Wladimir Putin eskalierte im September 2022 den russischen Krieg gegen die Ukraine. Er kündigte eine Teilmobilisierung an und wiederholte seine Drohung mit dem Einsatz von Nuklearwaffen. Es war aber vor allem die proklamierte Annexion der ukrainischen Gebiete Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson, mit der er einen Schlussstrich unter die Friedensbemühungen seit dem 24. Februar 2022 zog. Wolodymyr Selenskyj hatte Putin seit seiner Wahl 2019 und auch in den ersten Wochen nach dem erneuten russischen Überfall immer wieder zu einem Gipfeltreffen aufgefordert. Am 4. Oktober 2022 erteilte er in Reaktion auf die Schritte der russischen Seite direkten Gesprächen per Dekret eine Absage. Die ukrainisch-russischen Verhandlungen seit dem Beginn der russischen Aggression 2014 sowie seit dem 24. Februar 2022 zeigen, wie sehr diese vom Kriegsverlauf, aber auch vom politischen Kontext abhängen.
Der russische Krieg gegen die Ukraine begann mit der Annexion der Krim und dem Krieg im ukrainischen Donbas im März und April 2014. Seit damals wird auch über den ukrainisch-russischen Konflikt verhandelt. Die Aussichten auf eine baldige Verhandlungslösung sind heute schlechter denn je.
Von den Minsker Vereinbarungen bis zum russischen Überfall
Zu Beginn des Krieges 2014 gab es zahlreiche Vermittlungsinitiativen, die jedoch die Eskalation nicht stoppen konnten. Im Juni 2014 bildete sich am Rande der Gedenkfeiern zum 70. Jahrestag der alliierten Landung in der Normandie das »Normandie-Format« heraus, damals bestehend aus dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko, Wladimir Putin, dem französischen Staatspräsidenten François Hollande und der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Das Normandie-Format verhandelte im September 2014 und Februar 2015 in Minsk über einen Waffenstillstand im Donbas. Verhandlungen über die Krim fanden zu keinem Zeitpunkt statt, weil Russland sie nach der Annexion der Halbinsel grundsätzlich verweigerte.
Die aus dem Normandie-Format hervorgegangenen Minsker Vereinbarungen regelten die Bedingungen für eine Feuerpause und skizzierten Schritte zu einer politischen Lösung des Konflikts. Alle Beteiligten einschließlich Russlands erkannten die besetzten Gebiete im Donbas als Teile des ukrainischen Staatsterritoriums an. Diese sollten Autonomierechte erhalten und über einen politischen Prozess und Wahlen wieder unter Kyjiwer Kontrolle gelangen. In den acht Jahren bis zum großflächigen russischen Einmarsch in die Ukraine konnten sich die Parteien indes weder über elementare Statusfragen noch auf die Reihenfolge politischer und die Sicherheit betreffender Bestimmungen einigen. Die Umsetzung der Vereinbarungen war damit während des gesamten Zeitraums blockiert. Dabei ging Obstruktion durchaus von beiden Konfliktparteien aus. Russland war jedoch für eine grundlegende Unwucht in der Verhandlungskonstellation verantwortlich, da es die eigene Rolle im Konflikt durchweg leugnete. Stattdessen behauptete Moskau, es handele sich um einen innerstaatlichen Konflikt, und versuchte auf allen Wegen, Kyjiw zu direkten Verhandlungen mit den russisch gesponserten De-facto-Machthabern in Donezk und Luhansk zu zwingen. 2019 begann der Kreml, die Bevölkerung in den beiden Gebieten systematisch einzubürgern, und verstieß damit eklatant gegen den Geist der Minsker Vereinbarungen. Dieses Vorgehen lieferte die Grundlage für die Anerkennung der »Eigenstaatlichkeit« von Donezk und Luhansk am 21. Februar 2022. Die Situation entlang der Konfliktlinie blieb während des gesamten Zeitraums seit 2014 instabil. Regelmäßig kam es zu Waffenstillstandsverletzungen mit Opfern unter der Zivilbevölkerung. Von den knapp 14.000 Menschenleben, die der russische Krieg gegen die Ukraine vor dem 24. Februar 2022 forderte, entfielen deutlich über die Hälfte auf die Zeit nach dem Abschluss der Minsker Vereinbarungen im Februar 2015.
