in weiten Teilen der Union wahrgenommen.
Der intensivierte Dialog übersetzte sich in eine Reihe gemeinsamer Projekte. Ein zentrales Thema ist dabei die Energiepolitik. So unterzeichneten die zuständigen Minister eine Erklärung zur Energiesicherheit und -solidarität; zudem wurden die Kapazitäten der zwischen Italien und Deutschland verlaufenden Ölpipeline TAL erweitert, damit auf diesem Wege tschechische Raffinerien mit zusätzlichen Mengen versorgt werden können. Überdies ist angestrebt, das Land in einen der geplanten deutschen Terminals für Flüssigerdgas (LNG) einzubinden. Im Bereich von Sicherheit und Verteidigung vereinbarte man, der Tschechischen Republik 14 deutsche Leopard-2-Panzer zu übergeben, die per Ringtausch tschechische Panzerlieferungen an die Ukraine ersetzen sollen. Ende Juli unterzeichneten die deutsche Außenministerin und ihr tschechischer Amtskollege ein neues Arbeitsprogramm für den Strategischen Dialog in den Jahren 2022–2024, wodurch die Agenda der Regierungskooperation mit zahlreichen Themenfeldern auf operativer Ebene definiert wurde.
Zu einer positiven Arbeitsatmosphäre trug auch der vorwiegend sachliche Stil in der öffentlichen Kommunikation bei. Dass es Unterschiede zwischen Berlin und Prag hinsichtlich der Hilfe für die Ukraine gibt, wurde von tschechischer Seite bis auf wenige Ausnahmen nicht zum Gegenstand emotionaler Debatten in den Medien gemacht – zumindest nicht durch parteipolitische Protagonisten.
So konnte nach einigen Monaten des Sondierens und der Prager Ungeduld die Weiterentwicklung des deutsch-tschechischen Verhältnisses bekräftigt werden. Weiterhin müssen dabei Chancen genutzt werden, um das europapolitische Potential der bilateralen Beziehungen abzurufen. Hierbei sollte sich die deutsche Seite den Nutzen der Zusammenarbeit vergegenwärtigen, die tschechische Seite hingegen ihre Kooperationshoffnungen immer wieder artikulieren, aber auch realistisch einordnen.
Mehrwert der Zusammenarbeit …
Dass sich weder Krisen und Krieg noch innenpolitische Prozesse negativ auf die deutsch-tschechische Zusammenarbeit ausgewirkt haben, hängt mit den jeweiligen Interessen und einem überwiegend realpolitischen Ansatz in der Berliner wie Prager Europa- und Sicherheitspolitik zusammen. Nun wird es darum gehen, das hohe Kooperationsniveau fortzuführen und es noch stärker als bislang europa- und außenpolitisch zu nutzen.
Pragmatismus und konstruktives Zusammenwirken haben in der Vergangenheit zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik zu einer unspektakulären Normalität geführt, die für sich ein großer Erfolg war, aber kaum in gemeinsame Gestaltungsversuche umgemünzt werden konnte. Damit der Schwung der Kooperation erhalten bleibt, sollten sich beide Länder des Mehrwerts ihrer Beziehungen bewusst werden. Dadurch lässt sich den Risiken entgegenwirken, die zu einer Erlahmung oder Ritualisierung des Miteinanders führen könnten, nämlich schleichende Gleichgültigkeit in Deutschland gegenüber der Zusammenarbeit mit dem kleineren Nachbarn und weltanschauliche Vorbehalte in Teilen des politischen Spektrums auf tschechischer Seite.
... aus deutscher Sicht
Deutschland steht in Ostmitteleuropa wegen seiner Russlandpolitik und seiner Reaktion auf den Krieg in der Ukraine unter Druck. In zahlreichen Ländern kritisiert man die Bundesregierung für ihre Zögerlichkeit, für spät anlaufende Waffenlieferungen, Schwierigkeiten beim Ringtausch oder das Nein zu einer restriktiven Visapolitik gegenüber Russland. Die Zusammenarbeit mit einem regional vergleichsweise wichtigen Land wie Tschechien, das klar ins russlandkritische Lager gehört, verschafft Deutschland in der EU sowie im transatlantischen Verbund ein Mehr an Legitimität.
