Die deutsch-polnischen Beziehungen befinden sich in einem Zustand von Dauerkonflikt und wechselseitiger Entfremdung. Eine Trias von Problemfeldern belastet derzeit das Verhältnis: die von Warschau erhobenen Forderungen nach Reparationen, Differenzen in der Reaktion auf Russlands Krieg gegen die Ukraine sowie Unstimmigkeiten in der Europapolitik. Das polnische Regierungslager hat gegenüber Deutschland eine harte Gangart eingeschlagen und betreibt eine antagonisierende Politik mit dem Ziel, den westlichen Nachbarn einzuhegen. Da 2023 die polnischen Parlamentswahlen anstehen, sind in dem Land bei Themen mit Deutschlandbezug weitere Zuspitzungen zu erwarten. Rehistorisierung, ein manifester »security divide« und Divergenzen in wichtigen EU-Fragen sollten aber den Blick auf Deutschlands Interessen in Bezug auf Polen nicht verstellen. Gerade in Zeiten von Krieg und externen Herausforderungen gilt für das bilaterale Verhältnis ein Konsolidierungsimperativ.
Am 1. September 2022 wurde im Warschauer Schloss ein Bericht vorgestellt, in dem die Schäden, die Polen während des Zweiten Weltkriegs von deutscher Seite erlitten hat, auf die Summe von 6,2 Billionen Złoty (etwa 1,3 Billionen Euro) veranschlagt werden. Das Gutachten war unter Koordination eines Abgeordneten der Regierungspartei PiS über mehrere Jahre entstanden und bildet nun den Ausgangspunkt für Reparationsforderungen, die gegenüber Deutschland erhoben werden. Am 14. September nahm der Sejm, die polnische Abgeordnetenkammer, mit großer Mehrheit und bei Zustimmung der meisten Oppositionsparlamentarier einen entsprechenden Beschluss an. Darin wird konstatiert, dass Warschau sich niemals seiner Ansprüche begeben habe und die Republik Polen weder Entschädigungen seitens des »deutschen Staates« noch Wiedergutmachung für das Unrecht, das polnischen Bürgern zugefügt wurde, erhalten habe. Eine diplomatische Note, die am 3. Oktober an Berlin übermittelt wurde, formalisierte das Anliegen. Die Bundesregierung bezog dazu den Standpunkt, dass sich Deutschland politisch und moralisch zu seiner aus dem Zweiten Weltkrieg resultierenden Verantwortung bekenne, Reparationsforderungen hingegen rechtlich unbegründet seien.
Versöhnung und Reparationen
Bei der Forderung nach Reparationen geht es um mehr als nur finanziellen Ausgleich für erlittenen Schaden. Die Warschauer Kampagne zielt auch darauf ab, dass in der deutschen Erinnerungslandschaft die polnische Opferrolle adäquat gewürdigt wird und wahrgenommene Gerechtigkeitslücken überwunden werden. Denn nach eigener Einschätzung hat Polen im Gegensatz zu anderen Ländern keine angemessene Kompensation für das Unrecht erhalten, das ihm von Deutschland und Deutschen zugefügt wurde. Innenpolitisch sucht die PiS mit dem emotional aufgeladenen Thema an jene Teile der eigenen Gesellschaft zu appellieren, die ihr bislang distanziert begegnen, zugleich aber positiv zu einer Form deutscher Wiedergutmachung stehen. Immerhin hält nach einer Umfrage vom Frühherbst etwas mehr als die Hälfte der polnischen Bürger die Reparationsforderungen für berechtigt. Dabei hat die PiS eine Anhängerschaft von nur gut einem Drittel der Befragten. Zugleich meinen 70 Prozent, die Partei mache Wahlkampf mit ihren Aktivitäten in Sachen Reparationen. In einem weiteren Sinne geht es aber auch darum, Deutschland entschlossen zu begegnen. PiS-Chef Jarosław Kaczyński sprach bei der Vorstellung des Reparationsberichts davon, es wäre Ausdruck eines »krankhaften Minderwertigkeitskomplexes«, sollte Polen keine Ausgleichsleistungen einfordern.