Das Normandie-Format verhandelte bis kurz vor der erneuten russischen Invasion 2022 über den politischen Rahmen einer Lösung. Bis Anfang 2022 tätig war auch die Trilaterale Kontaktgruppe (TKG), die von der OSZE koordiniert wurde und für die konkrete Umsetzung und Konsultationen über die Situation im Konfliktgebiet zuständig war. Sie bestand aus Vertreterinnen und Vertretern der Ukraine und Russlands; die De-facto-Machthaber in den besetzten Gebieten des Donbas nahmen regelmäßig an den Treffen teil. Die OSZE unterhielt außerdem eine Special Monitoring Mission (SMM) in der Ukraine, die hauptsächlich das Konfliktgebiet im Osten beobachtete.
2021 nahmen die Spannungen zwischen den Konfliktparteien drastisch zu. Russland zog Truppen an der ukrainischen Grenze zusammen und verschärfte seine aggressive und imperialistische Rhetorik. Im Dezember 2021 wechselte Moskau, ermutigt durch den chaotischen Abzug aus Afghanistan, die Verhandlungsebene und wandte sich direkt an die USA und die Nato. In Gestalt zweier Vertragsentwürfe über »Sicherheitsgarantien« für Russland stellte es den westlichen Verbündeten ein Ultimatum: Die Nato sollte sich verpflichten, keine neuen Mitglieder mehr aufzunehmen und von jeder Form militärischer Aktivität in der Ukraine und anderen Nachbarstaaten Russlands abzusehen. Zudem sollte das Bündnis seine militärische Infrastruktur auf den Stand von 1997 zurückbauen. Die USA sollten ihre Atomwaffen aus Europa abziehen. Russland forderte nichts Geringeres als die Aufteilung Europas in eine russische und eine amerikanische Einflusszone und die »Lösung der Ukraine-Frage« über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg. Folgerichtig zielte die diplomatische Offensive vor allem auf Washington und erst in zweiter Linie auf die europäischen Nato-Verbündeten. Neben den zitierten Maximalforderungen enthielten die Dokumente auch Vorschläge zu Konsultationsmechanismen, Vertrauensbildung und Rüstungskontrolle. Während der intensiven diplomatischen Kontakte zwischen den westlichen Hauptstädten und Moskau im Januar und Februar 2022 zeigte sich jedoch, dass Putin nicht bereit war, seine Forderungspakete aufzuschnüren. Die USA griffen in ihrer Antwort einige der russischen Vorschläge auf. Moskau seinerseits beharrte auf seinen Maximalforderungen und steuerte auf den offenen Bruch zu.
Vom russischen Einmarsch bis zum Istanbuler Kommuniqué
Mit der Anerkennung der »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk am 21. und dem großflächigen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 zerstörte Moskau mit einem Schlag alle bestehenden Verhandlungsformate. Auch den Minsker Vereinbarungen und der SMM entzog es die Grundlage, denn sie beruhten auf der prinzipiellen Anerkennung der territorialen Integrität der Ukraine durch alle beteiligten Parteien (aus russischer Perspektive allerdings immer ohne die Krim). Das Mandat der Monitoring-Mission, deren Mitarbeitende zu Beginn des Angriffs aus der Ostukraine fliehen mussten, endete am 31. März 2022.
Zeitgleich mit dem Überfall verkündete die russische Seite ihre »Verhandlungsbereitschaft«. Ihre Bedingungen für ein Ende des Krieges kamen jedoch einer totalen Kapitulation und Selbstauflösung des ukrainischen Staates gleich: Die Ukraine müsse die Waffen niederlegen, ihre Nato-Beitrittsambitionen aufgeben und einen dauerhaft neutralen Status akzeptieren, Russisch den offiziellen Status einer Staatssprache verleihen, die Krim als russisch und die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk als unabhängig anerkennen, sich »entnazifizieren« und »entmilitarisieren« – mit anderen Worten, einen Regimewechsel in Moskaus Sinne durchlaufen.