Die deutschen Beziehungen zu den Ländern in Ostmitteleuropa sind schwierig. Russland- und sicherheitspolitische Differenzen erschweren den Dialog mit Polen, den baltischen Staaten und anderen Ländern aus Ostmittel-, Südost- und Nordeuropa. Das bilaterale Verhältnis zu Polen und Ungarn ist allein schon wegen des Themas Rechtsstaatlichkeit kompliziert. Im Umgang mit der Warschauer Regierung rücken durch deren Reparationsforderungen wieder historische Fragen in den Vordergrund. Wird die Zusammenarbeit mit der Tschechischen Republik verstärkt, dürfte dies Berlins Beziehungen in die Region insgesamt stabilisieren, da Prag als ein relativ unkomplizierter Partner gelten kann.
Ansatzweise kann das Land dabei auch als Scharnier wirken. In der Vergangenheit wurde eine Zusammenarbeit zwischen Deutschland, der Tschechischen Republik und der Slowakei in Aussicht gestellt. Durch den Krieg in der Ukraine hat sich mit der »enhanced Vigilance Activity Battlegroup«, die im Rahmen der Nato in der Slowakei aufgestellt wurde, eine solche Dreierkooperation nun auf sicherheitspolitischem Feld herausgebildet. Es böte sich an, das trilaterale Zusammenwirken auf weitere Felder auszudehnen. Auch ließe sich an andere regionale Formate mit deutscher und tschechischer Beteiligung denken. Partizipieren könnte Deutschland etwa an Slavkov (der informellen Zusammenarbeit zwischen Tschechischer Republik, Slowakei und Österreich) oder an den C5 (den »Central Five«, einer lockeren Kooperationsinitiative aus Österreich, Tschechischer Republik, Slowakei, Ungarn und Slowenien, die sich unter anderem Fragen von Grenzschließungen und Migration widmet).
Deutschland benötigt Partner in der EU, will es seinem immer wieder formulierten Gestaltungswunsch in der Europapolitik und seinem deutlich vertretenen Anspruch, als eine europäische Führungsmacht zu handeln, gerecht werden. Doch viele Mitgliedstaaten – nicht nur aus dem östlichen Teil der Union, sondern auch aus dem Norden und dem Süden – stehen den Berliner Vorschlägen zurückhaltend gegenüber. Teils versuchen sie, Kapital aus Deutschlands realer oder vermeintlicher Schwäche zu schlagen. Gerade in dieser Lage ist es wichtig, sich auf funktionierende Partnerschaften verlassen zu können. Eine deutsch-tschechische Kooperation mit aktiver europapolitischer Dimension kann für Berlin hilfreich sein, wenn es darum geht, Kompromisse auszuarbeiten oder einzelne Politiken weiterzuentwickeln – was indirekt den Reformbemühungen der EU zugutekommen kann.
Die Europapolitik der tschechischen Regierung ist indes nüchtern zu betrachten. Zwar gibt es in der Prager Koalition integrationsfreundliche Stimmen, doch werden sie gedämpft durch den »eurorealistischen« Kurs der größten Regierungspartei ODS. Der tschechische Premierminister Fiala hat angekündigt, er wolle sich künftig stärker mit der neuen italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und dem polnischen Premier Mateusz Morawiecki koordinieren, also zwei Regierungschefs, die Parteien angehören, die ebenso wie Fialas ODS Teil des nationalkonservativen Bündnisses »Europäische Konservative und Reformer« (EKR) sind. Daraus dürfte keine enge Abstimmung zwischen den dreien resultieren. Doch aus deutscher Sicht sind derlei Äußerungen – wie die Grundausrichtung gerade der ODS an sich – allerdings auch ein Argument dafür, die Beziehungen mit Prag zu stärken. Denn so bietet sich eine Chance, der Bildung einer EU-skeptischen Gruppe aus Mittel- und Südeuropa entgegenzuwirken bzw. Kontakt mit einem pragmatischen Repräsentanten aus dem Kreis der EKR zu halten.