Offenkundig ist, dass die PiS mit dem Reparationsthema issue ownership in der Versöhnungspolitik betreibt. Galt Versöhnung einst als ein 90er-Jahre-Projekt liberaler Eliten, in dem polnische Interessen hintangesetzt wurden, so will die PiS den Begriff neu definieren. Für Premierminister Mateusz Morawiecki dient der Bericht über die Polen zugefügten Schäden der »echten polnisch-deutschen Versöhnung«. Ohne »Wahrheit, Wiedergutmachung und Entschädigung« könne es keine »normalen Beziehungen« zu Deutschland geben. Materielle Ausgleichsleistungen werden somit als Voraussetzung für einen nachhaltigen Versöhnungsprozess betrachtet. Der bisherige Vizeaußenminister und neue Europaminister Szymon Szynkowski vel Sęk schlug sogar vor, neben dem Grenzbestätigungs- und dem Nachbarschaftsvertrag (die beide seit drei Jahrzehnten in Kraft sind) einen dritten deutsch-polnischen Vertrag abzuschließen, mit dem die Reparationsfrage geregelt würde.
Zusammen mit den sicherheits- und europapolitischen Differenzen hat sich im deutsch-polnischen Verhältnis somit eine Trias an kontroversen Themenfeldern herauskristallisiert, seit die Reparationsforderungen auf Exekutivebene lanciert und politisch massiv flankiert wurden (die Problematik an sich hatte das polnische Regierungslager schon seit längerem in den Diskurs eingebracht). Erstens kommt es zu einer asymmetrischen Rehistorisierung: Der Umgang mit der Vergangenheit schiebt sich wieder prominent auf die bilaterale Agenda – nicht in einem konstruktiven Sinne, sondern in Form eines divergenten Umgangs mit Fragen von Schuld und Sühne.
Zweitens hat sich der seit langem bestehende security divide zwischen Deutschland und Polen angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine vertieft. Zwar sind sich die beiden Länder grundsätzlich einig, was den Blick auf Moskaus Vorgehen und die Reaktion des Westens betrifft. Doch nach wie vor zeiht Polen die Bundesrepublik der Zaghaftigkeit, wenn es darum geht, Russland zurückzudrängen und die Ukraine militärisch zu unterstützen. Polen fürchtet sich vor Russland; in Deutschland wiederum besteht – bei aller Solidarität mit der Ukraine – die Sorge vor einer unkontrollierten Eskalationsdynamik des Krieges.
Drittens schließlich gibt es substantielle Zwistigkeiten in der Europapolitik. Das gilt für die langfristige Entwicklung der EU, wo sich vertiefungsorientierte, ja föderale Leitbilder auf deutscher Seite und neo-souveräne Vorstellungen auf polnischer gegenüberstehen. Es gilt ebenso für die Rechtsstaatspolitik, bei der Warschau weiterhin im Clinch mit Brüssel liegt und EU-Institutionen einschließlich des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) Eingriffs- und Sanktionsbefugnisse in Regelungsbereichen wie der nationalen Justiz abspricht. Und es gilt für einzelne Politikfelder wie etwa die Energie- und Klimapolitik, in der Polen Deutschland Versäumnisse und Inkonsistenzen vorwirft und daher allenfalls zögerlich Energiesolidarität mit dem Nachbarn an den Tag legt.
Die polnische Opposition der liberalen und linken Mitte teilt weitgehend die heftige Kritik, die von der PiS in Fragen der Sicherheits-, Russland- und Energiepolitik an Deutschland geübt wird. Die von der Partei angestoßenen Reparationsforderungen unterstützt sie nolens volens, da sie sich ein Nein dazu innenpolitisch nicht leisten kann. Sie unterscheidet sich allerdings deutlich vom Regierungslager, was Grundfragen der Europapolitik angeht, in der sie generell integrationsfreundlich orientiert ist. Vor allem zieht sie andere Schlussfolgerungen für den Umgang mit Berlin: Vorbehalte gegenüber deutscher Politik sollen demnach nicht zu einer Frontstellung führen, sondern zu einem kritischen Dialog, zumindest aber zu produktiver Koexistenz. Solange die PiS indes Regierungsverantwortung trägt und Deutschland nicht spürbar von seinen bisherigen Maximen in der Sicherheits-, Europa- und Geschichtspolitik abrückt, ist davon auszugehen, dass alle drei großen Konfliktbereiche die bilateralen Beziehungen weiterhin strapazieren und verkomplizieren werden.