Kyjiw lehnte ab und machte Gespräche von einer Waffenruhe abhängig. Wolodymyr Selenskyj forderte Wladimir Putin zu sofortigen direkten Unterredungen auf. Angesichts des immensen militärischen Drucks erklärte sich die ukrainische Seite schließlich dennoch bereit, am 28. Februar eine Delegation ins belarussische Gomel zu entsenden. Weitere Treffen fanden am 3. und 7. März statt; danach wurden die Gespräche im Online-Modus fortgeführt. Am 10. März trafen sich die Außenminister Kuleba und Lawrow in Ankara. Am 29. März kamen die beiden Delegationen unter türkischer Vermittlung in Istanbul zusammen. Dort legte die ukrainische Seite das »Istanbuler Kommuniqué« vor, das in zehn Punkten die Bedingungen für einen Waffenstillstand, dauerhafte ukrainische Neutralität und internationale Sicherheitsgarantien skizzierte. Um den Status der Krim zu klären, wurde ein Zeitraum von 15 Jahren vorgeschlagen. Weitere strittige Punkte sollten bei einem Treffen der Präsidenten Selenskyj und Putin aus der Welt geschafft werden. Nicht in den Text eingeschlossen war die Forderung der ukrainischen Seite, die russischen Truppen sollten sich hinter die Kontaktlinie vom 23. Februar 2022 zurückziehen.
Im Istanbuler Kommuniqué formulierte die ukrainische Seite ihre Position und Antwort auf das ursprüngliche Moskauer Ultimatum. Das Papier enthielt weitgehende Kompromissangebote. An den Verhandlungen beteiligte Akteure betonten, das Kommuniqué sei von den Konfliktparteien vorabgestimmt worden. Es hätte zur Grundlage einer Verhandlungslösung werden können.
Vom Istanbuler Kommuniqué zum Abbruch der Waffenstillstandsverhandlungen
Bereits am Tag nach dem Istanbuler Treffen lehnte der Kreml Verhandlungen über die Krim kategorisch ab. Wladimir Putin erklärte dem italienischen Regierungschef Mario Draghi in einem Telefonat, die Zeit sei noch nicht reif für eine Waffenruhe oder ein Treffen mit Wolodymyr Selenskyj. Während der ersten Aprilhälfte wurde im Online-Format weiter über den ukrainischen Vorschlag verhandelt. Arbeitsgruppen diskutierten über Sicherheitsfragen, humanitäre Fragen, Gefangenenaustausche und anderes. Laut Aussagen von Beteiligten gab es einige Fortschritte. Die Positionen der Kriegsparteien blieben jedoch in zwei Punkten unvereinbar:
Sicherheitsgarantien: Als Voraussetzung für Neutralität verlangte die Ukraine Sicherheitsgarantien, die möglichst nah an die Konditionen des Nordatlantikvertrages (Beistandsklausel nach Artikel 5) heranreichen sollten. Im Laufe des April verfestigte sich auf ukrainischer Seite die Überzeugung, dass zwei Vereinbarungen nötig seien: ein Waffenstillstandsabkommen mit Russland und ein Vertrag über Sicherheitsgarantien mit einer Gruppe von Garantiestaaten – ohne Russland. Kyjiw war also nicht mehr bereit, Russland als Sicherheitsgaranten zu akzeptieren. Moskau hingegen beharrte darauf, selbst eine Rolle bei den Sicherheitsgarantien zu spielen, den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als Ort ihrer Verankerung zu bestimmen und sämtliche strittigen Fragen in einem einzigen Vertragsdokument zu regeln. Außerdem stellte die russische Seite wiederholt einen Zusammenhang mit den eigenen Forderungen vom Dezember 2021 nach Sicherheitsgarantien gegenüber den USA und der Nato her.