… und aus tschechischem Blickwinkel
Aus tschechischer Perspektive ist Deutschland ein Partner, ohne den eine aktive Politik der EU ebenso wenig möglich ist wie eine Stärkung der Nato in Europa. Angesichts der von Kanzler Scholz ausgerufenen »Zeitenwende«, die mit massiven Rüstungsinvestitionen einhergehen soll, könnte die Bundesrepublik demnach eine zentrale Rolle dabei spielen, die Verteidigung der Nato und die sicherheitspolitische Dimension der EU voranzubringen. Deutschland wird aus tschechischer Sicht auch in Zukunft keine militärische und sicherheitspolitische Führungsmacht sein. Doch vielleicht darf man ihm zutrauen, eine enabling power zu werden – also ein Staat, der dank seines Potentials und seiner Politik langfristig die Handlungsfähigkeit im europäischen Pfeiler der Nato steigert, der die sicherheits- und verteidigungspolitische Dimension der EU aufwertet, ohne dadurch die transatlantischen Bindungen aufzuweichen, und der durch gezielte Kooperation mit Partnern deren Verwundbarkeiten reduziert. Zwar bestehen in der Tschechischen Republik durchaus Vorbehalte gegenüber der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP), da befürchtet wird, sie könnte die strategischen Bande mit den USA schwächen. Dennoch hat sich das Land aktiv in europäische Initiativen wie etwa die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO) eingebracht, an denen auch Deutschland mitwirkt.
Die Tschechische Republik teilt mit Deutschland ein grundlegendes Interesse an einer kohärenten und handlungsfähigen EU bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des transatlantischen Verhältnisses. Als kleiner bzw. mittelgroßer Mitgliedstaat hat die Tschechische Republik nur begrenzte Möglichkeiten, die Orientierung der EU oder die Weiterentwicklung ihrer Politiken zu beeinflussen. Jenseits der Zusammenarbeit mit anderen kleineren bis mittleren Staaten ist Deutschland aufgrund seines Gewichts und seiner historisch angeleiteten Integrationsbejahung ein notwendiger Partner für die Tschechische Republik, will sie die Chancen erhöhen, dass ihre europapolitischen Anliegen realisiert werden.
Prag ist allerdings daran interessiert, dass die deutsche Europa- und Sicherheitspolitik ihre Gestaltungs- und Fortentwicklungsinitiativen auch über den Rahmen des deutsch-französischen Tandems hinaus entfaltet. Der Einfluss Deutschlands und Frankreichs ist nach dem EU-Austritt Großbritanniens, das der Tschechischen Republik in vielerlei Hinsicht nahesteht, strukturell gewachsen. Für Prag ist daher die deutsch-französische Zusammenarbeit durch eine gestärkte Rolle Mitteleuropas in der europäischen Politik zu ergänzen. Der bessere Weg hierfür ist aus tschechischer Sicht die Kooperation mit Deutschland – und nicht der (etwa von Polen betriebene) Versuch, die Bundesrepublik zu umgehen oder auszutarieren. Die gegenwärtigen Friktionen zwischen Berlin und Paris sind zwar nicht im tschechischen Interesse, da es deutsch-französischer Zwist der europäischen Politik erschwert, in wichtigen Themenfeldern voranzukommen. Doch könnten sich manche in Prag erhoffen, dass die deutsch-französischen Misstöne Berlin dafür sensibilisieren, welche Chancen die Zusammenarbeit mit den mitteleuropäischen EU-Staaten – und vor allem mit der Tschechischen Republik selbst – bietet.
Die Bundesrepublik ist aus tschechischer Sicht zwar oft Quelle der Frustration, doch anders als im Fall der USA besteht bei Deutschland nicht das Risiko, dass das Interesse an Europa bzw. der europäischen Sicherheit verlorengeht – wie im Szenario einer amerikanischen Hinwendung nach Asien oder eines Washingtoner Rückzugs in die Innenpolitik. Und anders als Frankreich gilt der Nachbar Deutschland europapolitisch als ein Partner, der gegenüber Ostmitteleuropa eine interessenbedingte Neigung zu Kooperation und Einbindung hat. Wohl gab es zwischen Prag und Paris während der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft kooperative Arbeitsbeziehungen, und die Positionen der beiden Länder überlappen sich bei einzelnen Themen, so bei der Atomenergie. Dennoch zweifelt man auf tschechischer Seite daran, dass Frankreich ein nachhaltiges Engagement gegenüber Ostmitteleuropa entwickeln kann.
Eine Union, die sich erweitert und reformiert
Ein übergeordnetes Thema, bei dem Deutschland und die Tschechische Republik aktiv nach Gemeinsamkeiten suchen sollten, ist die Debatte um Reformen und Zukunft der Europäischen Union. Beide Länder wollen den Erweiterungsprozess revitalisieren und sprechen sich dafür aus, dass sowohl die Länder des Westlichen Balkans als auch die neuen Beitrittskandidaten Ukraine und Moldau (und vielleicht Georgien) auf ihrem Weg in die EU Fortschritte machen.