Alter Argwohn, neue Macht?
Die Haltung des heutigen polnischen Regierungslagers gegenüber Deutschland war stets geprägt von Skepsis, Loyalitätszweifeln und der Sorge, majorisiert zu werden. Innenpolitische Faktoren, nicht zuletzt die planmäßig im Herbst 2023 anstehenden Parlamentswahlen, jahrelange Bedenken gegenüber der deutschen Ostpolitik sowie europapolitische Dissonanzen haben dazu geführt, dass sich die Wahrnehmung des Nachbarlandes kontinuierlich verschlechterte. Der habitualisierte Argwohn der PiS gegenüber Berlin hat sich durch Russlands Angriff auf die Ukraine nochmals verschärft und gleichzeitig in einen neuen Kontext eingefügt. Drei Elemente bestimmen dabei das allgemeine Deutschlandbild der PiS.
Erstens wird das Land trotz (oder gerade wegen) der gemeinsamen Mitgliedschaft in Nato und EU zunehmend als Gegenspieler Polens betrachtet. Auch wenn Berlin die Sanktionspolitik gegen Russland unterstützt und Hilfe für die Ukraine leistet, gilt die Bundesrepublik in Warschau nach wie vor als Bremser und Zauderer bei der westlichen Antwort auf Moskaus Aggression. Die Veränderungen in der deutschen Sicherheits- und Ostpolitik werden entweder als bloß oberflächlich oder als unzureichend betrachtet. Weiterhin hält man es für nicht ausgeschlossen, dass Deutschland einen Verständigungsfrieden mit Russland anstreben könnte, und sei es nur, um ein Ausufern des Krieges angesichts russischer Eskalationsdrohungen abzuwenden. Folgt man der PiS, so befindet sich Polen in einer doppelten Frontstellung – als Land, das sich gegen das militärische Ausgreifen Moskaus stemmen muss, das aber auch Rückversicherungen gegen eine zumindest unberechenbare deutsche Außen- und Sicherheitspolitik benötigt.
Zweitens wird Deutschland unterstellt, im Rahmen einer gegen Polen gerichteten Dominanzpolitik die Entwicklungspotentiale des Landes niederhalten zu wollen. Deutsche Kritik an der wirtschaftlichen Nutzung der Oder (deren Fahrrinne die polnische Seite auf Basis eines bilateralen Abkommens vertiefen will) oder am Bau eines Containerterminals bei Swinemünde (der besorgten Stimmen zufolge Umwelt und Tourismus gefährden könnte) wird als Scheinargumentation abgetan. Eigentliches Motiv für die Einwände ist Warschau zufolge, Konkurrenz verhindern oder allgemein den ökonomischen Fortschritt auf polnischer Seite ausbremsen zu wollen. Man geht davon aus, dass Deutschland nicht an wirtschaftlicher Dynamik beim östlichen Nachbarn gelegen sei, da sie den politischen Einfluss Polens ebenso wie die Aussichten auf eine Emanzipation von Deutschland erhöhen könnte.
Drittens sieht man Deutschland infolge des Krieges in einer Phase der Schwäche, Polen in einer Phase der Stärke. Berlin stehe vor den Trümmern seiner Ostpolitik und sei etwa in Energiefragen zum Bittsteller geworden, auch gegenüber Polen, so im Kontext von Gassolidarität oder bei der Versorgung ostdeutscher Raffinerien. Zudem habe Deutschland ein wachsendes Problem mit seinen Partnern innerhalb der EU – in Ostmitteleuropa aufgrund seiner Ukrainepolitik, ebenso im Süden der Eurozone, mit Ländern wie Italien aufgrund innenpolitischer Entwicklungen dort und zuletzt auch mit dem klassischen Vorrangpartner Frankreich. Darunter leide die Akzeptanz von Berlins europapolitischen Vorstellungen.