Status von Krim und Donbas: Die ukrainische Seite hatte im Istanbuler Kommuniqué Statusverhandlungen über die Krim, nicht aber über Donezk und Luhansk angeboten, da sie es ablehnte, Moskaus völkerrechtswidrige Anerkennung teilweise zu legitimieren. Russland hingegen verweigerte Gespräche über die Krim und pochte auf die »Eigenstaatlichkeit« der »Volksrepubliken«. Diese Statusfragen machten jede Einigung unmöglich. Sie erstreckten sich auch auf die Diskussion über Sicherheitsgarantien: Im Istanbuler Kommuniqué hatte die Ukraine noch zugestanden, dass die Krim und die besetzten Gebiete im Donbas von den Sicherheitsgarantien ausgenommen werden sollten. Im Laufe des April forderte Kyjiw, die Sicherheitsgarantien auf beide Gebiete auszudehnen.
Die russische Seite wirft der Ukraine immer wieder vor, die Verhandlungen abgebrochen zu haben bzw. von den Inhalten des Istanbuler Kommuniqués abgewichen zu sein. Für die Beurteilung des Verhandlungsverlaufs im April 2022 muss jedoch der politische und militärische Kontext berücksichtigt werden. Die drastische Verschlechterung der Atmosphäre erklärt sich aus dem Kriegsverlauf. Nach dem Scheitern des Angriffs auf Kyjiw gab Moskau die Nordfront auf und konzentrierte seine Kriegsanstrengungen auf den Donbas und den Süden der Ukraine. Während die russische politische Führung von einer »Geste des guten Willens« sprach, wuchs in der Ukraine und auf internationaler Ebene das Entsetzen über die in den befreiten Gebieten aufgedeckten Verbrechen an der Zivilbevölkerung. Kyjiw hielt vorerst noch an den Verhandlungen fest. In der ukrainischen Gesellschaft jedoch schwand angesichts der Bilder aus Butscha, Irpin und anderen Orten die Unterstützung für einen Kompromiss mit Russland. Dafür trat die Frage in den Vordergrund, wie die russischen Kriegsverbrechen geahndet werden sollten und ob Russland einen Genozid an der ukrainischen Bevölkerung verübe.
Im selben Zeitraum erreichten erste substantielle westliche Waffenlieferungen die Ukraine. Auf der Ramstein-Konferenz am 26. April kamen die westlichen Verbündeten und andere befreundete Staaten überein, Kyjiw systematisch militärisch zu unterstützen. Diese Änderung der westlichen Haltung war eine Reaktion auf die Verbrechen der russischen Streitkräfte. Sie wurzelte auch in der Erkenntnis, dass die Ukraine sich dem russischen Angriff erfolgreich widersetzen konnte. In der Ukraine wuchs nun die Überzeugung, den Gegner militärisch abwehren zu können.
In den letzten Wochen vor dem endgültigen Abbruch der Waffenstillstandsgespräche war es auch die Schlacht um Mariupol, die die Verhandlungen dem Ende zutrieb. Immer wieder scheiterten internationale Bemühungen um humanitäre Korridore für die Zivilbevölkerung und die im belagerten Stahlwerk Asow-Stahl eingekesselten ukrainischen Soldaten und Zivilistinnen. Bereits Mitte April schloss Wolodymyr Selenskyj weitere Waffenstillstandsverhandlungen aus, sollten Zivilisten oder gefangene Militärs ermordet werden. Am 16. Mai fiel Asow-Stahl endgültig in die Hände der russischen Streitkräfte. Über 1.700 ukrainische Soldaten und Kämpfer gerieten in Gefangenschaft (von denen einige in der Zwischenzeit durch Gefangenenaustausche wieder freigekommen sind). In Russland wurden damals härteste Konsequenzen bis hin zur Todesstrafe für die »Nazi-Verbrecher« gefordert. Am 17. Mai kündigte zunächst die Ukraine und dann Russland die Waffenstillstandsverhandlungen offiziell auf.