Deutschland hat sich im Zeichen des Ukraine-Krieges und neuer geopolitischer Herausforderungen der traditionell erweiterungsfreundlichen Tschechischen Republik angenähert. Anders als dort gibt es in Deutschland indes weiterhin Bedenken, was die praktischen Konsequenzen eines raschen und nicht ausreichend vorbereiteten Beitrittsprozesses angeht. Von deutscher Seite werden daher Reformen der EU – wie die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen – zur Bedingung für die Aufnahme neuer Mitglieder gemacht. Dieses Ansinnen korrespondiert mit deutschen Bestrebungen, die Gemeinschaft durch innere Umbaumaßnahmen handlungsfähiger und international durchsetzungsstärker zu machen. Die jetzige Bundesregierung hatte dieses Ziel schon vor Kriegsbeginn im Koalitionsvertrag von 2021 niedergelegt.
Solche Ansätze sind verständlich, doch werden sie allzu rigide verfolgt, kann dies den Verdacht nähren, Deutschland sei in Wirklichkeit nicht an einer Erweiterung der EU gelegen. Auf die Berliner Politik wartet daher ein schwieriges Manövrieren zwischen hohen Ansprüchen an Kandidaten- bzw. Beitrittsländer, einer Hebung der Integrationsfähigkeit der Gemeinschaft und der politischen Unterstützung für den Erweiterungsprozess. Ohne eine sich konkretisierende Beitrittsperspektive droht die EU an Einfluss, Deutschland wiederum seine Glaubwürdigkeit zu verlieren.
In der Tschechischen Republik hingegen gibt es Widerstand gegen eine weitere »Vertiefung« der EU, sei es durch Vertragsänderungen oder auf sonstigen Wegen, etwa um Einstimmigkeitsregeln in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) hinter sich zu lassen. In einer Rede vor der Botschafterkonferenz seines Landes am 22. August 2022 hat der tschechische Premier in diese Sinne deutlich gemacht, dass er derlei Reformdiskussionen für fehl am Platze halte und das Konsensprinzip in der EU präferiere. Obwohl sich die Tschechische Republik entschlossen für den EU-Beitritt der Ukraine und der Länder des Westbalkans einsetzt, wendet sie sich also gegen Strukturreformen in der Entscheidungsfindung. Vergleicht man diese Haltung mit dem Tenor der deutschen Debatte oder der Grundsatzrede des deutschen Kanzlers an der Karls-Universität, so wird ersichtlich, dass in den beiden Ländern zwei verschiedene Ansätze verfolgt werden: »Erweiterung nur nach Vertiefung« auf der einen, »Erweiterung ohne Vertiefung« auf der anderen Seite.
Bei der tschechischen Haltung dürften Grundsatzerwägungen zur Gestalt der EU eine Rolle spielen, aber ebenso Bedenken, dass zusätzliche Mehrheitsentscheide das deutsch-französische Tandem aufwerten könnten – auch wenn dieser Vorbehalt in Prag nicht so explizit ausformuliert wird wie in anderen Mitgliedstaaten. Der tschechische Standpunkt mag legitim sein, setzt Prag aber auch dem Risiko aus, sich in diesen Debatten als ein Akteur wiederzufinden, der bestehenden Vorschlägen nicht zustimmt, ohne eine alternative Vision anzubieten. Dabei droht das Land an Relevanz zu verlieren, ebenso an Möglichkeiten, eigene Positionen zu vertreten, gerade wenn es um Fragen der Erweiterung geht. Die alte Debatte über EU‑Reformen und das Verhältnis von Erweiterung zu Vertiefung, die nun in einem neuen Kontext geführt wird, sollte von den beiden Ländern daher offensiv und sichtbar aufgegriffen werden.
Die Gelegenheit beim Schopf packen: Handlungsempfehlungen
Neben allen Fragen, die den Krieg in der Ukraine und dessen Konsequenzen betreffen, sollten Deutschland und die Tschechische Republik mit ihren spezifischen Motivlagen also die Diskussion stimulieren, in welche Richtung sich die EU weiterentwickeln muss. Mit Blick auf ihre engen ökonomischen Verflechtungen sollten sie sich gleichzeitig um die Zukunftsfähigkeit ihrer Wirtschaftsmodelle im Kontext der EU kümmern und deren Bemühen unterstützen, mehr »europäische Souveränität« im ökonomischen Bereich zu erlangen. Dies sollte einhergehen mit neuen Anstrengungen, den bilateralen Dialog angesichts von Generations- und Themenwechseln zu festigen.