Dieser vermeintlichen deutschen Schwäche wird eine neue polnische Stärke entgegengesetzt. Aus einer ganzen Reihe von Faktoren ergeben sich aus Sicht der PiS potentiell neue Einflussressourcen. Dazu gehören das durch den Krieg revitalisierte Bündnis mit den USA sowie generell die atlantische Dimension der eigenen Außenpolitik, auch gegenüber Großbritannien; der Verweis darauf, man habe die Ziele russischer Politik schon früh »richtig« antizipiert; die beachtlichen Hilfsleistungen Polens für die Ukraine auf humanitärer, politischer und militärischer Ebene; sein aktiver Outreach zu vielen Partnern in der Region, darunter den baltischen Staaten und den Ländern der Nato-Ostflanke insgesamt; eine weitgediehene Diversifizierungspolitik im Energiesektor, so durch eigene Terminals für den Import von Flüssigerdgas (LNG) und die jüngst erfolgte Inbetriebnahme der Baltic Pipe, einer Leitung, mit der Gas aus Norwegen über Dänemark und durch die Ostsee nach Polen verbracht werden kann; und schließlich eine ambitionierte Rüstungs- und Militärpolitik. Letztere umfasst großangelegte Beschaffungs- und Modernisierungsprogramme für die Streitkräfte, einen Aufwuchs der Truppenstärke, eine für 2023 vorgesehene Steigerung der Verteidigungsausgaben auf 3 Prozent der Wirtschaftskraft und die Schaffung eines Sonderfonds für das polnische Militär. All diese Ressourcen sollen nach Warschauer Ansicht nicht nur genutzt werden, um die Rolle Polens als regionale Führungsmacht zu konsolidieren, sondern auch um einem angeblichen deutschen Vormachtstreben entgegenzutreten.
Antihegemoniale Eindämmung und ihre Grenzen
Die PiS trachtet vor diesem Hintergrund danach, eine gegen Deutschland gerichtete antihegemoniale Einhegungspolitik voranzutreiben, um so eine Art strategische Autonomie gegenüber dem westlichen Nachbarn zu erlangen. In der Sicherheitspolitik soll hierzu die militärische, rüstungs- und energiewirtschaftliche Kooperation mit den USA (sowie Großbritannien) und anderen transatlantisch wie russlandkritisch ausgerichteten Ländern in Nord-, Ostmittel- und Südosteuropa vertieft werden. In der Europapolitik sperrt sich Warschau gegen Reformen, die mehr Supranationalität bringen würden. Einstimmigkeitsregeln und mitgliedstaatliche Hoheitsdomänen – nicht zuletzt im Bereich der inneren Staatsverfassung und der Rechtsstaatlichkeit – sollen demnach gewahrt werden, um Schutz vor deutscher oder deutsch-französischer Superiorität zu bieten. Mittlerweile betreibt Polen auch eine taktische Wiederannäherung an Ungarn. Hintergrund ist, dass die Verhandlungen zur Freigabe der Gelder aus dem Corona-Wiederaufbaufonds »Next Generation EU« für Warschau wie Budapest überaus harzig verlaufen und sich generell die Auseinandersetzung der beiden Regierungen mit Brüssel im Rechtsstaatsdossier hinzieht. Nachdem Premier Morawiecki im Sommer noch behauptet hatte, die Wege Polens und Ungarns hätten sich aufgrund von Differenzen in der Russlandpolitik getrennt, betonte er im Frühherbst die Bedeutung Ungarns (und insgesamt der Visegrád-Gruppe) in der Europäischen Union.
Weiterhin wird Deutschland vorgeworfen, dass es innerhalb der EU eine egoistische Politik betreibe. Warschau kritisiert das Berliner Maßnahmenpaket zur Abfederung der Energiepreissteigerungen und sieht sich dabei im Einklang mit einer breiten Gruppe von Mitgliedstaaten. Deutschlands Entlastungsmaßnahmen wertet die PiS als weiteren Beleg für dessen doppelzüngige Europapolitik, die unter integrationsfreundlichen Phrasen eigennützige Interessen verfolge.
Hinzu kommt der Rekurs auf moralische Ansprüche. Bezeichnend war der Satz des polnischen Außenministers Zbigniew Rau in einem Pressebeitrag, die EU brauche »keine deutsche Führung, sondern deutsche Selbstbeschränkung«. Auf Basis einer Fundamentalkritik an der deutschen Russland-, Ost- und Energiepolitik wird Berlin die Legitimität abgesprochen, in der EU die Richtung vorzugeben. Es ist kein Zufall, dass die Reparationsthematik in einem Moment forciert wird, in dem man Deutschland in der Defensive sieht.