Humanitäre Fragen und Sekundäreffekte des Krieges
Auch nach dem 17. Mai brachen die Kontakte jedoch nicht vollständig ab. Die Kriegsparteien sprachen weiter über humanitäre Fragen, besonders den Austausch von Gefangenen und gefallenen Soldaten. Dieser Gesprächskanal existiert bis heute. Unter Vermittlung des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und des VN-Generalsekretärs Antonio Guterres entwickelte sich außerdem ein dynamischer Verhandlungsstrang über die Öffnung blockierter ukrainischer Schwarzmeerhäfen für die dringend anstehende Verschiffung ukrainischen Getreides. Er mündete am 22. Juli 2022 in den sogenannten Getreide-Deal, der den Export ukrainischen Getreides aus den ukrainischen Schwarzmeerhäfen Odesa, Tschornomorsk und Piwdennyj ermöglicht. Weder gab allerdings Russland seine militärische Blockade der ukrainischen Häfen auf, noch war die Ukraine bereit, die Gewässer vor ihrer Küste zu entminen. Worauf sich die Parteien einigten, ist ein höchst komplexer und fragiler Mechanismus: Ukrainische Lotsenboote geleiten kommerzielle Frachtschiffe durch die verminten Küstengewässer. In Istanbul stellt ein Gemeinsames Koordinierungszentrum mit türkischem, VN-, ukrainischem und russischem Personal sicher, dass auf diesem Wege keine Waffen an die Ukraine gelangen. Um das enorme Risiko für die beteiligten Transportunternehmen zu mindern, wurde eine »Marine Cargo and War Facility« an der Londoner Versicherungsbörse Lloyd’s ins Leben gerufen. Russland erhielt außerdem von den Vereinten Nationen die Zusicherung, bei der »Förderung des Exports russischer Ernährungsprodukte und Düngemittel auf die Weltmärkte« behilflich zu sein. Wie zerbrechlich diese Einigung ist, lässt sich auch daran ablesen, dass die Konfliktparteien kein gemeinsames Dokument zu unterzeichnen bereit waren. Stattdessen signierten beide Seiten jeweils einen Vertrag mit den vermittelnden Akteuren. Die Konfliktparteien müssen den Getreide-Deal alle 120 Tage erneuern – das erste Mal im November 2022.
In den Wochen nach dem erfolgreichen Abschluss des Getreide-Deals versuchten die Türkei und die VN die positive Dynamik zu nutzen, um weitere Sekundäreffekte des Krieges einzuhegen. Im Vordergrund stand dabei die Situation um das Atomkraftwerk in Saporischschja. Es konnte erst Ende August von der Internationalen Atomenergie-Agentur inspiziert werden, weil Russland darauf bestand, dass die Delegation über russisches Territorium anreisen sollte. Nach Wochen zäher Verhandlungen fand die Reise völkerrechtskonform über Kyjiw statt.
In seiner Rede zur Annexion der besetzten Gebiete im Osten und Süden der Ukraine kündigte Putin am 30. September 2022 an, Russland werde keine Verhandlungen über deren Status mehr führen. Damit dehnte er die russische Verhandlungs-Verweigerung von der Krim auf die neuen besetzten Gebiete aus. Gleichzeitig drohte er im Falle weiterer Angriffe auf »russisches Territorium« mit Vergeltung bis zum Einsatz von Nuklearwaffen. Die russische Seite hat auf diese Weise eine diplomatische Lösung des Konflikts bis auf weiteres äußerst unwahrscheinlich gemacht.
Die Positionen der Kriegsparteien
Die Ukraine sieht sich seit März 2014 in einem zwischenstaatlichen Krieg mit Russland, der durch einen russischen Angriff ausgelöst wurde. Aus ukrainischer Perspektive waren die Annexion der Krim und der Krieg im Donbas zwischen 2014 und 2022 untrennbare Teile dieses Krieges, an dessen Ende die vollständige Wiederherstellung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine stehen muss. Kyjiw weigerte sich deshalb immer, direkt mit den von Russland unterstützten De-facto-Machthabern in den »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk zu verhandeln. Zwar versprach Wolodymyr Selenskyj nach seinem Amtsantritt im Frühjahr 2019, sich mehr um die Belange der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten zu kümmern. Auch er bestand aber darauf, dass eine Lösung des Konflikts nur mit Moskau verhandelt werden könne. Folgerichtig forderte er Wladimir Putin immer wieder zu direkten Gesprächen auf. Eine dauerhafte Versöhnung mit Russland hielt man in der Ukraine auch vor dem 24. Februar 2022 kaum für realistisch. Stattdessen wurde nach möglichst enger politischer und militärischer Anbindung an den Westen gesucht. Der erneute russische Angriff hat diese Positionen weiter zementiert. Der EU-Kandidatenstatus ist ein wichtiger Teilerfolg für die Ukraine. Auch das Thema Sicherheitsgarantien verfolgt Kyjiw aktiv weiter und veröffentlichte im September 2022 einen Vorschlag für einen Sicherheitspakt zwischen der Ukraine und unterstützenden Staaten (Kyiv Security Compact).