Die Diskussion über die Zukunft der EU inhaltlich voranbringen. Deutschland und die Tschechische Republik verfolgen unterschiedliche Visionen, wohin sich die europäische Integration langfristig bewegen soll. Die deutsche Seite propagiert eine bundesstaatlich verfasste EU, während die tschechische sich eher an einer Gemeinschaft orientiert, die durch Koexistenz supranationaler und spürbar intergouvernementaler Prinzipien bestimmt wird. In der Praxis haben sich aus diesen Abweichungen keine Konflikte ergeben, weil die Europapolitik hier wie dort immer wieder pragmatisch gestaltet wurde. Die deutschen und die tschechischen Positionen (so vage sie im Einzelnen noch sein mögen) liegen insgesamt weit genug auseinander, um eine gewisse europäische Spannbreite zu entwickeln, sind sich aber zugleich nahe genug, um einen konstruktiven Dialog zu ermöglichen. Insofern bestehen gute Voraussetzungen, dass Berlin und Prag die Debatte über die Zukunft der EU gemeinsam anregen können.
Eine Idee wäre dabei, dass die beiden Regierungen im informellen Rahmen mögliche Szenarien einer Reform und »Nichtreform« der EU entwickeln. Entsprechende Überlegungen könnten durch ein gemeinsames Team aus Diplomaten und Fachleuten umgesetzt werden (eventuell ergänzt um andere Mitgliedstaaten). Im Vordergrund stünde die Frage, ob Reformen wünschenswert wären, bevor künftig neue Mitglieder aufgenommen werden, worin diese Reformen gegebenenfalls bestehen sollten und welche davon als unabdingbar zu gelten hätten, um die Handlungsfähigkeit der EU zu sichern. Damit könnten reformpolitische Notwendigkeiten zwischen zwei Ländern herausgearbeitet werden, die durchaus unterschiedliche Ausgangslagen haben, dabei aber das Ziel teilen, die EU zu erweitern und ihr Handlungsvermögen zu verbessern.
Eine andere Möglichkeit wäre ein »Prague Process« – ein neu zu schaffendes Format, bei dem die Tschechische Republik und Deutschland (sowie möglicherweise andere EU-Staaten) einzelne Mitgliedsländer oder kleine Gruppen dazu einladen würden, ihre Ideen vorzustellen. Dabei ginge es – gewissermaßen im Nachgang zur Kanzlerrede an der Karls-Universität – um offene Wortbeiträge zu EU-Reformen sowie Fragen der Vertiefung und Erweiterung, aber auch um Workshops von Diplomaten und Experten, die im Kontext solcher Stellungnahmen veranstaltet würden. Dies alles würde dazu dienen, die eventuell einsetzenden prozeduralen Überlegungen zu Vertragsreformen oder anderen Reformanstrengungen frühzeitig inhaltlich zu flankieren.
Deutsch-tschechische »Lieferkettendialoge« führen. Die internationale Politik befindet sich in einer Phase, in der die Großmachtkonkurrenz zunimmt, multilaterale Regelsysteme infrage gestellt werden und wirtschaftliche Interdependenz unter sicherheitspolitischen Aspekten oft bedenklich erscheint. Vor diesem Hintergrund dürfte das Streben nach »strategischer Resilienz« und »europäischer Souveränität« in ökonomischen Belangen zu einem zentralen Themenfeld deutsch-tschechischer Kooperation der nächsten Jahre werden – sind die beiden Länder wirtschaftlich doch eng miteinander verflochten und durch eine starke Außenhandelsorientierung geprägt. Bedeutende Zukunftsfragen für Berlin und Prag sind insbesondere die Ausgestaltung und Sicherung von Lieferketten, also ihre Diversifizierung, ihre Anfälligkeit und ihre Verbindung mit ökologischen oder sozialen Kriterien, ebenso die Sicherung von Ressourcen für strategische Sektoren. Darauf auswirken wird sich auch die deutsche China-Strategie, die noch auszuformulieren ist. Über Diversifizierung und Versorgungssicherheit auf nationaler wie europäischer Ebene dürfte künftig intensiver nachgedacht werden, etwa im Kontext des geplanten europäischen Gesetzes über kritische Rohstoffe. Entsprechende Überlegungen sollten auch im Verhältnis zwischen Berlin und Prag in hervorgehobener Weise angestellt werden. Zu empfehlen sind »Lieferkettendialoge« in den etablierten Gesprächsformaten sowie in deutsch-tschechischen Debatten, die an der Schnittstelle zwischen Politik und Wirtschaft stattfinden.