Noch aber stößt die deutschlandkritische Balancing-Politik der PiS an Grenzen. Die sich abzeichnenden Einflussressourcen müssen erst einmal genutzt werden, denn bislang konnte Warschau wenig europapolitische Gestaltungsmacht entwickeln. Dafür wäre erforderlich, nachhaltige Koalitionen zu organisieren und eigene Ziele jenseits von Abwehrpostulaten zu artikulieren – was bisher nicht gelungen ist. Auch eine positiv formulierte Reformagenda für die EU (und sei es aus souveränistischer Sicht) wurde nicht präsentiert. Insbesondere in der Diskussion um entsprechende Konsequenzen aus der revitalisierten EU-Erweiterungspolitik hat Polen, das zu den prononcierten Befürwortern eines möglichst raschen Beitritts von Ländern wie der Ukraine gehört, wenig Konkretes ausbuchstabiert. Ebenso verlaufen Warschaus Bemühungen, die Reparationsthematik zu internationalisieren, bislang nur schleppend.
Auch sind die Länder aus dem Ostteil von Nato bzw. EU, die Polen in der Einschätzung Moskaus nahestehen, trotz Kritik an einzelnen Aspekten der deutschen Sicherheits- und Russlandpolitik nicht daran interessiert, sich in Konflikte mit Berlin manövrieren zu lassen. Polens Engagement für die Ukraine zählt sicherlich zu den Aktiva des Landes im Westen und hat sein Gewicht entsprechend erhöht. Doch ist Warschau erst einmal daran gescheitert, in der EU ein Comeback durch Erlangung der Corona-Wiederaufbaugelder zu erreichen und damit einen Symbolkonflikt (unter mehreren) in Sachen Rechtsstaatlichkeit konstruktiv zu regulieren. Die Sonderbeziehung zu den USA ist zweifelsohne ein Faktor, der Polens geopolitische Position aufwertet. Doch möchte die Biden-Administration keine Zuspitzungen zwischen Warschau und Berlin, sondern eine Festigung des Westens und damit ein förderliches Miteinander zwischen den beiden Schlüsselmitgliedern von EU und Nato. So bedeutsam es für Polen ist, die militärischen und verteidigungspolitischen Beziehungen mit den USA verbessert zu haben, kann dies nicht über die Problematik seiner overreliance gegenüber Washington hinwegtäuschen.
Außerdem muss das polnische Regierungslager innenpolitische Herausforderungen meistern. Zwischen der PiS und ihrem kleinen Koalitionspartner Solidarna Polska (SP) schwelen Streitigkeiten, die rasch wieder auflodern können, vor allem wenn es Premier Morawiecki nicht gelingt, Erfolge in der Frage der EU-Mittel herbeizuführen. Er steht überdies in der eigenen Partei unter Beschuss. Zwar konnte er seine Abberufung zunächst verhindern, doch war es ein Ausdruck der Schwäche, dass er seinen Vertrauten Michał Dworczyk als Kanzleichef auswechseln musste und ebenso den bisherigen Europaminister Konrad Szymański, der für einen sachlichen Umgang mit Brüssel stand. Polen dürfte ein Winter des gesellschaftlichen Protests bevorstehen, und im Wahljahr 2023 könnte Morawiecki seinen Posten verlieren. Ein solcher Übergang würde sich angesichts prekärer Mehrheitsverhältnisse im Parlament und Rivalitäten im Regierungslager allerdings kaum reibungslos gestalten. Unabhängig davon sorgen Inflation, steigende Energiepreise und die Schwäche der polnischen Währung dafür, dass für die PiS das wirtschaftliche und gesellschaftliche Umfeld schwieriger wird. Erstmals muss die Partei wohl in einer Phase der ökonomischen Kontraktion in den Wahlkampf ziehen, die für große Teile der Gesellschaft und der eigenen Wählerschaft spürbare Negativeffekte bringt.