Russland dagegen leugnete von 2014 bis 2022 konsequent seine Rolle als Konfliktpartei. Im russischen Diskurs wurde sorgsam zwischen Krim und Donbas unterschieden. Der Donbas-Krieg wurde als innerstaatlicher Konflikt konstruiert, in dem sich die russischstämmige und russischsprachige Bevölkerung im Osten der Ukraine gegen ein »illegitimes Regime von Neonazis und Faschisten« wehre. Eine russische Beteiligung wurde vehement bestritten. Stattdessen beharrte Moskau darauf, dass es selbst einer feindlichen westlichen Politik ausgesetzt sei, die den russischen Einfluss in Europa zurückdrängen und sich Russland untertan machen wolle. Die Ukraine war in den Augen der russischen politischen Führung nie ein eigenständiger Akteur oder Konfliktgegner, sondern eine Marionette der USA bzw. des Westens. Lösungen in seinem Sinne strebte Moskau deshalb nicht im Rahmen der russisch-ukrainischen Beziehungen, sondern mit dem Westen an. So sind auch die Vertragsentwürfe über »Sicherheitsgarantien« vom Dezember 2021 zu verstehen: als Versuch, den USA eine Verständigung abzupressen. Angesichts des Ultimatum-Charakters kann bezweifelt werden, ob Putin wirklich neue geopolitische Absprachen mit den westlichen Mächten erzielen wollte oder nur einen Vorwand zum Losschlagen suchte. Beide Texte waren aber klar darauf angelegt, die »Ukraine-Frage« unter Umgehung Kyjiws direkt mit den USA zu regeln. Auch die Drohung mit dem Einsatz von Kernwaffen muss als Versuch gedeutet werden, die westliche Unterstützung für die Ukraine zum Erliegen zu bringen und ein direktes Arrangement unter Großmächten zu erreichen.
Vermittlungsbemühungen
Mit dem erneuten, auf Vernichtung zielenden Überfall auf die Ukraine zerschlug Moskau die bisherigen Verhandlungsformate vollständig. In das Vakuum, das der Zusammenbruch von Normandie-Format und Trilateraler Kontaktgruppe hinterließ, stießen rasch andere Akteure vor. Während der ersten Kriegswochen gab es unter anderem Initiativen aus Israel, Italien und Südafrika. Im März und April festigte sich jedoch die Position des türkischen Präsidenten Erdoğan als tonangebendem Vermittler. Für beide Konfliktparteien ist er ein sowohl gewichtiger als auch akzeptabler Gesprächspartner: Die Ukraine kann sich auf die türkische Unterstützung für ihre Souveränität und territoriale Integrität verlassen und bezieht militärische Ausrüstung aus der Türkei. Außerdem spricht aus ukrainischer Perspektive für Erdoğan, dass er direkten Zugang zu Wladimir Putin hat. Dieser wiederum pflegt ein transaktionales Verhältnis zu seinem türkischen Amtskollegen, das in der Vergangenheit immer wieder Kompromisse über strittige Fragen im russisch-türkischen Verhältnis ermöglichte. Ankara hat seine geopolitische Machtposition in der südlichen Nachbarschaft Russlands immer weiter ausgebaut und sich damit in Moskau Respekt verschafft. Die Türkei hat vielschichtige Interessen in diesem Konflikt. Sie unterhält intensive politische und wirtschaftliche Beziehungen zu beiden Parteien. Von dem Konflikt profitiert sie derzeit wirtschaftlich, unter anderem durch vergünstigte Energieimporte aus Russland und durch Mechanismen zur Umgehung der westlichen Sanktionen. Gleichzeitig destabilisiert der Krieg die geostrategische Situation in der für die Türkei wichtigen Schwarzmeerregion. Präsident Erdoğan forderte Moskau wiederholt auf, die Kontrolle über die besetzten Gebiete an Kyjiw zurückzugeben. Die proklamierten Annexionen Ende September erschweren auch seine weitere Vermittlungsarbeit erheblich.