Sicherheitspolitik atlantisch und europäisch denken. Beide Länder trachten sicherheitspolitisch danach, die transatlantische Zusammenarbeit effektiver zu machen, gleichzeitig aber auch die europäischen Anstrengungen – in der Nato und der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) – weiter zu forcieren. Deutschland und die Tschechische Republik könnten im Rahmen des Strategischen Dialogs bzw. der zuständigen Arbeitsgruppe für Sicherheit und Verteidigung einen strukturierten Austausch über Verteidigungs- und Rüstungsplanung führen. Hierbei würde vorausschauend darüber gesprochen, wie die jeweiligen Fähigkeitsprofile zu gestalten bzw. Fähigkeitslücken zu schließen sind; bei gemeinsamen Projekten ließen sich zudem Finanzierungen und Planungshorizonte transparent machen. Dies gilt unter anderem für den Bereich Flugabwehr. Die Tschechische Republik beteiligt sich an der European Sky Shield Initiative (ESSI) und könnte dabei eine enge Abstimmung mit Deutschland demonstrieren, die als Vorbild für andere Teilnehmer dienen würde. Beide Länder könnten überdies darauf drängen, mittel- und langfristig EU-(Teil-)Finanzierungsmöglichkeiten für ESSI zu entwickeln – und so die EU sicherheitspolitisch aufzuwerten, allerdings im Sinne der von Prag wie Berlin gewünschten Stärkung des europäischen Pfeilers der Nato.
Politische Kontakte revitalisieren. Im Zuge des Generationswechsels sind in den vergangenen Jahren zahlreiche Politikerinnen und Politiker aus den Parlamenten beider Länder ausgeschieden, die noch durch den historischen Versöhnungsprozess zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik sowie durch das EU-Erweiterungsgeschehen geprägt waren. Zwischenzeitlich ergab sich im bilateralen Verhältnis eine unspektakuläre Normalität, die das politische Interesse am jeweiligen Nachbarland oftmals sinken ließ. Ausgenommen hiervon sind grenzüberschreitende Kontakte nichtstaatlicher Art sowie die Beziehungen zwischen den angrenzenden deutschen Bundesländern und der Tschechischen Republik. Zwar besteht ein solides Netzwerk für den Austausch, doch dominieren dabei die Exekutiven und etablierte zivilgesellschaftliche Dialogstrukturen, während es im parlamentarischen Bereich offenkundig Vorbehalte gibt. Diplomatie und Zivilgesellschaft sollten sich bemühen, der parlamentarischen Ebene Einbindungs- und Dialogofferten zu unterbreiten. Hierbei geht es auch um neue Politikergenerationen, ebenso um sich wandelnde Themenfelder, die beide Länder national, bilateral sowie im europäischen Zusammenhang zunehmend beschäftigen werden, so etwa Umwelt- und Nachhaltigkeitsfragen, der Umgang mit Radikalisierung, Verschwörungstheorien und Hate Speech im Netz oder Herausforderungen der digitalen Wirtschaft.
Ausblick
Zwischen Berlin und Prag droht keine Krise. Im Gegenteil – trotz einer Reihe von Interessensdifferenzen kann die deutsch-tschechische Agenda in schwierigen Zeiten ausgebaut und fortentwickelt, das bilaterale Verhältnis mithin weiter vertieft werden. Voraussetzung dafür ist, Kooperationsfelder zu definieren und den erforderlichen politischen Willen zu bewahren, daneben aber auch, angesichts der immensen Herausforderungen in Europa mit Erwartungen realistisch umzugehen. Deutschland sollte nur das in Aussicht stellen, was es auch leisten kann, etwa bei Fragen der Energiesolidarität oder in der Sicherheitspolitik. Die Tschechische Republik wiederum sollte sich bewusst sein, dass es von deutscher Seite immer ein Element des Aufmerksamkeitsmangels geben wird, solange Berlin durch anderweitiges europäisches oder bilaterales Problemmanagement absorbiert ist.
Dr. Jakub Eberle ist Forschungsdirektor am Institut für Internationale Beziehungen, Prag.
Dr. Kai-Olaf Lang ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa der SWP.
Dr. Vladimír Handl ist Dozent am Lehrstuhl für Deutsche und Österreichische Studien an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Karls-Universität, Prag.
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