Sicherheitspolitische Weichenstellungen
Dass Warschau sich bemüht, Sicherheit und Resilienz des eigenen Landes wie der Region zu verbessern, dürfte nicht ohne Folgen für die deutsch-polnischen Beziehungen bleiben. Zwar wird vieles vom Verlauf des Krieges in der Ukraine abhängen, doch schon jetzt sind einige Entwicklungen erkennbar, die sich auf die bilateralen Kooperationsmöglichkeiten auswirken werden. Insbesondere in der Rüstungswirtschaft, im Energiesektor und bei der Zusammenarbeit mit Kiew können Pfade entstehen, die mittel- und langfristig prägend sind. So wendet sich Warschau in der Rüstungskooperation auf breiter Basis den USA zu, ebenso Großbritannien und auch Südkorea als neuem Partner. Damit einher gehen verteidigungs- und militärpolitische Verklammerungen mit diesen Ländern, was unter anderem durch die wuchtige Truppenpräsenz der USA in Polen unterstrichen wird. Zukunftsweisende Rüstungsprojekte mit Deutschland – oder Frankreich – fehlen hingegen. Vorhaben wie die Modernisierung der polnischen U-Boot-Waffe (Programm Orka) könnten hier zwar noch gewisse Akzente setzen, was am Gesamtbild aber wenig ändern würde. Dass Polen sich nicht an der Luftverteidigungsinitiative European Sky Shield beteiligt, hat primär militärische Gründe, denn das Land verfolgt eigene Programme auf diesem Feld, die schon weit gediehen sind. Zugleich fügt sich Warschaus Haltung zu Sky Shield in die skeptische Distanz gegenüber neuen Rüstungskooperationen mit Deutschland.
Polen kann seine Funktion als regionale Verteilplattform für Erdgas aufwerten, indem es neue Energie-Infrastrukturen errichtet bzw. existierende ausbaut. Entstehen zugleich neue Infrastrukturen auf deutscher Seite, etwa LNG-Terminals in der Ostsee, könnte dies neue Formen der Zusammenarbeit bringen. Allerdings ist fraglich, ob Polen unter den gegenwärtigen Vorzeichen an einer Integration mit Deutschland interessiert ist oder sich nicht zunächst als Hub für Mitteleuropa und die Ukraine etablieren möchte. Polen könnte als Drehscheibe amerikanisches LNG sowie norwegisches Pipelinegas an Nachbarländer einschließlich der Ukraine weiterleiten. Im Ölsektor gibt es gegenüber Deutschland zwar Kooperationstendenzen. So werden die Raffinerien in Schwedt und Leuna über den Naftoport Danzig und das polnische Pipelinesystem beliefert. Doch wird Polen auch auf diesem Feld primär seine östlichen und mitteleuropäischen Nachbarn im Blick haben. In einem weiteren Sinne möchte Polen für die Ukraine, die unter der schwierigen Lage im Schwarzmeerbereich leidet, eine Art infrastrukturelles Fenster zur Welt und nach Europa werden. Zu diesem Zweck sollen polnische Ostseehäfen sowie andere Verkehrsinfrastrukturen des Landes genutzt werden.
Polen wird seine vielschichtige Unterstützung für die Ukraine langfristig politisch nutzen wollen. Nach einem erfolgreichen Kriegsausgang für den Nachbarn und der schrittweisen Heranführung des Landes an die EU würde Warschaus special relationship mit Kiew auch als Gegengewicht zu Deutschland verstanden werden. Polen bringt sich bereits jetzt für den Wiederaufbau der Ukraine in Stellung. Sobald dieser auf der Tagesordnung steht, werden zwar internationale, europäische und auch deutsche Hilfen bzw. Akteure in den Vordergrund treten, doch wird Polen gezielt in einigen Regionen sowie in Sektoren wie Transport oder Energie aktiv werden.
In den Großbereichen Sicherheits-, Energie- und Ukrainepolitik liegen mannigfache Kooperationspotentiale für Deutschland und Polen. Doch wird die PiS, sollte sie weiterhin Regierungsverantwortung tragen, diese Felder stattdessen nutzen, um Polens Unabhängigkeit von Deutschland zu erhöhen. Vor allem in der Sicherheits- und Rüstungspolitik sowie in Teilen der Energiepolitik trifft Warschau gegenwärtig entsprechende Investitions- und Beschaffungsentscheidungen und stellt so die Weichen.
Deutsche Interessen …
Weiterhin muss sich Berlin auf raue Töne aus Warschau einstellen. Da die PiS innenpolitisch und sozialökonomisch in schwieriges Fahrwasser gerät, wird sie das Deutschland- und das damit verbundene EU-Thema als Mobilisierungsvehikel im Wahlkampf für sich nutzbar machen wollen.