Westliche Akteure waren nach dem 24. Februar 2022 bestenfalls indirekt in die Vermittlungsbemühungen involviert. Der von Moskau verursachte Zusammenbruch der Verhandlungsformate hat Deutschland, Frankreich und der OSZE erst einmal die Grundlage für weiteres Engagement entzogen. Hinzu kommt, dass die Minsker Vereinbarungen in der Ukraine, aber auch bei einigen westlichen Partnern politisch diskreditiert sind. Unabhängig davon, ob und bis zu welchem Punkt die Kritik gerechtfertigt ist, steht das Abkommen gemeinsam mit Nord Stream 2 und anderen Elementen für das Scheitern der deutschen (und französischen) Osteuropa-Politik. Westliche Staaten und die westlichen Allianzen sind zudem viel stärker in den Konflikt verstrickt als noch zwischen 2014 und 2022. Sie haben präzedenzlose Sanktionen gegen Russland verhängt und unterstützen die Ukraine massiv mit Waffen. Putin hat mit seiner Entscheidung zum Angriff die Beziehungen mit dem Westen komplett gekappt. Westliche Staats- und Regierungschefs, möglicherweise mit Ausnahme des amerikanischen Präsidenten, haben keinen Zugang zum russischen Herrscher mehr. Überdies haben sie sich verpflichtet, mit Russland keine Verhandlungen »über die Ukraine ohne die Ukraine« zu führen, wie auch Joe Biden nicht müde wird zu betonen. Ihre Möglichkeiten werden bis auf weiteres auf die Flankierung von Verhandlungen beschränkt bleiben. Daran könnte erst ein substantieller Kurswechsel der russischen Politik etwas ändern. In diesem Fall hätten westliche Akteure zahlreiche Instrumente und Anreize an der Hand, um positiv auf Verhandlungen einzuwirken. Weder das eine noch das andere zeichnet sich aber derzeit ab.
Ausblick und Handlungsoptionen
Friedensverhandlungen hängen stets von der militärischen Situation, also den Machtverhältnissen zwischen den Kriegsparteien ab. Zu Beginn des erneuten Einmarschs versuchte Russland, die Ukraine zu überrennen und Kyjiw einen Diktatfrieden aufzuzwingen. Dies gelang weder militärisch noch politisch. Dennoch stand die ukrainische politische Führung in der ersten Verhandlungsphase stark unter Druck und war zu weitreichenden Kompromissen bereit. Seit April hat sich das militärische Gleichgewicht indes kontinuierlich zugunsten der ukrainischen Seite verschoben. Die russischen Kriegsverbrechen zerstörten jedes Vertrauen in eine Verhandlungslösung, und die ukrainische Verhandlungsposition verhärtete sich. Kyjiw hat darüber hinaus durch den Krieg und seine militärischen Erfolge international enorm an Gewicht gewonnen. Russland ist zwar nicht vollständig isoliert. Doch Putins Entscheidung, den Krieg trotz der militärischen Probleme immer weiter zu eskalieren, wirft auch bei seinen Unterstützern in Peking oder Ankara Fragen auf. Mit den jüngsten Annexionen hat der russische Herrscher weiteren Verhandlungen einen Riegel vorgeschoben. Hoffnung auf eine diplomatische Lösung unter Wahrung der ukrainischen Eigenstaatlichkeit, Unabhängigkeit und territorialen Integrität wird es erst dann geben, wenn Russland keine Möglichkeiten mehr sieht, den Krieg militärisch zu entscheiden.