Doch sollte sich Deutschland bei allen Verwerfungen nicht den Blick auf seine langfristigen Interessen gegenüber dem östlichen Nachbarn verstellen lassen. Hierzu gehört die Existenz eines sicheren Polen, also eines Landes, dessen Verwundbarkeiten geringer werden und das als security provider an der Nato-Ostflanke eine wichtige Rolle für die regionale Stabilität und Sicherheit spielt. Hierzu gehört ein wirtschaftlich erfolgreiches, sich modernisierendes Polen, das die energie- und klimapolitisch motivierten Transformationen entschlossen angeht. Und hierzu gehört ein gut regiertes Polen, das seine legitimen Interessen in der EU aktiv, aber auch dialogisch mit allen seinen Nachbarn und Partnern verfolgt. Ungeachtet von Kritik und Polemik aus Warschau gilt es, sich dieser Interessen bewusst zu sein und sie dem Nachbarn gegenüber auch zu kommunizieren.
… und deutsche Polenpolitik
In der Praxis resultieren aus der antagonisierenden Deutschlandpolitik des polnischen Regierungslagers mehrere Konsequenzen, was die bilateralen Beziehungen und den Umgang Berlins mit Warschau angeht. Erstens folgt daraus, dass es im deutsch-polnischen Verhältnis unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen primär um Konsolidierung und nicht um Weiterentwicklung geht. Dieser Festigungsimperativ zielt zum einen darauf, eine gewisse Fähigkeit zur Stoßabsorption aufrechtzuerhalten. Dazu gehört, gemeinsame wirtschaftliche Bindungen zu akzentuieren, den parlamentarischen Austausch zu pflegen oder grenzüberschreitende regionale Zusammenarbeit zu stützen. Verbale Attacken – soweit sie nicht persönlich ausfallen oder evident kontrafaktisch sind – sollten nicht erwidert, sondern mit aktiver Indifferenz oder im Einzelfall mit korrigierenden Positionierungen beantwortet werden. Zum anderen gilt es, Kontakte auf politischer Ebene zu stabilisieren, also etwa die Besuchsdiplomatie auf ministerialer Ebene fortzusetzen. Man muss sich darauf einstellen, dass der Kooperationswille nicht erwidert wird und die Hinwendung zu Warschau auch als Ausdruck von Schwäche gewertet werden kann. Zugleich ist die Option zu prüfen, dass der sichtbare Austausch reduziert wird, vor allem wenn der Wahlkampf sich intensiviert und die Umgangsart übermäßig ruppig werden sollte. Indes wäre bei dieser Variante zu beachten, dass sich auch andere wichtige Bilateralismen der Bundesrepublik eingetrübt haben. Vor diesem Hintergrund könnte es den europapolitisch gegen Berlin erhobenen Isolationsvorwurf fördern, würden die Beziehungen zu Warschau gezielt heruntergefahren.
Zweitens sollte Deutschland angesichts von Zurückweisungsgesten, Dauerkritik und Kooperationsentzug der Warschauer Seite auch eine indirekte Polenpolitik verfolgen. In diesem Sinne gilt es, aktiv auf andere Länder in Ostmittel-, Nord- und Südosteuropa zuzugehen. Kontakte zu den baltischen Staaten, den anderen Visegrád-Ländern (Tschechien, Slowakei und Ungarn), Slowenien oder Rumänien wirken nicht nur den polnischen Versuchen entgegen, Politik und Führungsangebote der Bundesrepublik zu delegitimieren, sondern tragen auch zur Festigung von EU und Nato bei.
Drittens sollte Deutschland sich bemühen, Fragen der Geschichtspolitik, vor allem die Reparationsforderungen, von der Europa- und Sicherheitspolitik zu separieren. Die polnische Regierung geht in die entgegengesetzte Richtung, indem sie historische Überhänge an deutscher Schuld außen- und europapolitisch zu nutzen sucht. Verantwortung für Polen aufgrund des Zweiten Weltkriegs bleibt Teil der deutschen Staatsräson. Doch eine dominant historische Begründung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik im östlichen Teil Europas entspräche wohl auch nicht polnischen Interessen. Denn sie könnte die Berliner Zurückhaltungsimpulse gegenüber Russland, die Warschau kritisiert, noch verstärken.
Praktische Vorschläge
Eingedenk und trotz dieser Kontextfaktoren sollte in der Praxis weiterhin ausgelotet werden, welche Dialogplattformen und Kooperationsmöglichkeiten sich im deutsch-polnischen Verhältnis anbieten. Besondere Aufmerksamkeit verdienen dabei die folgenden Themenfelder.
Sicherheit kritischer Infrastrukturen. Die Beschädigung der Nord-Stream-Pipelines, die Lecks in der Druschba-Leitung und die Funktionsstörungen des polnischen Stromkabels nach Schweden sind jüngste Belege dafür, wie verwundbar Infrastrukturen im Energie-, Verkehrs- oder Telekommunikationssektor sind, von denen zahlreiche auch Deutschland und Polen verbinden. Eine bilaterale Arbeitsgruppe aus Fachleuten zuständiger Behörden, aus Wirtschaft und Wissenschaft könnte in diesem Kontext die Risiken analysieren, ebenso die Potentiale für eine Zusammenarbeit.
Kooperation im Ostseeraum. Polen entdeckt seit einiger Zeit die Ostsee als essentiellen Produktions- und Transitraum in der Energieversorgung. Einen LNG-Terminal soll es – neben dem bestehenden in Swinemünde – künftig auch in der Danziger Bucht geben, und zuletzt wurde die Gasleitung Baltic Pipe eröffnet. In Planung sind polnische Offshore-Windparks und zumindest ein Atomkraftwerk, das in Küstennähe entstehen soll. Auch für Deutschland ergeben sich neue Ansätze, wenn es seine Importe und Infrastrukturen im Energiesektor umstellt. Die beiden Länder sind überdies die größten Nato- und EU-Mitglieder im Ostseeraum und verfügen über ein beachtliches Militärpotential. Ungeachtet ihrer Partikularinteressen sind sie daher gefordert, sich bilateral, aber auch gemeinsam mit anderen Anrainern des Meeres stärker um die regionale Sicherheit zu kümmern. Nach Vorbild des deutsch-dänischen Aktionsplanes könnten Berlin und Warschau ein ähnliches Programm für gemeinsame Maßnahmen zur Sicherheit in der Ostsee entwickeln.
Energie und Klima. Gerade angesichts neuer Herausforderungen und durchaus abweichender Zugänge in der Energie- und Klimapolitik könnten Deutschland und Polen ein Klimazentrum einrichten. Zu denken wäre hier an eine kleine Plattform mit Sitz in Warschau, die bestehende Kooperationen bündelt, neue Kontakte anbahnt und Forschungsvernetzung unterstützt, aber auch Fragen der Energie- und Klimaaußenpolitik sowie der europäischen Klimapolitik – darunter einer entsprechenden Einbindung der Ukraine – diskutiert.
Ukraine. Hinsichtlich der Ukraine könnten Deutschland und Polen gemeinsame Anstrengungen entwickeln, um das Land an die EU heranzuführen. Hierbei ginge es einerseits um konkrete Initiativen zur Einbindung der Ukraine (und von Ländern wie Moldau oder Georgien) in den Binnenmarkt und zur Unterstützung beitrittsbezogener Reformen im Sinne einer Erweiterungspartnerschaft. Andererseits könnten polnische und deutsche Akteure – darunter Agenturen, Ministerien und Bundesländer bzw. territoriale Selbstverwaltungen – regional oder sektoral Wiederaufbaupartnerschaften etablieren.
Die deutsch-polnischen Beziehungen befinden sich einer Phase der Volatilität und des Abwärtstrends, die in den kommenden Monaten anhalten oder sich sogar weiter verschärfen dürfte. Statt Führungsakzeptanz erwarten zu können, muss Deutschland weiterhin mit Gegenmachtpolitik rechnen. Angesichts des Krieges in der Ukraine sowie der daraus folgenden Notwendigkeit eines kohärent agierenden Westens ist Deutschland gehalten, im Verhältnis zu Polen strategische Langmut zu zeigen. Dazu gehört, überzogene Vorstöße abperlen zu lassen, die Hand ausgestreckt zu halten und Kontakte zu pflegen, sie aber in Zeiten des Wahlkampfs wohl zu dosieren.
Dr. Kai-Olaf Lang ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa.
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DOI: 10.18449/2022A68