In der Zwischenzeit sollte deutsche Politik sich vor allem auf drei Bereiche konzentrieren:
Waffenlieferungen und Waffenstillstandsverhandlungen: Die militärische Unterstützung für die Ukraine ist essentiell, um das Gleichgewicht zwischen den Kriegsparteien zu verschieben und einen »reifen Moment« für aussichtsreiche Waffenstillstandsverhandlungen herbeizuführen. Nur so wird das Argument glaubwürdig, es sei Kyjiws Entscheidung, wann und unter welchen Bedingungen wieder Gespräche stattfinden können. Die Rückkehr zu den Kompromissformeln des Istanbuler Kommuniqués wäre wünschenswert, ist aber durch die russischen Annexionen im September unmöglich gemacht worden. Auch die Wirtschaftssanktionen müssen verschärft werden. Beispielsweise sind seit der Mobilmachung auch in Russland tätige westliche Unternehmen verpflichtet, den Staat bei der Rekrutierung zu unterstützen. Dem muss ein Riegel vorgeschoben werden.
Waffenstillstandsverhandlungen sind eher eine mittelfristige Perspektive. Ein nachhaltiger Frieden zwischen der Ukraine und Russland, nicht nur im Sinne der Abwesenheit physischer Gewalt, ist bestenfalls langfristig denkbar. Möglich wird er nur dann, wenn die russische Politik sich grundlegend neu orientiert, mit anderen Worten: nach einem Regimewechsel. Das macht Verhandlungen, wenn sie einmal beginnen, umso voraussetzungsreicher und komplexer. Ein Waffenstillstand muss international begleitet und abgesichert werden. Für eine dazu notwendige internationale Mission und andere Maßnahmen werden bereits Blaupausen entwickelt. Das muss vorangetrieben und unter den westlichen Verbündeten und Kyjiw abgestimmt werden. Sicherheitsgarantien für die Ukraine sind ein elementarer Teil dieses Prozesses.
Getreide-Deal: Der Getreide-Deal ist in Gefahr. Deutschland und andere internationale Akteure müssen alles dafür tun, dass er trotz der neuerlichen russischen Eskalation weiter funktioniert. Das ist nicht nur im Hinblick auf den Krieg und die wirtschaftliche Situation der Ukraine wichtig. Bricht das Abkommen zusammen, wird dies dramatische Auswirkungen auf die Ernährungssituation im Globalen Süden haben. Die russische Propaganda nutzt dies schon jetzt geschickt, um Koalitionsbildungen der Ukraine und des Westens mit Staaten des Globalen Südens zu erschweren. Hier müssen die westlichen Industrienationen hohen Einsatz zeigen, um ihre Position gegenüber diesen Staaten und Gesellschaften glaubwürdiger zu machen und zu verbessern.
Internationaler Kontext: Der internationale Kontext des russischen Krieges gegen die Ukraine ist ungeheuer komplex. Er spiegelt die strukturellen Veränderungen der globalen Ordnung. Es wird auch in Zukunft nicht gelingen, Russland international zu isolieren, denn Akteure wie China, Indien oder die Türkei werden weiterhin Nutzen aus ihrer Nähe zu Moskau ziehen. Deutsche und europäische Diplomatie sollten dennoch versuchen, in jenen Einzelfragen das Gespräch zu suchen, in denen sich die Interessen teilweise überlappen. Das betrifft vor allem die Gefahr der nuklearen Eskalation, die auch in Peking und Neu-Delhi Besorgnis erzeugen dürfte, oder Russlands versuchte imperialistische Aneignung ukrainischen Territoriums, die die Türkei vor Probleme stellt. Über die Gefahr einer nuklearen Eskalation muss auch mit Moskau weiter gesprochen werden. Dabei kann es jedoch nicht darum gehen, der russischen nuklearen Erpressung nachzugeben. Vielmehr muss der Westen seine Position hier immer wieder klarmachen und Russland von einer Eskalationsspirale abschrecken.
Frieden für die Ukraine liegt in weiter Ferne. Die bisherigen Verhandlungen zeigen, dass es vor allem Moskaus Kriegführung und seine Herangehensweise an Verhandlungen sind, die eine diplomatische Lösung untergraben. Deutschland und seine europäischen und transatlantischen Partner können sich aber schon jetzt in enger Abstimmung mit Kyjiw auf den Moment vorbereiten, in dem Verhandlungen wieder möglich sind.
Dr. Sabine Fischer ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
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DOI: 10.18449/2022A66